1. Startseite
  2. Briefe
  3. Nr. 752

Wilhelm von Humboldt an Friedrich Gottlieb Welcker, 12.03.1822

|1*| Tegel, den 12. März, 1822.

Ich bin auf einige Tage allein aufs Land gegangen, liebster Freund, und schreibe Ihnen von hier. Einige Zeilen mit einer gedruckten Abhandlung werden Ihnen schon, als Vorläufer zugekommen seyn.

Ich habe hier Ihren Prometheus[a] noch einmal, u. mit wahrem Vergnügen durchgelesen. Sie haben auf eine wirklich sehr sinnreiche Weise aus den wenigen Bruchstücken die Folge u. das Ganze der drei Stücke so zusammengesetzt, daß sowohl der Gang der Fabel, als die philosophische Idee in hohem Grade klar wird. Die Behandlung solcher mystisch-philosophischen Gegenstände ist gewiß sehr schwer, u. erfordert einen richtigen Takt, wie weit man im Symbolischen gehen könne. Denn es ist augenscheinlich, daß man die beiden Extreme zu vermeiden hat, die Fabel für ein bloß spielendes, alles tieferen Gehaltes ermangelndes Aneinanderreihen von Fabeln zu nehmen, oder auf der andren Seite sie ganz in hohle metaphysische Ideen aufzulösen. Gerade aber in Ihrer Arbeit scheint mir der richtige Mittelweg vortreflich gehalten. Aeschylus hat offenbar nur das Große, u. durchaus Sinnvolle aus der Mythe des Prometheus in seine S Dichtung aufgenommen. Alle Erzählungen von Trug u. Ueberlistung hat er verschmäht, u. ist bloß bei den einfachen Begriffen der den Menschen erzeigten Wohlthaten, der Weissagungsgabe, u. des Einflusses auf das Weltschicksal stehen geblieben. Eine Stelle jedoch hat mir, wie ich Ihnen bekennen muß, Zweifel erregt, die ich Ihnen doch vorlegen will, ob ich gleich selbst Ihnen kein sehr großes Gewicht beilege<darauf lege>. Sie haben diesen Gegenstand lange u. sorgfältig erwogen, ich nur bei Gelegenheit Ihrer Arbeit. Außerdem fehlen mir sogar die Bücher hier, die hierbei nachzuschlagen seyn dürften. Meine Zweifel betreffen den Chiron.

Ich kann mir nemlich nicht vorstellen, daß in dem befreiten Prometheus[b] Chiron sollte, als ein Sühnopfer für den Prometheus angegeben gewesen seyn, u. daß überhaupt diese ganze Erzählung von Chiron ihren Grund in |2*| Aeschylus habe. Die Thatsache, auf die man bei dieser Annahme fußt, scheint mir nur die zu seyn, daß auf der einen Seite diese Stellvertretung erzählt wird, auf der andren Seite Hermes im gefesselten Prometheus etwas sagt, das man darauf beziehen kann. Allein ein Zeugniß eines Alten, auch nur eines Scholiasten, daß jener Mythus aus Aeschylus genommen sey, ist meines Erachtens nicht vorhanden. Irrte ich mich hierin, so fiele meine ganze Behauptung von selbst über den Haufen.

Die Worte des Hermes scheinen mir gar nicht einer solchen Annahme zu bedürfen, dann aber auch in sich selbst auf Chiron nicht zu passen.

Ich sehe nemlich in diesen Worten keine Vorherverkündigung, so daß man nothwendig fragen[c] müßte, wer war denn nun der Gott, der für Prometheus in die Unterwelt hinabstieg? sondern es scheint mir, als wollte Hermes nur ausdrücken, Prometheus werde zwar aus dem Tartarus wieder hervorkommen, allein dann die Strafe der Zerfleischung leiden, u. von dieser werde es keine Errettung geben. Zeus, sagt er, wird dich nicht befreien, ehe nicht ein Gott, als Nachfolger deiner Qualen u. Herabsteiger in den Tartarus komme. Hiermit wird nur ausgedrückt, daß ein solcher Fall nicht eintreten wird, da kein Gott, daß<Gott> dies thun würde, u. daß Zeus sich von dem Widerspruch keines Gottes würde von Prometheus Strafe abbringen lassen, der Gott müßte denn selbst für ihn leiden wollen. Läge in den Worten eine Vorherverkündigung, daß es so kommen werde, so wäre sie eher tröstend, als drohend u. schreckend. Denn wenn dieser Gott einmal erschien, konnte es ja früher so gut, als später seyn. Hätte Hermes ahndend die Aufopferung des Chiron vorausgesehen, so ist kaum zu glauben, daß er sie an dieser Stelle gesagt haben würde, wo es ganz gegen seine Absicht ist, Hofnung zu erregen. Ueberhaupt ist nicht aus der Acht zu lassen, daß alle Stellen, die deutlich von Lösung reden, immer dem Prometheus in den Mund gelegt sind, der im Trotz behauptet, Zeus werde ihn lösen müssen.

Die Verse scheinen mir aber auch nicht auf Chiron zu passen. Sollte wohl Chiron, ein Centaur, trotz aller seiner Unsterblichkeit, θεῶν τις heißen können, u. könnte man nicht dem Zeus vorwerfen sich, nach solcher Dro-|3*|hung, mit etwas viel Geringerem begnügt zu haben? Sie erinnern selbst mit Recht, daß der, doch gewiß höher stehende Prometheus nicht einmal ein Gott heißen kann. Dann gieng zwar Chiron, nach jener Erzählung, in die Unterwelt, aber διάδοχος τῶν πόνων, wie Hermes will, wurde er nicht.

Ich glaube daher, daß diese Verse nicht zwingen an eine solche Stellvertretung zu denken. Sie scheint mir aber auch in die Aeschylischen Stücke sonst nicht zu passen. Daß in diesen Herkules den Geier tödtete, ist gewiß. Wozu aber war dies Tödten, wenn Zeus selbst für Prometheus einen andren Leidenden annahm? Ja wenn Hermes Worte in Erfüllung gehen sollten, mußte er nicht getödtet werden. Man brauchte ihn vielmehr, damit er nun Chirons Eingeweide durchwühlte. Wollte aber Zeus Befreiung, so mußte der Adler von selbst weichen, so war es auch keine Heldenthat, mit Zeus Willen, ihn zu tödten. Es scheint mir daher richtiger den Herkules, als den Befreier anzusehen, der nun dadurch zugleich, er mochte diese Absicht haben, oder nicht, seinen himmlischen Vater von der ihm drohenden Gefahr befreite.

Gegen die ganze Idee einer solchen Stellvertretung möchte ich auch wohl noch Einiges sagen. Wenn ein Opfer versöhnend ist, ist es gewöhnlich nur ein symbolisches, oder ein solches, wo der sich in der Versöhnung Rettende durch etwas Geringeres vertreten wird. So opfern sich für ganze Völker Individuen, so wurden für Menschen Thiere geopfert. War ein solches Verhältniß zwischen Chiron u. Prometheus? Wohl nicht, es scheint nur, daß für einen Dämon, ein andrer auch Unsterblicher im Tartarus seyn sollte. Da die Idee dieser Stellvertretung, auch wenn sie nicht Aeschylisch ist, immer bleibt, so gelten allerdings diese Gründe nicht. Allein soviel nur möchte ich beweisen, daß die Prometheische Fabel nichts verliert, wenn sie dieselbe aufgiebt, ja daß sie sich aus ihr nicht einmal begreifen läßt, sondern andre, wenigstens mir jetzt unbekannte Gründe haben muß. Die Freiwilligkeit des Opfers verliert schon durch den Lebensüberdruß. Sie erwähnen eines Gegensatzes des Chiron u. Prometheus, der auch im Namen ausgedrückt sey. Dies, gestehe ich aber, ist mir dunkel gewesen. Als Wohlthäter u. Erzieher des Menschengeschlechts waren sie einander nicht entgegengesetzt. Da nach der |4*| Mythe, die Aeschylus befolgt, Prometheus zur Strafe angeschmiedet ist, so scheint mir überhaupt eine solche Stellvertretung wenig zu passen. Dauerte Zeus Zorn fort, so konnte sie ihm nicht genügen, u. hatte er sich besänftigt, so war sie überflüssig. Eine Schicksalsnothwendigkeit (wie bei Castor u. Pollux Abwechslen im Todtenreiche) lag, wenigstens nach dieser Mythe, nicht in Prometheus Strafe, u. ich würde daher glauben, daß die Erzählung von Chiron mit ganz andren Fabeln über Prometheus zusammenhieng, die uns s jetzt nicht mehr bekannt sind.

Allein ich habe vielleicht schon zu viel über eine Idee gesagt, die Sie doch, wahrscheinlicher Weise, nicht haltbar finden. Ich glaubte nur, daß es Ihnen lieb seyn könnte, auch die Zweifel ausgeführt zu finden, die sich etwa gegen diese Ihre Ansicht erheben lassen. In Allem Uebrigen stimme ich Ihren Ansichten vollkommen bei. Die Stücke haben sichtbar eine Trilogie ausgemacht, u. was Sie über das Feuer, seine Entwendung, u. seinen Zusammenhang mit der geistigen Einwirkung des Prometheus auf die Menschen u. ihr Geschlecht sagen, ist vortreflich, tief gedacht, u. schön ausgedrückt. Auffallend ist es, daß dagegen Creuzer (Neue Ausg. II. 653.) den Prometheus ganz tellurisch behandelt. Ich habe seine Symbolik in dieser Ausgabe aufs neue angefangen.[d] Seine Methode, das kann man nicht läugnen, ist nicht vorwurfsfrei. Ein ewiges Häufen von Einzelheiten, oft ohne Athem dazwischen holen zu können, u. keine lichtvolle Aufstellung von Resultaten. Ich finde noch immer, daß man sein System am besten aus den Briefen an Hermann erkennt. Dennoch lese ich ihn gern. Ueberall ist große Gelehrsamkeit u. Belesenheit, u. überall eine großartige, geistvolle Ansicht, wenn auch nicht immer eine klare u. bestimmte. Dies liegt aber auch großentheils an dem Gegenstande. Da Ihr Aufsatz[e] nur eine Abschrift ist, u. Sie mir nicht sagen, daß ich ihn zurückschicken soll, so behalte ich ihn, u. wiederhole Ihnen meinen innigsten Dank dafür. Hätten Sie ihn aber doch zurück haben wollen, so schreiben Sie es mir.

Ihr Urtheil über meine Arbeiten erfreut u. ermuntert mich ungemein, obgleich ich fühle, daß es zu günstig u. freundschaftlich ist. Nur insofern bin ich selbst zufrieden damit, weil ich jetzt wenigstens mich auf |5*| einem Wege fortschreitender Forschung befinde. Meine letzte Abhandlung in der Akademie enthält zum Theil das, worauf Sie sagen neugierig zu seyn. Sie entwickelt nemlich den Unterschied zwischen den Sprachen mit u. ohne wahrhafte grammatische Formen, u. erläutert ihn d an den Amerikanischen Sprachen. Fr. Schlegel hatte gerade, wie ich, in Paris die Amerikanischen Sprachen u. das Sanscrit vor Augen gehabt, hatte den Unterschied gefühlt, aber meines Erachtens, die Gründe nicht richtig aufgefaßt. Er wollte Sprachen, die agglutiniren, u. die sich aus ihren Wurzeln entfalten, von einander absondern, u. solche letztere giebt es offenbar nicht. Ich habe mich bemüht, in meiner Abhandlung einen Weg einzuschlagen, der sich mehr durch Thatsachen bewährt. Leider kann ich Ihnen keine Abschrift derselben schicken, da mein Abschreiber gerade jetzt nicht zu meiner Disposition steht.

Was Sie in Ihrem Briefe über die mechanischen Erklärungsarten, vorzüglich bei der bildenden Kunst sagen, ist ungemein geistreich. Ich darf mir danach doppelt schmeicheln, daß Sie mit demjenigen übereinstimmen werden, was darüber in der Ihnen neulich übersandten Abhandlung gesagt ist. Es ist ein Hauptfehler, u. der auch wohl anderwärts, als bloß bei der Erklärung der Spracherfindung vorkommen mag, daß man den Anfangsepochen der Nationen gerade mechanische Erklärungen unterschiebt, als wären diese demjenigen anpassend, was man Kindheit der Menschheit nennt. Gerade da aber ist das Mechanische am wenigsten vorhanden. Da, in der natürlichen Frische des Gemüths wird immer ein Ganzes empfunden, u. wenn auch mit rohen Zügen, ein Ganzes wieder darzustellen versucht. Das mechanische Verfahren findet sich auf der Mitte einer vorgerückten, aber nicht durchdrungenen Bildung. Es ist nie reine u. rohe Natur, u. wird an den Ort verwiesen, an den es hingehört, wenn die vollendete Bildung wieder Natur geworden ist. So einfach aber u. begreiflich das ist, so hat man doch viel Mühe damit durchzudringen. Die Leute schreien über Dunkelheit, u. Mysticismus, u. klagen, daß man da Wunder sucht, wo, ihrer Meynung nach, Alles ganz natürlich vor sich geht. Sie denken gar nicht daran, daß sie von Wundern solcher Art umgeben sind, u. daß das Hervorkommen jedes Blattes im Frühjahr kein geringeres ist. Indeß scheint mir doch die jetzige Zeit nicht gerade so sehr an dieser Krankheit zu leiden, als vielmehr an der, auffallende, bisher unerhörte Resultate aufstellen zu wollen, u. sie auf |6*| isolirte Thatsachen zu gründen, da doch gerade der jetzige Zustand der Wissenschaft u. Literatur es beinahe unverzeihlich macht, nicht Alles zusammen zu nehmen, worauf sich eine Untersuchung gründen läßt. Dahin gehört besonders so vieler etymologische Unfug.

Ich begreife sehr wohl, daß Sie die Nothwendigkeit gefühlt haben, Ihren anfänglichen Plan, nur über die Religion der Griechen schreiben zu wollen, mehr Umfang zu geben, und die Poesie u. Kunst mit darin aufzunehmen. Diese Dinge greifen so in einander, daß Sie, glaube ich, durch die Ausdehnung sich eher die Sache erleichtern, als erschweren. Ich wünsche von Herzen, daß Sie mehr Muße besitzen mögen, an ein so großes u. schwieriges, aber auch so wichtiges Werk Hand anzulegen. Es ist ein wahres Bedürfniß der Zeit.

Ihre Ansichten über die Schrifterfindung haben mich sehr angezogen, u. ich theile sie vollkommen. Die Zoegasche Idee hat mir immer wunderbar, u. durchaus unhaltbar geschienen, sobald man sie allgemein machen will. Langer Gebrauch von Bildersprache mußte, dünkt mich, den Uebergang zur Buchstabenschrift nur erschweren, da die Nationen in der Bilderschrift sich gewöhnen, die Wörter als ein ungetheilte Ganze anzusehen. Die Bilderschrift ist in ihrem Ursprunge keine Schrift der Worte, sondern der Gedanken selbst, ich glaube aber nicht einmal, daß auch wahre Gedankenschrift (wie mir die Chinesische zu seyn scheint) nothwendig braucht aus Bildern entstanden zu seyn. Auch Creuzer spricht darüber, u. glaube ich, hat ganz Recht, die Hieroglyphen nicht für eine ursprüngliche, sondern für eine Geheimschrift anzusehen. Ich bin überzeugt, daß in diesen Dingen Alles auf die Anlage der Nationen zum Denken ankommt. Es giebt offenbar zwei Hauptmanieren, die Sprache zu behandeln, die eine bloß um die Gedanken auszudrücken, u. die materiellen Zwecke zu erreichen, die andere die Gedanken in eine bestimmte Form zu kleiden, u. dadurch das Denken zu erweitern, u. sich den Genuß des Denkens zu verschaffen, u. diese Ansicht jeden Gebrauch der Sprache, auch den materiellsten, begleiten zu lassen. Ich glaube daß ein hoher Grad von Cultur mit der ersten Manier verbunden seyn kann, technische, mathematische, bis auf einen G gewissen Grad naturhistorische Kenntnisse, dagegen nie eigentliche Poesie, Philosophie, u. Beredtsamkeit, da der Zweck dieser die Form selbst ist. Wo nun eine Nation bloß die erste Manier der Behandlung hat, können Jahrhunderte vergehen, ehe die Sprache eigentlich grammatische Formen erhält, u. ehe Schrift erfunden |7*| wird. Was so eine Nation braucht, leistet auch eine unvollkommene Sprache, leisten Zahlen u. Bilder. Wo der Trieb zu |sic| zweiten Behandlungsart erwacht, wird in Kurzem die Sprache umgeschaffen u. Schrift erfunden seyn. Die Schwierigkeit liegt nicht in dem einen, oder andren, sondern nur im Erwachen des Triebes. Die Energie des Denkens auf das Denken an sich gerichtet, ist hier die schaffende Kraft, aber Nationen entstehen, u. gehen unter, ohne daß diese Energie in ihnen hervortritt. Ich bin also ganz Ihrer Meynung, daß es unmittelbar (nicht durch den Weg der Bilder) entstandene Alphabete, u. Alphabete an verschiednen Orten, eins unabhängig vom andren gebildet, gegeben hat. Dem ungeachtet möchte ich die Zoegasche Idee nicht ganz verwerfen. Warum sollte nicht auch bei einer Nation haben aus Bilderschrift ein Alphabet hervorgehen können? Nur müßte man, um dies zu behaupten, den Beweis aus besondren Umständen, nicht aus d einem allgemeinen Entwicklungsgange hernehmen. Es ist überhaupt sehr mislich solche allgemeine Wege vorschreiben zu wollen, u. die individuelle Natur der Nationen zu verkennen, auf der doch allein Alles beruht. Noch muß ich bemerken, daß doch auch Sie gewiß einen Unterschied zwischen der ältesten u. neueren Hieroglyphenschrift annehmen[f]. Nach Youngs in London doch wirklich sehr scharfsinnigen Forschungen enthalten die Hieroglyphen auch Buchstabenzeichen, vorzüglich bei Namen. Dies ist doch vermuthlich neuer. Immer aber wäre es höchst interessant, wenn man namentlich für Aegypten ergründen könnte, ob die Hieroglyphen lange Zeit ganz die Stelle der Buchstabenschrift vertraten, oder ob es neben ihnen schon sehr früh auch Buchstabenschrift gab, u. sie nur Geheimschrift waren. In Mexico war offenbar das Erste der Fall. Ueberhaupt muß man, meiner Kenntniß der Sprachen in Amerika, u. den bekannten historischen Umständen nach, wohl annehmen, daß in ganz Amerika keine Nation über den ersten der oben erwähnten Standpunkte der Sprachansicht hinausging. Ferner glaube ich, daß, obgleich die Erfindung von Alphabeten hätte oft, u. an verschiednen Orten geschehen können, sie sich dennoch nur an wenigen wiederholt haben u. sehr selten geschehen seyn mag. Jene Energie, von der ich oben sprach, bedarf doch, wie jede andre im Menschen, auch äußerer Umstände, um zu erwachen, ein mächtiger solcher Umstand war ein schon erfundenes Alphabet, u. so mag die Wanderung der Alphabete öfter den Trieb der Sprachvervollkommnung erregt, als dieser Trieb Alphabete erfunden haben. Daß die vorhandnen Alphabete sich auf so wenige Formen zurückführen lassen, spricht wohl für diese Behauptung.

|8*| Aber ich ermüde Sie mit meinem so ausführlichen Raisonnement. Nur war Ihr Brief u. dessen Beilage so reichhaltig, daß ich es mir nicht versagen konnte, in das Einzelne seines Inhalts einzugehen.

Meine Frau, die mit Carolinen in Berlin ist, würde mir sehr viel Freundschaftliches an Sie auftragen, wenn sie wüßte, daß ich Ihnen schreibe. – Gabriele war, nach ihren Wochen, recht leidend, u. ist es noch häufig. Sie erholt sich nur überaus langsam. – Adelheiden habe ich selbst an ihren neuen Wohnort begleitet, u. bin einige Tage bei ihr, u. ihrem Mann geblieben. Der kleine Ort Herrnstadt 8 Meilen diesseits Breslau von hier, wo sie leben, ist nicht sonderlich einladend, doch sind die nächsten Umgebungen ziemlich angenehm, u. meine Kinder haben auch ein ungewöhnlich hubsches |sic| Haus gefunden. Sie werden sehr allein seyn, aber sie sind glücklich zusammen, u. so werden sie das nicht unangenehm empfinden. Nur uns hat die Trennung sehr geschmerzt, u. täglich noch fühlen wir die Entbehrung. Caroline ist wirklich ungewöhnlich wohl, u. ganz hergestellt. Meiner Frau ist es den ganzen Winter über auch recht leidlich gegangen.

Ich befinde mich hier auf einem kleinen Gute, auf dem mein Bruder geboren ist, u. wo wir bei unsre Kindheit u. einen großen Theil unsrer Jugend zugebracht haben. Für Berlin ist die Gegend hübsch, u. ich habe den Ort lieb. Ich baue jetzt eben ein neues Haus hier, das vorzüglich die den Zweck hat, unsre Marmore u. Gypse zu stellen, doch nicht in einer Art Museum, wozu die Sammlung zu klein ist, sondern so, daß die Kunstsachen sich mit dem häuslichen Wesen verbinden. Schinkel u. Rauch haben viel Güte für das Unternehmen, u. so hoffe ich soll es hübsch werden. Das Haus, das ursprünglich ein Jagdschloß des großen Kurfürsten war, bekommt vier Thürme, u. jeder von diesen zu Basreliefs zwei der Winde aus Athen. Für ein Landhaus scheint mir die Verzierung passend. In den Flur stelle ich die antike Brunneneinfassung in welcher der h. Calixtus ertränkt seyn soll, zu der Wolf eine Inschrift gemacht hat.[g] Ich erzähle Ihnen dies, weil Sie an Allem, was uns angeht, fortdauern so gütigen Antheil nehmen.

Leben Sie wohl. Mit herzlicher Hochachtung der Ihrige
Humboldt.

Anmerkungen

    1. a |Editor| Es handelt sich hierbei um einen Aufsatz, der während der nächsten beiden Jahre zu Welckers großem Prometheus-Werk ( Die Aeschylische Trilogie Prometheus und die Kabirenweihe zu Lemnos, nebst Winken über die Trilogie des Aeschylus überhaupt, Darmstadt: Leske 1824) erweitert werden sollte. Siehe hierzu die Anmerkung Welckers, zitiert bei Haym 1859, S. 55: "Ein auch in der Dedication der Trilogie Prometheus, Darmstadt 1824 an Professor Dissen in Göttingen erwähnter handschriftlicher Aufsatz, der schon in Giessen (wo auch die Uebersetzung der Wolken und der Frösche aus zwei Vorlesungen hervorgegangen war) als Einleitung zu einer Vorlesung geschrieben worden war, und dessen zufällige Mittheilung von Bonn aus an Dissen die Bekanntmachung, die er anrieht, veranlasst hat; unter dem Druck dehnte dann die Untersuchung sich auf die sämmtlichen Ueberreste des Aeschylus aus." [FZ]
    2. b |Editor| Die von Aischylos verfasste Dramentrilogie über Prometheus ist nur in ihrem mittleren Teil – Der gefesselte Prometheus – erhalten. Der erste Teil trug den Titel Feuerbringer Prometheus, der dritte erzählte von der Befreiung des Prometheus.
    3. c |Editor| Haym 1859, S. 58: „sagen“
    4. d |Editor| Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen erschien zuerst 1810–1812, in zweiter Auflage 1819–1823, in dritter Auflage 1837–1843.
    5. e |Editor| Siehe dazu Anm. a.
    6. f |Editor| Haym 1859, S. 64: „machen“
    7. g |Editor| Zur Ausstattung von Schloss Tegel und das Bildprogramm siehe Christine von Heinz / Ulrich von Heinz (2001/2018): Wilhelm von Humboldt in Tegel. Ein Bildprogramm als Bildungsprogramm, München/Berlin: Deutscher Kunstverlag. [FZ]

    Über diesen Brief

    Eigenhändig
    Schreibort
    Antwort auf
    Folgebrief

    Quellen

    Handschrift
    • Grundlage der Edition: Bonn, ULB, S 689, Nr. 32
    Druck
    • Haym 1859, S. 56–66
    Nachweis
    • Mattson 1980, Nr. 7191

    In diesem Brief

    Zitierhinweis

    Wilhelm von Humboldt an Friedrich Gottlieb Welcker, 12.03.1822. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/752

    Download

    Dieses Dokument als TEI-XML herunterladen

    Versionsgeschichte

    Frühere Version des Dokuments in der archivierten Webansicht ansehen