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Wilhelm von Humboldt an Franz Bopp, 16.03.1835

|1*| Die Recension des Sprachschatzes scheint mir, theuerster Freund, zu Ihren gelungensten Arbeiten zu gehören, und Graff kann sich sehr glücklich schätzen, daß sein Werk durch eine Anzeige eingeführt worden ist, welche die Beweise der Kennerschaft so sichtbar an sich trägt. Alle Seiten, von welchen aus sein Wörterbuch wichtig erscheinen muß, sind von Ihnen vortrefflich herausgehoben worden. Dabei haben Sie Ihren Aufsatz so reich mit den scharfsinnigsten und aus der tiefsten Sprachkenntniß geschöpften Bemerkungen ausgestattet, daß er dadurch allein zu einer eignen, gleich anziehenden und belehrenden Abhandlung wird. Was Sie über die Verbindung eines Pronominalstammes mit Adjectiven sagen, ist eine überraschend herrliche Entdeckung. Ich möchte Sie sehr bitten, diesen Punkt in Ihrer vergleichenden Grammatik weiter auszuführen. Diese Bildung zeigt die Sprache in einer ihrer ausdruckvollsten Schöpfungen, klarer und deutlicher als man es je erwarten sollte. Man sieht auch hieran, wie weit der von Ihnen zuerst durch Beispiele und Lehre eröffnete Forschungsweg in der Sprachzergliederung führt. Ihre Erinnerung gegen Grimms willkührliches Abscheiden von Wurzelsilben und Suffixen hat mich sehr gefreut. |2*| Es ist viel besser, das noch nicht wirklich Herausgebrachte mit recht sichtbarer Andeutung, daß es noch nicht erklärt werden kann, hinzustellen, als zu thun, als sei es erklärt. – Ueber das deutsche Wort blind möchte ich mir eine Bemerkung erlauben. Sie sagen, wenn man wüßte, was bl bedeutete, so könnte man inda mit dem Sanskritischen andha vergleichen. Auf diese Weise läge die Stammbedeutung gar nicht in den beiden Anfangs-Consonanten. Mir aber scheint gerade im Gegentheil dieselbe darin zu suchen, die natürlichere Methode. Denn in mehreren deutschen Wörtern zeigt bl als Anlaut eine Schwäche an. Ich erinnere Sie nur an blinzeln, blöde, bloß, bleich, blaß u. s. w. Im Ursprung und im allgemeinen zeigen die beiden Consonanten wohl eine flüssige Bewegung an, die auf mehrere Dinge angewendet werden kann. Unter diesen ist wohl gewiß der der Schwäche, aber auch der der Verdunkelung durch Ueberfülle, und dieser paßt auf das Umwölkte des erblindenden Auges. Ich fühle sehr gut, daß diese Art zu etymologisiren nicht positiv angewendet werden darf, da sie zu unbestimmt ist. Aber die negative Kraft eine Etymologie abzuwehren, mit der sie im Widerspruch stände, besäße sie doch vielleicht, und auch im Griechischen finden sich mehrere ähnliche Beispiele des bl. Ihre Erklärung des Hundes als beißenden Thieres ist überaus sinnreich. Ich habe nur bei der Annahme einer solchen Zerstückelung der Wörter immer das Bedenken, daß solche Umänderungen |3*| wohl nur da entstehen, wo gebildete Sprachen an Völker kommen, die ihren Organismus nicht mehr verstehen. Ein solches Verhältniß scheint mir aber beim Sanskrit, so wenig in Beziehung auf die unbekannte Muttersprache, als auf die Schwestersprachen recht denkbar. Ein Andres ist es bei Zahlwörtern und besonders bei zusammengesetzten.

Ich habe in diesen Tagen ein Lehrgebäude der aramäischen Idiome von Julius Fürst in Leipzig erhalten, das ich Ihnen doch, wenn Sie es noch nicht kennen, anzusehen rathe. Der Zweck des Verfassers ist die Uebereinstimmung des Semitischen Sprachstammes mit dem Sanskritischen zu zeigen. Er hält beide für einen und denselben, nur daß sich |sic| vor Einführung des Gesetzes des Baues der Stämme in die Semitischen Sprachen, auseinander gegangen sind. So viel ich das Buch durchblättert habe, scheint es mir von richtigen Ideen auszugehen und gelehrte Forschung damit zu verbinden. Neu war mir aber, daß er S. 87 § 98 behauptet, daß es mehrere Wurzelvokale gebe, nicht bloß a, sondern auch i und u. Ich habe immer geglaubt, daß bloß die Consonantenlaute wurzelhaft wären, und daher auch die einsilbigen Wurzeln immer aus zwei Consonanten zusammengesetzt gehalten, zwischen die später ein Bildungsvokal getreten sei. Haben Sie doch die Güte, wenn Ihnen die Schrift zu Gesicht kommt, mir Ihr Urtheil darüber zu sagen.

Mit der hochachtungsvollsten Freundschaft
| Handschrift wvh| Humboldt
| Handschrift Schreiber| Tegel den 16. Maerz 1835.
|4* vacat|
Zitierhinweis

Wilhelm von Humboldt an Franz Bopp, 16.03.1835. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/216

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