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Friedrich Gottlieb Welcker an Wilhelm von Humboldt, 30.12.1821

[Bonn] den 30. Dec. 1821.

Ew. Excellenz danke ich vielmal für die etymologische Abhandlung und den bald darauf eingetroffenen Brief vom 6. Nov. Was Sie von der Gesundheit Ihrer Frau Gemalin sagen, war mir in so fern beruhigend, als ich kurz vorher über ihr Befinden minder gute Nachrichten von andern Seiten erfahren hatte – und ich will hoffen, daß die große Freude, welche sie vielleicht heute schon erfüllt und gesichert sieht, und woran auch ich den innigsten Antheil nehme[a], ihr auch körperlich recht wohlthätig seyn möge. Viel vermag doch oft die tiefste und mächtigste Seelenstimmung über die Gesundheitsumstände. – Sie verlieren Ihre Frau Tochter Adelheid aus der Nähe – aber ich höre, daß ein Regiment zu haben Herrn von Hedemann angenehm seyn werde – und bey der Leichtigkeit, sich auf längere Zeit häufig wiederzuvereinigen, welche Ihre Lage währt, hoffe ich, daß bey der Trennung das Schmerzliche nicht zu vorherrschend seyn wird.[b]

[Kékule 1880, S. 189–193] Die Arbeiten, von denen Ew. Excellenz mir schreiben, nicht minder die, welche in dem Brief an Schlegel berührt sind, haben für uns beide etwas erfreuliches. Ihr Urtheil über das Sanskrit und die Stelle die es einnimmt war mir auffallend und einleuchtend, so weit man nach einem aufgestellten Verhältniss von Merkmalen unter sich urtheilen kann; noch mehr aber als diese Stufe in der Entwicklungsreihe interessirt mich die untere, worauf sich die Amerikanischen Sprachen nach Ihren Untersuchungen befinden. Diese Analyse, wenn sie jene einfache Ansicht vollständig ausdrückt, wird dem Sprachstudium seine höchste Richtung vorzeichnen und scheint mir eine der gehaltreichsten Entdeckungen. Ich weiss nicht, ob es der grossen Erweiterung der Naturstudien bedurfte, die in unsern Tagen mehr und mehr nach der Herrschaft reichen, um unter ähnlichen Gesichtspunkten die Sprachen zu erforschen, als Ew. Excellenz zu thun allein begonnen und in der That, soviel mir bekannt, allein seit einer Reihe von Jahren fortgesetzt haben, so fortgesetzt, dass nunmehr das Ziel und die Bahn, welche hinführt, bereits jedermann deutlich genug ist. Ich muss mit aller Offenheit und Wahrheit sagen, dass eine grössere Klarheit und Bestimmtheit eines wissenschaftlichen Grundrisses mir nicht möglich scheint, als welche die Vorlesung auszeichnen. Man sieht an jedem Zuge, dass die Idee aus der schon erschöpften Erfahrung abgeleitet ist, dass es nicht gilt Untersuchungen vorzuzeichnen und anzukündigen, denen das wirkliche Studium leicht eine ganz andre, als die in der Idee Gefasste Gestalt geben könnte. Eine solche Forschung muss auch ausser dem Resultat an sich wohlthätig wirken in einer Zeit, wo noch immer viele Starrheit der Schule, besonders der philologischen, mit dem losesten Sophistengeschwätz und einem eitlen Dreyfussreden, auch über historische Dinge, Urzeit, Ursprachen u. dergl. neben einander sich breit machen und Umfang im Bunde mit Gründlichkeit so wenig von den Peinlichen wie von den Geistreichen gesucht und geschätzt wird. Als ich die Abhandlung über Sprachvergleichung las, giengen mir die Begriffe, wovon sie handelt, unvermerkt ins Wesenhafte, Anschauliche über; Wort, Rede u.s.w. schienen mir wie Gespenster hervorcitirt. Die Entwicklung ist reich an Ideen und Bemerkungen, die mir bey der Reflexion sogleich als völlig neu erschienen, und von Anfang wirken sie fast wie bekannt, wenn man mit den früheren Gedanken vertraut ist, woraus sie erwachsen sind. So natürlich ist die Entwicklung und so innig die Ideenverbindung. Vorzüglich hat die Ansicht von der organischen Einheit und Gleichzeitigkeit der Sprache mir eine wahre Freude gemacht. Ideen aus Natur oder Geschichte herorgezaubert und einfach hingestellt vermögen eben so wohl ein eigentliches Vergnügen zu erwecken als ästhetische Vorstellungen. Die mechanische Erklärung der Sprachbildung darf indessen am wenigsten verwundern, da sie in andern Bezirken so stetig und mühselig erfolgt und ausgebildet worden ist, wo es ungleich leichter scheint, die wahre Natur des Entwicklungsgesetzes zu erblicken. Am grellsten vielleicht erscheint dieser Irrthum, und mir, muss ich gestehn, bis zum Komischen, in Bezug auf die Entstehung der bildenden Kunst, wo man seit Winckelmann her sich vorgesagt hat, wie aus Säule, Kopf, Armen, Beinen nach und nach eine menschliche Figur zu bilden sey entdeckt worden, während alle Nachahmung doch offenbar mit dem Ganzen anfängt. Interessanter ist es die mechanische Erklärung aus der Geschichte der Poesie zu vertreiben, besonders aus der Griechischen Litteraturgeschichte, wo das Successive der Arten, in der Weise wie es gewöhnlich angenommen, gewiss nicht minder falsch ist.

Ich bin diessmal so frey, Ew. Excellenz einen kleinen Aufsatz beyzuschliessen,[c] der, wenn er auch Ihre gegenwärtigen, ohne Zweifel äusserst emsigen Studien ein Stündchen unterbricht, doch vielleicht an frühere Beschäftigungen Sie nicht unangenehm erinnert. Ich schrieb ihn vor zwey Jahren bey Gelegenheit einer Vorlesung, und habe ihm wenigstens für jetzt die etwas schwerfällige analytische oder demonstrirende Form gelassen. Auch Ihre Frau Gemalin würde ich bitten die Blätter zu lesen, wenn sie sich vor der etwas dicken Schale, unter welcher diese Art Früchte erwachsen, nicht scheut. Sehr lieb würde es mir seyn, wenn Sie mir gelegentlich Ihre Ansicht über die Wahrheit oder Zweifelhaftigkeit der Hauptsache zu äussern die Güte haben wollten. Es beschäftigt mich diesen Winter über wieder, so viel es bey ungewöhnlich vielen und verschiedenartigen Abhaltungen möglich ist, die Geschichte der griechischen Poesie, bis hierher die vorhomerischen Sagen- und Dichtungskreise und Homer selbst. Was ich früher gegen Wolfische und verwandte Meynungen zusammengestellt hatte, hat sich mir nur bewährt, und es wäre mir sehr angenehm, wenn die Umstände mir gestatten wollten, diess alles dem Publicum vorzulegen, nicht um durch neue Ansichten Aufsehn zu erregen, da ich vielmehr durch Verketzerung und äusserliche Interessen eher fürchten darf verunglimpft zu werden als Dank und Lob zu erndten, sondern damit ich aus der Wirkung auf ein so vielfach gerrüstetes |sic| gelehrtes Publicum als man bei dieser Materie hat, so viel berichtigendes oder vervollständigendes abnehmen könnte, um einer Darstellung, die so sehr auf hypothetischen Vorstellungen mit beruht, eine bleibendere Haltbarkeit und eine gewisse Gediegenheit zu sichern. Ueber Religion, Posie und Kunst der Griechen in drey in einander greifenden Büchern zu schreiben, ist endlich zum festen Plan bey mir gediehen und die meisten Parthien von allen dreyen sind auch schon bearbeitet. Aber wie viel mehr bleibt übrig zu thun, wenn man sich auch nur aufgiebt, die Abschnitte, welche nach den Grundansichten am meisten ineinander gehn und am wichtigsten sind, mit gehöriger Sorgfalt und Ausführlichkeit zu behandeln. Die Kunst würde ich zuletzt vornehmen; auf die Religion war lange Zeit ausschliessend mein litterarischer Plan gerichtet. Theils die Vorlesungen aber, für die ich in späteren Jahren um so eifriger gearbeitet habe, als ich sie in den ersten weit zu leicht genommen hatte, theils die Natur der Sache, die innere Wechselabhängigkeit, welche bey der Ausführung immer stärker hervortrit, haben mich unvermerkt zu einem seines Umfangs wegen misslichen Unternehmen hingetrieben. Diesen Winter habe ich eine dritte Vorlesung, die als ein akademischer Luxus betrachtet werden kann und mir zeitspieliger geworden ist, als ich dachte: über Inschriften nehmlich, welche ich in engster Verbindung mit Paläographie, übrigens gleichsam zur Ergänzung der Litteraturgeschichte und mehr im umfassenden Grundriss, als nach der Methode der bisherigen unverhältnissmässigen Bearbeitung zu behandeln gedenke. Bey dieser Vorlesung wird mir die grosse Ehre zu Theil, Schlegel zum Zuhörer zu haben. Für die allgemeine Geschichte der Schrift ist mir die sprachliche Stellung, welche Sie den Turdetanern gegeben haben, von gutem Gebrauch gewesen.[d] Das Alterthum der Sprache beglaubigt die Nachricht von ihrer Litteratur und γραμματική. Wenn ohne Schrift nirgends eine eigentliche, bedeutende Poesie ist, so dürfen um so eher Iberische Runen angenommen werden, welche (für uns) in Reihe und Glied treten mit den Germanischen, mit der Aegyptischen und Phönikischen Schrift, und mit den Skythisch-Thrakisch-altgriechischen Runen, welche mit dieser nur vertauscht worden zu sein scheint. Die Gründe für das letztere habe ich mich begnügt zusammen zu ordnen, ohne zu entscheiden, wie man über viele Fragen in dieser Sache bis jetzt noch unentschieden bleiben darf. Die Zoegaschen Ansichten erscheinen mir mehr als früher unrichtig; und besonders stören auch hier seine philosophischen Grundansichten.[e] Wenn Ausbildung des Denkens zur Entwicklung des Menschen gehört, wenn geordnetes und zusammenhängendes Denken ohne Befestigung des Wortes so wenig möglich ist, als einzelne Begriffe ohne Worte, so ist durch Instinct die Menschheit getrieben, Zeichen für Worte zu setzen – das Wort, gleichsam als Product und Wesen, wird in den allgemeinen Nachahmungstrieb aufgenommen. Keine Erfindung ist an sich staunenswerth, wenn die Natur auf sie hintreibt; die Mittel, die der Witz ausfindet, sind dann mittelbar doch eingeboren. Wenn also die Alphabete dahin führen, autochthonische Schriften anzunehmen, so finde ich nichts befremdliches darin, und der Uebergang von den Bildern ist nicht blos zweifelhaft, sondern auch unnöthig.

[Leitzmann] Für die Güte, welche Ew. Excellenz für meinen Freund Schwenck gehabt haben, bin ich Ihnen die größte Dankbarkeit schuldig.[f] Das Ministerium hat seitdem Geneigtheit geäußert, ihn anzustellen, und mich zu einem Gutachten über ihn besonders veranlaßt. Diese Aussicht hat auf seine Gesundheit und Stimmung sehr gut gewirkt.

An die theuren Ihrigen bitte ich meine besten Empfehlungen und Grüße. Mit aufrichtigster Verehrung Ew. Excellenz
treu ergebenster
FGWelcker.

Auch dem Geheimen Rath Wolf bitte ich meine Empfehlung zu sagen.

Anmerkungen

    1. a |Editor| Die bevorstehende Geburt einer Tochter von Gabriele von Bülow.
    2. b |Editor| Der erste und der letzte Absatz des hier Wiedergebenen wurden von Leitzmann 1911 ediert, der für den umfangreichen mittleren Teil auf die Edition von Kekulé 1880 verweist. [FZ]
    3. c |Editor| Es handelt sich hierbei um einen Aufsatz, der während der nächsten beiden Jahre zu Welckers großem Prometheus-Werk ( Die Aeschylische Trilogie Prometheus und die Kabirenweihe zu Lemnos, nebst Winken über die Trilogie des Aeschylus überhaupt, Darmstadt: Leske 1824) erweitert werden sollte. Siehe hierzu die Anmerkung Welckers, zitiert bei Haym 1859, S. 55: "Ein auch in der Dedication der Trilogie Prometheus, Darmstadt 1824 an Professor Dissen in Göttingen erwähnter handschriftlicher Aufsatz, der schon in Giessen (wo auch die Uebersetzung der Wolken und der Frösche aus zwei Vorlesungen hervorgegangen war) als Einleitung zu einer Vorlesung geschrieben worden war, und dessen zufällige Mittheilung von Bonn aus an Dissen die Bekanntmachung, die er anrieht, veranlasst hat; unter dem Druck dehnte dann die Untersuchung sich auf die sämmtlichen Ueberreste des Aeschylus aus." [FZ]
    4. d |Editor| Dies bezieht sich wohl auf Humboldt Aussage in der Prüfung der Untersuchungen über die Urbewohner Hispaniens vermittelst der Vaskischen Sprache, Berlin: Dümmler 1821, S. 132f. Anm. 103. [FZ]
    5. e |Editor| Welcker veröffentlichte eine Biographie Zoëgas: Friedrich Gottlieb Welcker (1819): Zoega’s Leben. Sammlung seiner Briefe und Beurtheilung seiner Werke, Stuttgart/Tübingen: J. G. Cotta. [FZ]
    6. f |Editor| Siehe den Brief Humboldts vom 6. November 1821. [FZ]
    Zitierhinweis

    Friedrich Gottlieb Welcker an Wilhelm von Humboldt, 30.12.1821. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/1113

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