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Friedrich Gottlieb Welcker an Wilhelm von Humboldt, 30.07.1822

Bonn den 30. Jul. 1822.

Der Brief, mit welchem Ew. Excellenz mir zuletzt einen großen Beweis der fortdauernden gütigsten Gesinnungen gaben, sehr wohlthuend und ermunternd, ist am 12. März geschrieben. Daß ich nicht eher antworte, ist in mancherley, weniger absichtlichem als unwillkührlichem gegründet, und ich möchte immer eher, wenn ich Ew. Excellenz rege Thätigkeit und Ihre vielseitigen Forschungen mit meinen Briefen unterbreche, um Entschuldigung bitten, als dann wenn ich länger zurückgeblieben wäre. Vor einiger Zeit hatte ich das Vergnügen Herrn von Vincke hier kennen zu lernen, und von ihm zu hören, daß Sie mit Ihrer ganzen Familie recht gesund seyen. Auch von Frau von Bülow, welche nach Ew. Excellenz letzten Nachrichten allein noch nicht völlig hergestellt war, wußte er nicht anders, als daß sie wohl sey. Man freut sich solcher Nachrichten um so mehr, als jetzt so selten Reisende kommen, und als überhaupt von Berlin hierher unbegreiflich wenig Verbindung besteht. Auch sagte mir Herr von Vincke, daß Ew. Excellenz Anpflanzungen machten, eine Liebhaberey, die noch gar nicht kannte, und die Ihrem Herrn Bruder sehr schmeicheln wird. Von diesem schrieb uns mehrmals ein Vetter meiner Schwägerin, Michaelis[a], aus Paris mit großer Begeisterung recht interessante Schilderungen.[b]

[Kekulé 1880, S. 193–198] Dass Ew. Excellenz die Zusammenstellung über den Aeschylischen Prometheus so wohl aufgenommen haben[c], kann unmöglich anders als mir höchst erfreulich seyn. Auch wenn man durch unbefangene Untersuchung ein gewisses Vertrauen zu dem Ergebniss erhält, nimmt doch die Sicherheit sehr zu, entsteht vielmehr erst durch die Zustimmung des ganz unpartheyischen Dritten, wenn in diesem alle Bedingungen des Urtheils sich glücklich vereinigen. Ich habe später mich noch umgesehen, wie weit nach andern Bruchstücken und Titeln äschylischer Stücke dies Form der Trilogie bey ihm rechte, und allerlei Reflexionen über Verhältnisse und Zusammenhang der Griechischen Kunstentwicklung werden hierdurch von selbst wach. Bis auf Homer zurück reichen unmittelbar die Folgerungen, und ich bin jetzo von dem Kunstplan der Ilias sowie der Odyssee so überzeugt, dass mir der Meister Flicklied und was damit zusammenhängt einen wahren Widerwillen erregt, obgleich mein Respect vor den Hauptvertretern entgegengesetzter Ansichten sehr gross ist. Historische und ästhetische Resultate sind oft wie die Gebirgsspitzen zu betrachten, die auf einer gewissen Stelle des Wegs nicht zu erblicken sind, die nur im Fortgang, wie man aus den Thallabyrinthen der Forschung sich mehr herauswindet, erscheinen. Nur giebt es auch viele, welche die am fernsten Horizonte leicht gezeichneten Linien auch dann noch lieber läugnen, wenn sie von dem Punkt, wohin man sie stellte, wirklich für ein gesundes Aug erkennbar sind. So fürchte ich, dass mein College Heinrich meine homerische Ketzerey so bitter aufnehmen möchte, wenn sie einmal aus dem engeren Kreis der Zuhörer heraustrit, wie nur je eine theologische als gefährlich für das Heil der Welt betrachtet worden ist. Auch andre Bemerkungen über Homer bin ich recht verlangend weiter verfolgen zu können. Als ich ihn im vorigen Herbst in Aachen mit Herodot, und vielen andern auch ganz entfernten Autoren, cursorisch und fast schwelgerisch las, überraschten sie mich so sehr, dass ich kaum glaube, sie werden vor der Prüfung ganz zu nichte werden. Aber seitdem habe ich gethan was ich musste, nicht was ich wollte, und noch sehe ich mich weit abgeschnitten von meiner Lieblingsarbeit. Zunächst drängt mich der edle und liebenswürdige Jacobs, der meinetwegen seine Ausgabe von Philostratos Bildern schon über drey Jahre zurückhält, ihm meine Beiträge zu liefern, wozu ich in den Ferien, nach einer kurzen Reise, zu schreiten gedenke. Der Gewissenhaftigkeit im Worthalten werde ich mir dabey sehr bewusst werden: denn herzlich zuwider ist mir jetzt das Geschäft. Alsdann durchsehe ich die Ausgabe des Theognis, ein kritisches Wagestück, und eine Arbeit über die Monumenti inediti, zum 8. Bande der Winckelmannischen Werke bestimmt[d], beydes vor mehreren Jahren gearbeitet, und hoffentlich wird mich dann nichts mehr hindern an einer Beschäftigung, die ich mir so lang gewünscht habe; denn immer, wenn ich untersichte, musste ich den Lectionen nachgeben, die einen unbarmherzig aus dem Kreis, worin man sich recht einheimisch machen möchte, immer von Tag zu Tag fortreissen; schreibt man aber, so richtet man alles nach seinem eigenen Willen ein.

Aber ich komme von meinem Prometheus ab, wovon ich Ihnen doch, da Ew. Excellenz über einen Punkt so gütig waren, mir Ihre Zweifel auszuführen, noch mehr zu schreiben wünschte. Sie betrafen die Stelle V. 1035 ff., wo Hermes dem Prometheus verkündigt, er solle seiner Qual kein Ende erwarten, bis der Unsterblichen einer als Nachfolger seiner Leiden erscheinen und statt seiner in die Unterwelt gehn werde. Ich muss gestehn, dass ich die Ansicht, diese Stelle sey prophetisch, nicht aufgeben kann, obgleich die Erklärung, die Ew. Excellenz aufstellen, und die auch Schütz angedeutet hat, in Vereinigung mit dem was Sie hinzufügen, ein ganz andres Ansehn gewinnt. Es scheint mir was Hermes setzt das Unmögliche nicht bedeuten, oder nicht verneinen zu können, dass das andre je geschehen werde, darum weil es gar keine ungriechische Vorstellung ist, dass einer für den andern in den Tod gehe, wie die Fabeln der Alkestis und die Dioskuren zeigen. Aber die Sache selbst und der Ausdruck dürften auch für einen solchen Sinn etwas zu ernsthaft und edel seyn. Sophokles sagt im Phineus βλέφαρον κέκλεισταί γ’ ὡς καπηλείου θύραι, d. i. schlecht oder gar nicht, und im Philoktet (861) ὥς τις Ἀΐδᾳ παρακείμενος βλέπει. Aehnliches kommt mehr vor; was Schütz aus Terenz anführt, gehört im Allgemeinen dahin. Dass Chiron, als Unsterblicher, θεός genannt wird, fällt mir bey Aeschylus nicht auf, da er auch den Prometheus öfter so nennt, im Gegensatz zu sterblichen Wesen. Apollodor freylich sagt nicht ausdrücklich, dass er den Umstand, welchen ich in Hermes’ Worten finde, aus Aeschylus nehme: aber die Tragiker sind doch fast seine jüngste Quelle, und nur in Tragödien oder auch Satyrspielen durchgeführte Züge pflegt er, ausser den alten und allgemein bekannten, in seinen gedrängten Abriss aufzunehmen. Da er nun alles zusammenstellt, was Aeschylus befolgt, Erschiessung des Adlers, Annahme des Bandes, und Stellung des Chiron, so dünkt mir, sey doch sehr wahrscheinlich, dass er diese Stelle gerade ganz nach Aeschylus gefasst habe. Was Ew. Excellenz über die inneren Bezüge oder auch Widersprüche dieser mytischen Momente anführen, ist vollkommen gegründet; es ist aber sehr oft der Fall, dass die Dichter nur absichtlos oder doch ohne Vortheil für die darzustellende Idee mythische Züge mitnehmen, die einmal mit andern variirt und nachher verflochten worden waren. Das Amalgamiren ist eins der fruchtbarsten Principien im Mythischen gewesen, und mehr als durch etwas wird hierdurch die reine Auslegung erschwert. Da die äusserliche Erzählung immer verknüpfte, und alles als faktisch zusammenzureimen suchte, so konnte auch der auf das Bedeutsame bedachte und wählende Dichter doch nicht immer alles überflüssige ausscheiden, um nicht unvollständig oder unachtsam zu scheinen. Dass ich die Stellvertretung des Chiron an sich mit Opferideen nicht unvereinbar halten möchte, erriethen Ew. Excellenz schon aus der Anführung von der Alkestis und den Dioskuren: es kommen auch die vielen Opfertode der Königstöchter, der edelsten Erstlinge (ἀπαρχή) u.s.w. in den Sagen hinzu. Der grosse Unterschied ist allerdings, dass Chiron nicht aus Aufopferung und Liebe stirbt, sondern wegen eigner Schmerzen. Auch gebe ich sehr gerne nach, dass ich im Uebrigen mit ihm und seinem Namen gespitzfündelt haben mag: ich war mir diess sogar bey der Abfassung ziemlich bewusst. Ich dachte nemlich an χειρ (ευχειρ, Χιρ-ων) da Chiron zuerst Wundarzt ist: diese Fertigkeit bewundert das höhere Alterthum, Aeschylus hätte sie können dem Geist nachstellen. Uebrigens ist in der That auffallend, wie viele übersehene Spiele mit Eigennamen selbst in der homerischen Poesie vorkommen. Später sah ich Hermann de tetralogia dramatum Graecorum[e] ein, wo weder über Prometheus noch über Tetralogie viel gesagt ist, was nicht Eile zu verrathen schiene. Die Abschrift meines Aufsatzes war für Ew. Excellenz bestimmt, und es freut mich, dass Sie sie aufzubewahren nicht unwerth gefunden haben.

Was Sie über die Hieroglyphen, über Schrift, und die instinctmässige, oder nothwendige, vom glücklichen Zufall der Erfindung unabhängige Entwicklung, über Verschiedenheit der Völker in Beziehung auf diese Entwicklung schrieben, enthält in einzelnen Strichen ein ganzes System von Ansichten; von Ansichten, die der Ausführung und Anwendung in höchstem Grade würdig sind. Ich hoffe, dass nun bald die zögernde Akademie wieder eine Ihrer Vorlesungen wird abgedruckt haben. Mit Ungeduld warte ich darauf, indem es keine Wissenschaft giebt, der ich als Laie grösseren Geschmack abgewinnen könnte, als einer solchen Sprachphysiologie. Wenn die Naturstudien den Vorzug haben, zugleich die Einbildungskraft zu beschäftigen, so können sie gewiss dem Gedanken eine so tiefe Befriedigung nicht gewähren, wie eine Betrachtung der Sprache, welche mit der Schärfe der Abstraction und der Vergleichung einen sogestalten Stoff durchdringt und diesen Proteus zwingt, seine Geheimnisse auszureden. Ew. Excellenz haben in der neuen Ausgabe von F. Schlegels Vorlesungen die erweiterte Eintheilung der Sprachen nach den Buchstaben bemerkt (S. 169). Mir fiel bey den aspirabeln Buchstaben als Zeichen der göttlichen Inspiration in der hebräischen Sprache ein, wie ganz verschieden Ihre Frau Tochter Adelhaid |sic| in Wien unterschied, als sie sagte: ma voi col vostro hacchia tedesco: è propriamente per smorzare le candele.

Unter den neuern und neusten Schriften haben mich vorzüglich Dahlmanns historische Forschungen angezogen, der den Kimonischen Frieden der Griechischen, und alle ihre vermeintlichen Grundlagen der älteren Dänischen Geschichte entzieht, dafür durch Grundsätze und Methode den Leser entschädigt. Was man im Mythischen nicht finden soll, zeigt er vortrefflich in dem letztgenannten Theile seines Buchs – was historisch brauchbares daraus abzunehmen sey, darauf wird die Aufmerksamkeit in dieser Zeit ohnehin gerichtet bleiben. Seitdem die Göthe, Herder, auch Schlegel u.a. den Geschmack der Ansichten, geistreichen Blicke, leichten Aussprüche, universellen Kenntnisse geweckt haben, der sich bey so vielen kenntnissleeren, unweisen und eitlen Schriftstellerlein jetzt findet, ist das Mythische ein allzubeliebter Gegenstand. Recht wacker und lehrreich finde ich auch Tittmanns Griechische Staatsverfassungen, obgleich einige der durchgehenden Ansichten mir nicht so fest zu stehn scheinen, wie dem Verfasser und das höhere Alterthum vielleicht nicht genug durchdrungen.

Ganz besonders aber freut mich die Erklärung der Pindarischen Siegslieder von Böckh und Dissen.[f] Ein guter Schritt vorwärts seit Heyne![g] Diese Vereinigung von höherer, ästhetischer Auslegung mit der grammatischen hat mir als Forderung und Aufgabe längst vorgeschwebt: ein schöneres Beyspiel davon ist vielleicht an keinem alten Schriftsteller je gegeben worden. Es war hier so verdienstlicher, auf die Composition grosse Rücksicht zu nehmen, als auch der feinste und unverkennbarste Plan doch nur eine sehr bescheidne, fast unscheinbare Grazie entwickelt. Ich gestehe, dass mir Dissen, mein inniger Freund, wenn er mir während der Arbeit häufig schrieb, zuweilen zu weit zu gehn schien, in der Verknüpfung des Mythischen mit den enkomischen Beziehungen und localen Umständen. Aber die Stücke die ich bis jetzt habe vergleichen können, lehren mich, dass er die durchgängige feine Absichtlichkeit des Dichters zu entdecken und nachzuweisen sehr geschickt war. Mir dünkt die Bedeutsamkeit, womit Pindar die Mythen anbringt, ist ungefähr mit derjenigen zu vergleichen, nach welcher die alte Kunst ihre Gegenstände zur Verzierung von Tempeln und Heiligthümern aller Art, zum Theil auch profaner Räume wählte und formte. Wir sind darin zurück, diese mythisch-poetischen Bezüge zu erkennen, weil wir nicht von Haus aus zu einer Fülle von Symbolen hingezogen und damit vertraut gemacht werden. Wie schön ist z.B. zur 3. Nemeischen Ode die Bemerkung, dass der Alte ein Theoros war, und das Gedicht bestimmt, unter dem Colleg der Theoren und in ihrem Haus aufgeführt zu werden! Ich möchte weiter gehn und dieses Theorion in den Versen 12 ff. namentlich verstehn. Des Landes Zier ist es (denn die Theoren als Ueberbringer und Bewahrer der Orakel haben überall grosses Ansehn: und ich glaube, dass die Pythier in Sparta nichts anders sind), in ihm wohnten nach der Ahnensage der Theoren selbst schon altadlige Myrmidonen, in deren Gesellschaft Aristokleidas nicht unwerth gewesen, aufgenommen zu werden. Und diese παλαίφατος ἀγορά (Gesellschaft) mochte in altehrwürdigen Perücken, wie die Statuen uns zeigen, im Theorion aufgestellt seyn.

[Leitzmann 1911, 142–144] In Ansehung der 1. Nemeischen Ode kann ich Dissens Meynung, wie fein und gelehrt sie auch durchgeführt ist, nicht beytreten. Da Ew. Excellenz den kunstreichen, milderhabnen Dichter immer liebten, so bitte ich um Erlaubniß, Ihnen den Gesichtspunkt zur Prüfung mitzutheilen, unter welchem mir das Ganze dieser Ode sich befriedigend aufzulösen scheint.

Dissen glaubt Herakles Schlangentöder sey besungen zu Ehren des jungen Schlachtenhelden: denn πρώτᾳ ἐν ἡλικίᾳ hatte Chromios gesiegt, wie Nem. 9, 42 ausdrücklich erwähnt ist. Aber wie weit steht dieß aus einander! Dort wird so viel füglicher Chromios dem Hektor vergleichen, der, am Skamander, wie jener am Heloros, das genahete Verderben auf die Feinde zurückgeworfen hatte. Das Hauptkriterion liegt in dem Umstande, daß Herakles als Neugeborner seigt: dieß findet seine Anwendung auf Chromios sofern dieser als Aetnäer, mit der Stadt selbst, den Lebenslauf eben angetreten hat. Hiernach ändert sich die Deutung mehrerer Stellen, zum Theil selbst dem Wortsinn nach, und das Ganze nimmt, wenn ich nicht im Ganzen und im Einzelnen zugleich irre, folgenden Gang.

Ortygia, Chromios Wohnsitz, darf ich preisen, da ihm, der nun Aetnäer wurde, Aetnas und Nemeas Zeus den Wagensieg vergönnt hat, den ersten Sieg der neuen Stadt. Durch seine Tugend ist der Grund des Ruhms gelegt, die ganze Insel verherrlicht, die fruchtbare, die Zeus mit Städten zu schmücken der Persephone verhieß, (mit Beziehung auf Aetna) die reich ist an wohlberittnen Streitern, an Olympischen Kränzen. (Hier nicht blos Punkt, sondern Ruhepunkt, Absatz.)

Oftmals nahm ich als Gast, als Sänger, an des Chromios von vielen Fremden besuchten Mahlen Theil. Viel Freunde gewann ihm seine Gastlichkeit, den Tadel zu überstimmen. (Einen auch in seinem jetzigen Sänger.) Verschieden ist Kunst und Beruf; genug, daß jeder auf geradem Weg den seinigen verfolgt. Macht und Reichthum ist wirksam in Werken (Chromios), der prophetische Geist, wem er eingeboren ist, in Wahrsagung (Pindar).

So vergleicht sich der Dichter, andeutend, mit Tiresias, der dem Kind Herakles aus dem Zeichen prophezeit, er werde Bestien, Feinde, selbst Giganten niederschmettern, indem er dem Chromios verkündigen will, der Kampfsieg werde Vorspiel großer Kriegesthaten seyn; aus dem von Göttern begünstigten Anfang (V. 8) leitet er sie dichterisch ab, da ihm die politische Stellung des Schwagers von Hieron, und dessen kriegerische Neigung, wogegen Nem. 9, 28 und 46 ff. gerichtet zu seyn scheinen, wohl verrathen mochten, was zu erwarten sey. Der Stolz oder die Würde, womit der Dichter sich demnach dem Sieger zur Seite stellt, ist mehr aus dem Ton des Ehrenamts, das er verwaltet, als aus individuellem Selbstgefühl fließend. βουλαί aber heißt wirklich Prophezeihung, Istm. 7, 11 ff. von der des Tiresias, und Themis und Nereus heißen bey Pindars εὔβουλοι. Böckh und Dissen (p. 349 und 354) beziehen, mit dem Scholiasten, die Strophe auf das Siegsmahl, wobey man selbst an dem Präteritum ἔσταν anstößt. Dann würde auch θαμὰ (gewiß hier nicht soviel, sondern oft) δ’ ἀλλοδαπῶν οὐκ ἀπείραντοι δόμοι ἐντί matt seyn. λέλογχε p drückt die Wirkung der Gastfreundschaft aus, ganz in dem Sinn wie V. 31 sq. (und jener ritterlichen Verschwendung Nem. 9, 3. 32. 46.)

Im folgenden bleibt der Dichter bey der Gegeneinanderstellung des dichterischen Sehers mit dem reichen, heroischen Chromios stehn, indem er erst von diesem, dann von sich als Tiresias spricht. Und hier erklärt Dissen wieder alles anders. Ich denke so: Du, dessen Art im Thun besteht, hast beydes, (nehmlich, daß du genießest, und daß du andre mit genießen lässest und dadurch Freunde erwirbst.) τῶν τε καὶ τῶν, da es, nach dem Obigen, nicht auf das Vorhergehende, ἔργον und βουλή, sondern allein auf Chromios Verhältniß, demnach auf das Folgende geht, muß erklärt werden nach den beyden Seiten, von welchen Pindar eine Lage wie die des Chromios zu betrachten gewohnt ist. Und gerade so faßt er sie auf Pyth. 1 fin. τὸ δὲ παθεῖν εὖ πρῶτον ἄθλων, εὖ δ’ ἀκούειν δευτέρα μοῖρα, und Isth. V, 14 Heyne. In unsrer Stelle ist nur das Lob dieser doppelten Eigenschaft nicht direct ausgedrückt, sondern, wie mehrmals, in den allgemeinen Satz versteckt. Aber Dissen erklärt auch εὖ πασχέμεν anders, das so wie ich es genommen habe bey Theogn. 1003 vorkommt, τῶν ἀυτοῦ κτεάνων εὖ πασχέμεν, und in dem Lokrischen Lied bey Athen. 15 p. 697 B καὶ ἡδέων τι πάσχεις[h]; an die so gefaßte Sentenz schließt sich das folgende κοιναὶ γὰρ ἔρχοντ’ ἐλπίδες πολυπόνων ἀνδρῶν in keinem andern Sinn an, als: gegenseitig und durch einander bedingt ist was die Menschen von einander zu erwarten haben. Schön deutet πολυπόνων an, daß auch der Mächtigste nicht selbständig sey, sondern daß ganz allgemein der Mensch an den Menschen geknüpft sey; κοιναὶ ἐλπίδες. Hier muß Dissen dem Wort selbst Gewalt anthun. Daß der fürstliche Aufwand als das ἔργον, statt aller andern Thaten und Tugenden hervortrit, ist nicht zu ändern. Es ist nicht besser noch schlimmer, daß ein Pferdesieg mit einer Wunderthat verglichen wird. Sehr natürlich aber scheint mir die 2. Strophe und die 2. Antistrophe in ein einiges Gedankenganzes auf diese Art zusammenzugehn. Indem der Dichter nun vom Chromios zu sich und seinem Beruf übergeht, ἐγὼ δὲ – muß ich übersetzen: ich aber (um jetzt meine Gabe der Verheißung zu bewähren) mag gern eine alte Sage, vom Herakles, beym Preise deines Siegs, oder zum Preise, aufnehmen, die, wo Tiresias verkündete, (was ich heute Dir). Ohne alle Anwendung schließt die Ode mit dem Mythus, so ist es dem angenommenen Orakelton angemessen, den andern die Deutung zu überlassen.

Wenn der Hauptgedanke nicht verfehlt ist, so darf ich von Ew. Excellenz hoffen, daß Sie das Ueberflüssige in diesem brieflichen Commentar leicht entschuldigen werden. Zum Anfang der 9. Nemeischen Ode führt Dissen eine Anmerkung von mir[i], nur an der unrechten Stelle, an, die ich ihm auf seine Anfrage mitgetheilt hatte.[j] Darin liegt die Erklärung eines alten Basreliefs, die mir von allen am meisten Freude gemacht hat, ich meyne gewiß weniger, als ein eigner passender Einfall, als wegen der schönen Auflösung eines so interessanten Denkmals an sich. Nur ist gerade dieß, daß durch Pindars silberne Preisschalen der Kitharödenagonen die Trinkschale des Denkmals und mit ihr das ganze sich erklärt, nicht eigentlich herausgesagt, so wie Dissen meinen Brief benutzt hat.

Wenn ich hiervon Anlaß nehme, Ew. Excellenz zu fragen, ob ich vielleicht künftig einmal eine Zeichnung von Ihrer Brunnenmündung[k] zur Herausgabe in meiner Zeitschrift erhalten könnte, so werden Sie es eher für Eifer des Sammlers, als für eine Zudringlichkeit halten. Ich denke noch nicht sehr bald an die Fortsetzung dieser archäologischen Hefte zu gehn – und ich müßte auch vorher Anstalt treffen, daß sie in weniger schlechter Gestalt erschienen.[l]

Ueber meine Zukunft ist bis jetzt nur entschieden, daß ich meinen Bruder und er einen Ort, der Trotz aller Widerwärtigkeiten auch ihm sehr werth war, verlieren werde. Vor einen halben Jahr schlug er einen Ruf nach Freyburg aus – nach dem, was auswärts von unserer Lage errathen werden konnte, fing man ganz neuerlich wieder an. Zwar hatte früher Se Durchlaucht der Staatskanzler, als mein Bruder wegen des erhaltenen Rufs auf baldige Entscheidung antrug und diese verweigert wurde, erklärt, […][m]

Anmerkungen

    1. a |Editor| Gustav Adolf Michaelis wuchs nach dem Tod des Vaters Gottfried Philipp, eines Sohnes von Johann David Michaelis, bei seiner Tante Luise (geb. Michaelis) und ihrem Mann, Christian Rudolf Wilhelm Wiedemann, auf. Seine Cousine Emma heiratete den Bruder von F. G. Welcker, Carl Theodor. Gustav Adolf Michaelis hielt sich vom Sommer 1821 an für ein Jahr zu medizinischen Fortbildungszwecken in Paris auf. [FZ]
    2. b |Editor| Der erste Absatz sowie das Ende des hier Wiedergebenen wurden von Leitzmann 1911 ediert, der für den umfangreichen mittleren Teil auf die Edition von Kekulé 1880 verweist. [FZ]
    3. c |Editor| Es handelt sich hierbei um einen Aufsatz, der während der nächsten beiden Jahre zu Welckers großem Prometheus-Werk (Die Aeschylische Trilogie Prometheus und die Kabirenweihe zu Lemnos, nebst Winken über die Trilogie des Aeschylus überhaupt, Darmstadt: Leske 1824) erweitert werden sollte. Siehe hierzu die Anmerkung Welckers, zitiert bei Haym 1859, S. 55: "Ein auch in der Dedication der Trilogie Prometheus, Darmstadt 1824 an Professor Dissen in Göttingen erwähnter handschriftlicher Aufsatz, der schon in Giessen (wo auch die Uebersetzung der Wolken und der Frösche aus zwei Vorlesungen hervorgegangen war) als Einleitung zu einer Vorlesung geschrieben worden war, und dessen zufällige Mittheilung von Bonn aus an Dissen die Bekanntmachung, die er anrieht, veranlasst hat; unter dem Druck dehnte dann die Untersuchung sich auf die sämmtlichen Ueberreste des Aeschylus aus." [FZ]
    4. d |Editor| Diese Arbeit Welckers über Winckelmanns Monumenti antichi inediti ist nie erschienen. U.a. in der Allgemeinen Literatur-Zeitung Nr. 156 von Juni 1826, Sp. 420f. werben sowohl Welcker als auch die Walthersche Buchhandlung in Dresden, bei der das Buch als 9. Band der Weimarer Ausgabe erscheinen sollte, für eine Subskription des Werkes – offensichtlich ohne Erfolg. [FZ]
    5. e |Editor| Welcker meint wohl Gottfried Hermanns 1819 erschienene De compositione tetralogiarum tragicarum dissertatio, eine nur 14-seitige Abhandlung. Die De tetralogia dramatum Graecorum von Friedrich August Wolf erschien 1787 und enthält reine Textausgaben griechischer Tragödien ohne Kommentierung. [FZ]
    6. f |Editor| In dem 1821 erschienenen zweiten Teil des zweiten Bandes der von Böckh herausgegebenen Pindar-Ausgabe wurden die Pindarschen Epinikien von Dissen und Böckh kommentiert. [FZ]
    7. g |Editor| Gemeint ist die Ausgabe der Siegeslieder Pindars durch Christian Gottlob Heyne aus dem Jahr 1798. [FZ]
    8. h |Editor| Athenaios, Deipnosophistai 15, 53: καὶ ἥδε / ὦ τί πάσχεις. [FZ]
    9. i |Editor| Dissen in Böckh 1821, S. 453. [FZ]
    10. j |Editor| Leitzmann 1911, 144 Anm. 1: Vgl. Briefwechsel zwischen Böckh und Dissen S. 37. 53. 137.
    11. k |Editor| Zur Ausstattung von Schloss Tegel und das Bildprogramm siehe Christine von Heinz / Ulrich von Heinz (2001/2018): Wilhelm von Humboldt in Tegel. Ein Bildprogramm als Bildungsprogramm, München/Berlin: Deutscher Kunstverlag. Dort S. 28f. zur Brunneneinfassung im Atrium des Schlosses Tegel; siehe außerdem Hans Eugen Pappenheim (1940): Wilhelm von Humboldts "Brunnen des Calixtus", in: Die Antike 16, S. 227–242. [FZ]
    12. l |Editor| Leitzmann 1911, 144 Anm. 2: Die archäologische Zeitschrift ist nicht fortgesetzt worden; über die Zeichnungen des Puteals vgl. Briefe [Haym 1859], S. 82 Anm. ("Rauch hat die Figuren gezeichnet, jede einzeln, in der Höhe eines gewöhnlichen Foliobogens. Diese Blätter sind später von mir, da ich sie als Geschenk von der Generalin Amalie von Helwig [Helvig] erhalten hatte, an K. O. Müller zum Gebrauch für seine Denkm[äler] der a[lten] K[unst] gekommen und nie an mich zurückgelangt. F.G.W.").
    13. m |Editor| Leitzmann 1911, 144 Anm. 3: Der schließende halbe Bogen des Briefes ist nicht erhalten.

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    Quellen

    Handschrift
    • Ehem. Berlin, AST
    Druck
    • Grundlage der Edition: Kekulé 1880, S. 193–198 (Auszug); Leitzmann 1911, S. 142–144 (Auszug, ergänzt Kekulé)
    Nachweis
    • Mattson 1980, Nr. 11700

    In diesem Brief

    Werke
    Zitierhinweis

    Friedrich Gottlieb Welcker an Wilhelm von Humboldt, 30.07.1822. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/1120

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