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Heinrich Kurz an Franz Bopp, 01.07.1830

Hochgeehrter Herr Professor!

Ich sage Ihnen meinen innigsten Dank für den Brief, den Sie die Güte gehabt, an mich zu richten, und in welchem Sie mir die sehr angenehme Nachricht mittheilen, daß die besagte Recension für würdig gehalten worden ist, in die Berliner Jahrbücher eingerückt zu werden. Was die Andeutung auf Herrn Prof. Neumann betrifft, so ist jetzt kein Grund mehr vorhanden, sie stehen zu lassen, da ich die ganze Sache in einer kleinen Schrift, welche Ew. Wohlgeboren hoffentlich jetzt schon erhalten haben, umständlich auseinander gesetzt habe.

Ich bitte Ew. Wohlgeboren wohl zu glauben, dass ich die Broschüre nicht ohne Ueberzeugung in die Welt geschickt habe; ich hielt es vielmehr für meine Pflicht, zweien Uebeln zu begegnen, welche Herr Prof. N. zum Urheber hatten. Es ist aus sicherer Quelle bekannt, dass dieser Herr gegen mehrere Leute auf die angegebene Weise sich geäussert, und wie ich im Heftlein schon gesagt, er hat es nicht nur in Deutschland, sondern auch in Paris und in London gethan. Die Geschichte mit Herrn Julien, die mehr als diplomatisch wahr ist, kann für die Authenticität der ersten bürgen, die übrigens gewiss nicht so niedrig ist, als die Juliensche. Ich aber hielt es als Schüler des Herrn Abel-Rémusat für meine Pflicht, mit Kraft gegen Gerüchte aufzutreten, von denen allerdings nicht zu befürchten stand, dass sie von wahren und sachkundigen Gelehrten aufgenommen werden könnten, die aber doch bei der grossen Masse Halbgelehrter hätte Eingang finden können. Uebrigens ist es nicht die einzige Sache der Art, die sich Herr Neumann hat zu Schulden kommen lassen; und sollte es ihm jemals einfallen, eine verneinende Antwort bekannt zu machen, so würde ich ihm noch einige andere seiner Verläumdungen entgegenstellen können.

Ich habe aber die kleine Schrift auch wegen der Wissenschaft selbst bekannt gemacht, da die Aufsätze des Herrn Prof. Neumann ihr mehr als schädlich geworden wären. Es ist wirklich eine traurige Erscheinung, dass das Chinesische, seitdem es in Europa getrieben wird, so vielen Charlatanen in die Hände gefallen ist. Doch hätte man hoffen dürfen, dass nach der letzten Geschichte des Herrn D r Schott in Halle, solche Sachen nicht mehr vorkommen würden, vorzüglich als mehrere Deutsche nach Paris kamen, um die Chinesische Sprache an der Quelle zu studieren; diese Hoffnungen wurden recht lebendig, als Herr Prof. Neumann in Paris ankam, um sich diesem Studium zu widmen. Denn nicht zu läugnen ist es, dass er ein Mann von vieler Umsicht ist, und dass er viele Kenntnisse besitzt; niemand wird ihm seine philosophische Bildung absprechen können noch wollen. Aber desto betrübender musste es für diejenigen sein, die sich der Wissenschaft mit Liebe hingeben, als man auch seinen gränzenlosen Charlatanismus bemerken musste.

Ich glaube gezeigt zu haben, und ich bin moralisch ganz fest davon überzeugt, dass Herr Neumann auch nicht die mindeste Kenntniss im Chinesischen hat. Diess ist mir gestern noch recht klar geworden, als ich die herrliche Abhandlung des Herrn von Humboldt über die Verwandtschaft der Ortsadverbien mit dem Pronomen durchlas. In derselben sind auch einige Ansichten des Herr. N. mitgetheilt, die materiell grundfalsch sind. Erstens ist es jetzt noch ganz unmöglich, eine gründliche Arbeit über das Chinesische als gesprochene Sprache mitzutheilen, da wir sie bis heute nur noch durch die Characterschrift hindurch anschauen können, welche aber die eigentliche Sprache gänzlich verwischt; es müssen unendliche Untersuchungen vorangehen, ehe man sich ein Urtheil darüber erwerben kann; auch ist noch nicht die Spur von einer Vorarbeit dazu vorhanden. Dann irrt Herr Neumann, wenn er na und nai in eine Kategorie mit ta und tai setzt; es besteht ein grosser Unterschied zwischen ihnen, denn behält seinen ursprünglichen Accent, wenn es in taí übergeht, dagegen verliert ihn , wenn es in naì sich verwandelt (vorausgesetzt, dass eine Verwandlung wirklich statt findet). Und diess ist nicht ohne Bedeutung, denn die Accente, welche vielleicht nichts Anderes sind als verschiedene Vocale (die wir nicht besser bezeichnen können, als durch Accente), sind im Chinesischen von der größten Wichtigkeit, da sie allein uns vielleicht einen Blick in den innern Bau des Chinesischen geben können. Ferner irrt Herr Neumann, wenn er von einem Character tscha spricht, das ausserhalb sein bedeuten, und aussenden heissen soll, wenn es tschai ausgesprochen wird. Der Character der, tschhaí (und nicht tschai) gelesen, aussenden bedeutet, wird zwar auch tschhā (und nicht tscha) ausgesprochen, dann heisst er aber error, errare, discrepare (Basilius N° 2393[a]). Vielleicht hat sich Herr Neumann durch Morrison täuschen lassen, welcher denselben Character durch: "to be out of the straight line" und "to be beyond" erklärt; diess bedeutet keineswegs ausserhalb sein, sondern exceed, erroneous, error etc, wie Morrison selbst hinzufügt (Morrison Vol. II. Part. I p. 3. N° 35). Uebrigens ist auch hier wieder Verschiedenehit des Accents.

Herr Neumann sagt noch: "der Gebrauch von nai, als das Pronomen zweiter Person vertretend, bedarf keiner weitern Bestätigung." Freilich sagt Abel-Rémusat geradezu, dass es als solches vorkomme; dem Plane seiner Grammatik nach aber, konnte er nicht hinzufügen, dass diess sehr zweifelhaft sei. Der Stellen, in denen es in dieser Bedeutung vorkommen könnte, sind sehr wenige, und es ist noch sehr problematisch, ob man es wirklich so übersetzen darf; denn wenn auch einige Commentatoren es so erklären, so verwerfen andere diese Erklärung. Prémare, den Herr Neumann doch so gut kennen will, hat schon diese Bemerkung gemacht, wenn er sagt: "Volunt aliqui quod in libro Chouking naì sit pronomen 2 ae personae." (Prémare, Manuscr. des Herrn Ab. Rém. p. 355.)[b].

Noch ist zu bemerken, dass die Zusammenstellung von mit naì sehr viel Willkührliches hat, da das Eine ( naì) nur im alten Style vorkommt, und das Andere ( ) nur im neueren gefunden wird. Zwar trifft man es ( ) mehremal im Buche Chiking (Capitel Siaoja), aber das einemal heisst es beruhigen, pacare, und das anderemal bedeutet es viel. Und auch in diesen vom Lexicon Kangchi tse tien mitgetheilten Stellen, scheint es nicht ganz ächt zu sein, da das Schueven, das älteste und klassische Wörterbuch, es in dieser Bedeutung durchaus nicht erwähnt. Uebrigens ist es auch dann nicht dasselbe Wort, denn wenn es auch mit demselben Character geschrieben wird, so wird es doch nicht sondern ausgesprochen. Unter der Aussprache kommt es erst im Lexicon Kuangjün vor, das zur Zeit der Thang (d. h. zwischen 626 und 906 n. Chr. Geb.) und im Lexicon Jünchoei, das zur Zeit der Dynastie der Juen (oder Mongolen) verfasst wurde.

Eine solche Willkühr in der Zusammenstellung der beiden Style ist aber keineswegs thunlich, wenigstens bis man ihr gegenseitiges Verhältniss deutlich erläutert hat, und dann wird man noch die Geschichte eines jeden Wortes genau untersuchen müsse, um zahlreiche Fehler zu vermeiden, die sich sonst überall einfinden würden.

Herr Neumann irrt noch, wenn er behauptet, dass es Stellen gäbe, in welchen das naì in der Bedeutung von ille vorkämen. Die chinesischen Wörterbücher, welchen man in dieser Hinsicht blindlings Glauben schenken kann, erwähnen Nichts davon, wenigstens die drei, die ich eben vor Augen habe (Khangchi tse tien, Fourmont XI[c]; Phin tse thsien, Fourm. X[d] und Tse nguei, Fourmont I.[e]) Gewiss sind aber die Stellen, welche Herr Neumann anführt, ganz unglücklich gewählt. Beim Beleuchten der Schriften des alten Styls muss man sich nothwendig einerseits auf die Tradition stützen, andrerseits aber auf die Commentatoren, sowohl die alten als die neuen, welche letztere hauptsächlich durch die mandshuischen Uebersetzungen repräsentirt werden. Nun aber spricht die Tradition, welche im Lexicon Schueven (Fourmont VII[f]) zusammengefasst worden ist, durchaus nicht von einer solchen Bedeutung des Wortes naì; die alten Commentatoren aber übersetzen das naì im zweiten vom Herrn Neumann angeführten Beispiele durch eül (Rémusat § 224–236) oder tsĕ (§ 240) oder endlich durch Shan (§ 237); die mandshuischen Uebersetzer endlich, und somit die neueren Commentatoren geben es durch deni (dem deutschen dann, denn entsprechend), so dass klar hervorgeht, dass es nicht ille heisst, sondern vielmehr und dann, deswegen, ideo. Uebrigens ist auch die chinesische Construction gegen Herrn Neumanns Ansichtsweise.

Das dritte Beispiel ist ganz falsch übersetzt, und gut hätte Herr Neumann gethan, es wie Gaubil[g] zu geben, von dem er sagt, dass er es ganz anders aufgefasst hätte. Die Phrase fängt nämlich mit Schang, wenn, an, welches einen Nachsatz verlangt, der im Chinesischen stets durch eine Partikel, vornämlich durch tsĕ, eül, und Shan-chëu eingeführt wird. Hier ist es durch naì angegeben, das die alten Commentatoren durch tsĕ erklären. Die mandshuische Uebersetzung giebt es durch aintsi, welches im Amiotschen Lexicon durch cela serait-il ainsi? und s. w. im mandshuisch-chinesischen Wörterbuche aber (Fourm. CCCLXXXV[h]), so wie in der mandshuischen Grammatik Tsing ven khi meng (in Berlin) durch choĕ tschè, vielleicht, erklärt wird. Dieses choĕtschè aber führt den Nachsatz ebenfalls ein, und so hat Gaubil beide Erklärungen befolgt, als er übersetzte: on peut espérer etc.

Was das erste Beispiel betrifft, so muss ich allerdings gestehen, dass es sehr schwierig ist, und dass ich, selbst mit Hülfe der Commentatoren nicht hell sehen kann. Aber das Lexicon Phin tse thsien erklärt diese Stelle und sagt von naì: ki sse tchi thse: d. h. Wort, wodurch die Sachen (mit den früheren) verbunden werden. Es wäre nicht leicht auszumachen, was diess bedeuten soll, wenn das Wörterbuch nicht noch eine Stelle, ausser der fraglichen anführte, aus der klar hervorgeht, was es eigentlich will. Es ist der dritte Paragraph im Capitel Yao tien des Schuking (1es Buch das mit naì beginnt. Die zwei vorhergehenden Paragraphen enthalten allgemeine, mit dem folgenden in keiner Berührung stehenden Betrachtungen; auch sind diese zwei §§ gewiss späteren Ursprungs als die darauf kommenden. Der dritte Paragraph enthält der Anfang der Geschichte und fängt, wie gesagt, mit naì an. Ille kann es nicht heissen, da Nichts vorhergeht, worauf es sich beziehen könnte; die Commentatoren sagen, dass es eine Anfangspartikel sei, und es scheint klar hervorzugehen, dass es dem deutschen nun, und noch besser dem französischen or entspricht (welches letztere in Schriften des Mittelalters gerade so am Anfange gefunden wird, wie naì.) Und so muss denn das fragliche naì, welches vom angeführten Wörterbuche mit dem eben erläuterten naì in eine Kategorie gesetzt wird, eben auch durch nun oder or wiedergegeben werden. Doch ist, wie gesagt, die Stelle nicht wenig schwierig, und verdient reiflichere Ueberlegung.

Ew. Wohlgeboren werden mir gütigst verzeihen, dass ich mich über diese Sache so weitläufig ausgelassen; ich glaubte es aber thun zu müssen, um dem im Schreiben an Prof. Ewald ausgesprochenen Satze, dass H. Neumann kein Chinesisch verstehe, noch einen Beweis zu geben, und zu zeigen, dass ich es nicht mit Voreiligkeit ausgesprochen habe, da ja Alles, was er darüber gesagt, von fehlern |sic| wimmelt, oder vielmehr ohne eine einzige Wahrheit ist. So habe ich denn Alles beleutet, was Herr Neumann nur über Chinesische Sprache geschrieben, und das Erste wie das Letzte ist erfüllt mit Anmassung aber leer von Kenntnissen.

Ich werde Herrn von Humboldt Nichts über die in seiner Abhandlung eingeschalteten Bemerkungen des H. Prof. Neumann mittheilen, da es für ihn sehr unangenehm sein muss, auf solche Weise getäuscht worden zu sein. Ich habe ihm auch die Kritik gegen Herrn Neumann noch nicht geschickt, weil ich weiss, dass er jetzt nicht in Berlin ist; ich werde sie ihm aber zugleich mit einer Abhandlung über den politischen und religiösen Zustand der Chinesen, 2300 vor Chr. Geb. übersenden, von der ich auch Ew. Wohlgeboren gehorsamst ersuchen werde, ein Exemplar gütigst annehmen zu wollen. Ich würde Ew. Wohlgeboren unendlich verbunden sein, wenn Sie die Güte haben wollten, Herrn von Humboldt, falls er früher zurückkommen sollte, als ich glaube, den Grund dieser Verzögerung mitzutheilen, und ihm für seinen gütigen Brief[i] meinen innigsten Dank abzustatten.

Ich ersuche Sie, hochgeehrter Herr Professor, die Versicherung meiner grössten Hochachtung und Ehrfurcht gütigst annehmen zu wollen, und erharre |sic|
Ew. Wohlgeboren
ganz gehorsamster Diener
Heinrich Kurz.

Anmerkungen

    1. a |Editor| Dieser Verweis bezieht sich auf das Dictionnaire chinois, français et latin, 1813 herausgegeben von Chrétien Louis Joseph de Guignes. Guignes nutzte Arbeiten des italienischen Missionars Basile de Glemona (1648–1707), ohne dessen Namen zu nennen. – Die genannte Stelle befindet sich auf S. 169. [FZ]
    2. b |Editor| Die Notitia linguae sinicae von Joseph Henri de Prémare erschien erstmals 1831 im Druck. Das genannte Zitat befindet sich dort (leicht modifiziert) auf S. 180. [FZ]
    3. c |Editor| Diese Verweise beziehen sich auf S. 349ff. von Fourmonts Grammatica sinica, auf denen er einen "Catalogus librorum Bibliothecae Regiae sinicorum" gibt. Fourmonts Transliterierungen der Werknamen weichen von den von Kurz genannten Titeln ab. – Zum "Khangchi tse tien" siehe dort S. 361f. [FZ]
    4. d |Editor| Siehe dort S. 361. [FZ]
    5. e |Editor| Siehe dort S. 349–351. [FZ]
    6. f |Editor| Siehe dort S. 359f. [FZ]
    7. g |Editor| Antoine Gaubil (1689–1759), jesuitischer Missionar in China.
    8. h |Editor| Siehe dort S. 504. [FZ]
    9. i |Editor| Dieser Brief ist anscheinend nicht erhalten. [FZ]

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    Quellen

    Handschrift
    • Grundlage der Edition: Ehem. Preußische Staatsbibliothek zu Berlin, gegenwärtig in der Jagiellonen-Bibliothek Krakau, Coll. ling. fol. 49, Bl. 123–124
    Druck
    -
    Nachweis
    • Mueller-Vollmer 1993, S. 202

    In diesem Brief

    Werke
    Zitierhinweis

    Heinrich Kurz an Franz Bopp, 01.07.1830. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/400

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