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Johann Heinrich Plath an Wilhelm von Humboldt, 14.12.1827

Ich weiß nicht, wie ich die zuvorkommende Güte Ew. Excellenz erwiedern soll; nicht nur theilen Sie mir die größten Werke bereitwillig mit, sondern schicken mir auch ungebeten, was Sie nur irgend von einigem Interesse für mich glauben. Ich bin Ihnen sehr verbunden.

Die Abhandlung von Davis ist ganz unbedeutend, der Engländer führt bloß noch empirisch auf, was sich sehr leicht in seinen Gründen erkennen läßt. Da aber der Band noch einige andere interessante Sachen enthält, erlaube ich mir ihn noch einige Zeit zu behalten. Der Klaproth erfolgt dankend zurück[a]. Die Abhandlungen waren schon meist sonst gedruckt. Aus der Ihren Abhandlung[b] habe ich mir das Nöthige ausgezogen. Die meisten alten Bilder hatte ich schon; Es |sic| ist auch nicht das eigentlich, was ich will: Wenn, Ew. Excellenz, etwa einmal eine oder die andere der beigeschriebenen Nummern des De Guigne[c] vergleichen wollen, werden Sie sehen, es sind nicht die den jetzigen Characteren entsprechenden Alten, sondern andere, synonyme alte, die mit den jetzigen wenig oder nichts, als die Bedeutung gemein haben. So, sagt er, wurde Stern alt abgebildet  Sankskrit ; gut, aber mit dem jetzigen  Sankskrit hat das, wie Sie leicht sehen, nichts zu thun. Nun ist eine Sammlung von diesen alten Characteren dennoch – wenn sie nur vollständiger und sicherer wäre – immer von Nutzen, aber was ich will ist nicht eine Sammlung von beliebigen alten Characteren, die die Neuen gar nichts angehen, zu machen, sondern dem Ursprunge und der Bedeutung der jetzigen historisch nachzugehen, um so, mittelst des Verständnisses, ich möchte sagen, des Urdings, einzudringen in das Verständniß der Zeichen, und mittelst dieser, auch der Tonsprache. So wird das Erkennen nicht ein Abplagen mit unsinnigen Krakeln, sondern ein sinniges Erfassen und Verfolgen der Entwicklung des Gedankenganges eines großen Volkes.

Ein paar Beispiele mögen es erläutern.

 Sankskrit c. 151. teou vase de bois, ist so ein bloßer Krakel, ich kann nichts dabei denken. Ich setze mir das alte Bild hinzu:

 Sankskrit so erkenne ich leicht ein zweibeiniges Gefäß, und auch die Alteration ist mir erklärlich.

 Sankskrit c. 36. si obscuritas hat für mich gar keinen Sinn, ich setze nur das alte Zeichen darunter.

 Sankskrit nun ist Verstand darin. Wie  Sankskrit pi sol für Tag, steht Mond für Abend. Auch das Compositum bekommt Licht

 Sankskrit to heißt viel. Warum? Es ist eigentlich „Mond auf Mond“ „Abend auf Abend“ Die Bildersprache kann Abstracta nicht mahlen, sie mahlt sie concret, individuell

 Sankskrit chy heißt Generation. Warum? Es ist eigentlich Entsteltes |sic| Bild von  Sankskrit 3 mal 10 c. 21.  Sankskrit chi. 10. 30 Jahre machen eine Generation auch dem Chinesen. Den allmähligen Untergang zeigen noch die Varianten  Sankskrit bis zu  Sankskrit

Diese paar Beispiele können schon zeigen, worauf ich in diesem Theile meiner Untersuchungen hinaus will. Ich sollte nun noch zeigen, wie das Verständniß der Grundbilder auch ein Licht wirft auf das labyrinthische Gewirr der Composita, und die bunte Mannigfalt der Bedeutungen eines Worts der Tonsprache. Die Character |sic|  Sankskrit gäben mir einen sehr guten Beleg dazu. Aber es würde mich sehr zu weit führen. Ich führe deshalb nur an, daß z.B. chy  Sankskrit generatio aevum, tempus longum, sich nun zum Begriff longus, diu, multum etc erweitert und zB. altes chy.

+ c. 145 y
vestis
 Sankskrit vestislonga + c. 149. yen
verba
 Sankskrit dicomulta = verbosus
verba loquor
+ c. 152 tou
ou
 Sankskrit over – pass + c. 211 tchy
dentes
 Sankskrit dentes
multum = rumino
smando cr. mund|?|
+ c. 4. pin
homo
 Sankskrit homoprodigus

Ich denke das ist einfach und wahr. Oft sind die Bilder, so erfaßt, allerliebst|?| u man sieht, wie man mit Recht von einer Poesie der Schrift sprechen kann. Nehmen Sie nur einmal  Sankskrit chy sagitta = c. 111 + c. 22  Sankskrit fang coffer, receptacle wird  Sankskrit y, natürlich sagittarum receptaculum, sagittam recondere Nun noch c. 61.  Sankskrit sin cor hinzu  Sankskrit y sedatus, quietus (dite|?| composita) 2) mitis. Nun noch hinzu c. 38  Sankskrit niu mulier  Sankskrit y puella mitis et blanda Ist das nicht eben so poetisch ausgedrückt, als bei Horaz: Condito mitis placidusque telo?[d]

Und zu sehr dann brauchen wir gar keinen Beweis alter Bilder von Klaproth zu entlehnen. Indeß sind diese Bilder doch einzeln auch von Nutzen, wenn sie auch nicht gerade den jetzigen zum Grunde liegen. zB.

 Sankskrit tso familia, stirps 2, su junctura

2,  Sankskrit tso sagittae cuspis

3,  Sankskrit tso parvae arundines satspiss

4,  Sankskrit tso colligo, congrego, urgeo, comprimo, ist nur eine kleine Gruppe. Es soll Ihnen aber doch schwer werden, die wenigen Composita zu vereinigen. Das alte Bild hilft gleich. Was jetzt  Sankskrit war alt  Sankskrit beide haben nur die Sache gemein, aber es hilft doch: Es sollte  Sankskrit darstellen eine Lanze mit einer Fahne, wie es zum Beispiel die Lancia haben; daher nun + c. 167 Kin metallum c. 2, cuspissagittae. Nun Fahne für die zu einer Fahne gehören, sich um eine Fahne sammeln, wie ein Fähnlein Reiter. Daher 1) familia, stirps, junctura; und 3) viele so c. 3 + c. 118 *** arundines spiss** gleichsam eine Fahne ***, eine cohors. Endlich c. 4 + c. 64 Chow manus u alles was man mit d Hand thut – colligo, congrego, comprimo, so urgeo. Ohne das Urbild wäre es schwerlich so klar geworden.

Dies führt auf eine andere Bemerkung. Ich war schon früher darauf gekommen, aber die Beispiele bey Klaproth haben es mir recht anschaulich gemacht. Die Chinesische Schrift hat nämlich eine zwiefache Hauptveränderung erlitten.

Die eine, ich möchte sagen, eine formelle, wie oben, wo aus 30.  Sankskrit aus Mond  Sankskrit si  Sankskrit geworden ist, kann man eine Corruption, eine Entstellung zur Erleichterung des Schreibens nennen. Aber die andere, interessantere, ist diese, die materielle. Man könnte sie die Decomposition nennen. Zuerst nämlich haben sie eine Menge oft ziemlich complicirte Gegenstände gemahlt, ja man könnte fast sagen kleine Gemählde, wie die Aegyptischen Anaglyphen u Hieroglyphen und die Mexikanischen bei Ihrem Hrn Bruder oder noch besser bei Purchas (obwohl die Bilder herzlich schlecht da sind.) So um den Donner zu bezeichnen; So dachte man und mahlte den Donner oder eigentlich den Donnergott als auf Rollen im Zickzack daher fahrend  Sankskrit den Frühmorgen, als eine Sonne die sich eben erhebt  Sankskrit od  Sankskrit aus der Tiefe, oder wie eben, die Lanze mit einer Fahne  Sankskrit . Im Verlaufe der Zeiten, als die Schreibkunst zunahm, waren die natürlich zu weitläuftig, man mahlte nur mit einfachern Bildern, und zersetzte sie deshalb entweder, oder näher andern, einfachen. Von jener Art ist  Sankskrit statt Lanze mit einer Fahne zu mahlen, mahlt man jetzt Speer oder Lanze besonders c. 111  Sankskrit und Lappen, Stück Zeug, besonders dazu gesetzt: li to fang  Sankskrit , wie wir’s oben hatten;  Sankskrit . Von der 2ten Art ist Donner. Jetzt  Sankskrit offenbahr ein ganz anderes Bild: Regen über Feld p* accedens auch dann Donner bezeichnend; Eben so oben nicht mehr  Sankskrit Sterne, sondern jetzt  Sankskrit von c. 72  Sankskrit ji Sonne, Licht und c. 100  Sankskrit seng nasci, parturio etc etwa „Lichtgeber“ „Lichterzeuger“ So lesen sie ist sich die Aufgabe zu machen „die alten Chinesischen Zeichen zu sammeln vollständig“ ein reiner Unsinn, da sie zu unendlich verschieden gewesen zu verschiedenen Zeiten. Selbst von den Grundcharacteren der chinesischen Schrift im allgemeinen zu sprechen, möchte ich nicht, da die alten so verschieden, gar nicht recht alle zu ermitteln stehen. Was unserer jetzigen Schrift zum Grunde gelegen habe, die Aufgabe liegt näher. Hier aber muß man nicht beliebig alte Zeichen, die nur dasselbe etwa bedeuten zusammenstellen, sondern gerade die alten Zeichen aufsuchen, die den jetzigen entsprechen und zum Grunde liegen. Da findet man dann das überraschende Resultat, daß man auch die jetzigen Charactere ursprünglich aus Corruption der alten entstanden sind, doch in dieser Corruption selbst noch oft ein eigenthümlicher Sinn und Verstand liegt, aber so gut, als in den ganz neuen Bildern, wie  Sankskrit Ein Beispiel liegt nahe. Die Frühsonne, die sich aus dem Dunkel erhebt /2, auch mane/ mahlten die Alten, wie bemerkt ist,  Sankskrit . Jetzt ist das  Sankskrit Es ist gerne möglich, daß dieses zunächst nicht als eine Corruption und Entstellung vom J****bilde war, aber es ist jetzt auch selbst bedeutsam  Sankskrit ist sol prima von  Sankskrit ji sol u  Sankskrit y unus, primus So ist  Sankskrit y addo alt  Sankskrit eigentlich Wasser, viel Wasser od wiederhohlt in ein Gefäß schütten Es mag das jetzige  Sankskrit ursprünglich bloß Corruption davon sein, aber hier ist sie bedeuthen  Sankskrit ist c. 11 yi intro also wiederhohlt hineintretend, hineinfließend ins Gefäß.

Doch ich habe, Ew Excellenz, schon zu lange mit meinem Geschwätze aufgehalten. Nur noch eins. Ich möchte Ew Excellenz gerne wieder eine kleine Gefälligkeit erzeigen; und da ich glaube, daß Sie (Youngs) Hieroglyphics noch nicht gesehen, lege ich ein Heft von meinen aegyptischen Sachen bei[e] – Es enthält daraus voran, die Rosetta mit der Linearübersetzung. Sie ist zwar nur conjectural, doch giebt der sogenannte hieroglyphische Text, manches, was wol ziemlich sicher ist, und im Demotischen Theile ist manches aegyptische Wort wie ⲃⲁⲕⲓ Stadt ⲉⲣⲑⲉⲓ Mangel etc auch leicht erkenntlich. Hinten ist aus derselben Sammlung der berühmte Papyrus von Casati mit der sogenannten griechischen Apographe von Grey[f]. Ich sage sogenannt, denn ich kann mich noch immer nicht überzeugen, daß es mehr als ein bloß ähnliches Document ist, nämlich eine Uebersetzung.

Mit der größten Hochachtung
Ergebenst
Plath.
Berlin d. 14 Decbr 1827[g]


Ew Excellenz
Hrn Staatsminister
W. v. Humboldt

Anmerkungen

    1. a |Editor| Dabei dürfte es sich um Heinrich Julius Klaproths Supplément au Dictionnaire chinois-latin du P. Basile de Glemona handeln; vgl. Schwarz 1993, S. 40 Nr. 294. [FZ]
    2. b |Editor| Es ist unklar, welche der Abhandlungen Humboldts zum Chinesischen gemeint ist: entweder "Ueber den grammatischen Bau der chinesischen Sprache", eine bis zu Leitzmanns Herausgabe der Gesammelten Schriften unveröffentlicht gebliebene (und heute verschollene) Abhandlung, die in der Klassensitzung an der Akademie der Wissenschaften vom 20. März 1826 vorgetragen wurde (ehem. Preußische Staatsbibliothek, Coll. ling. fol. 104); oder die Lettre à M. Abel Rémusat, unter deren Materialien in Coll. ling. fol. 17 (heute in Krakau) sich dieser Brief befindet. [FZå]
    3. c |Editor| Gemeint ist damit das 1813 im Auftrag von Napoleon erschienene Dictionnaire chinois, français et latin von Chrétien Louis Joseph de Guignes, das auf dem (ungedruckten) Wörterbuch des Basile de Glemona beruhte. [FZ]
    4. d |Editor| Horaz, Carmen saeculare.
    5. e |Editor| Die erst 1829 in Göttingen bei Dieterich erschienene Dissertation Quaestionum Aegyptiacarum specimen kann nicht gemeint sein; frühere Publikationen Plaths gibt es nicht; vgl. Hartmut Walravens (2003): Schriftenverzeichnis von Johann Heinrich Plath (1802–1874): Sinologe, Ägyptologe und Historiker. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 153 (2), S. 417–441. [FZ]
    6. f |Editor| Zu diesem Papyrus in Paris (abgebildet in Thomas Youngs Hieroglyphics, Taf. 31 und 32) und dem "Antigraphum" (ebendort Taf. 33) siehe die Rezension von Johann Gottfried Ludwig Kosegarten in der Allgemeinen Literaturzeitung vom Juli 1825 (Nr. 160/161, Sp. 441–447, 449–453) sowie die Webseite der Bibliothèque Nationale in Paris. [FZ]
    7. g |Editor| Bei Mueller-Vollmer 1993, S. 159 auf den Juli (!) datiert. [FZ]
    Zitierhinweis

    Johann Heinrich Plath an Wilhelm von Humboldt, 14.12.1827. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/442

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