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Wilhelm von Humboldt an Jens Immanuel Baggesen, 21.06.1804

Rom, den 21. Junius, 1804.

Da Sie mir erst zweimal geschrieben haben, mein lieber Baggesen, so kennen Sie unstreitig meine Eigenthümlichkeit u. Manier noch nicht. Wo ich nicht von Geschäften zu reden habe, die gleich abgemacht werden müssen, und wo ich mich gern nach Herzenslust frei ausspreche, wozu Stimmung gehört, da bin ich manchmal sehr zögernd im Antworten, aber ich antworte gewiß, u. es ist kein Beispiel, daß ich einmal nicht geantwortet hätte, nicht einmal daß ich oder der andre darüber hingestorben wäre. Auch nehme ich mir bei jedem späten Antworten Besserung vor, u. oft halte ich doch Wort. Das zur Vorrede.

Wenig Briefe nun mußten mich so zu einer Antwort reizen, als Ihr letzter, der zwei Dinge betrift, die mich über alles interessiren, Sie und die Deutsche Literatur, zwei Dinge, die überdies so nah verwandt sind, da der unpartheiische Würdiger die letztere nicht ohne Sie nennen wird.

Ich glaube Sie haben den richtigen Gesichtspunkt über Literaturen aufgefaßt. Ihre Dauer ist ganz, aber auch bloß durch die Sprachen begränzt, die nicht Instrumente, sondern lebendige Wesen sind, die sich nach und nach verknöchern und absterben.

Nur darin bin ich nicht mit mir einig, ob es ein Mittel giebt, einer ewig währendes Leben zu sichern, ob man sie erneuern kann, indem sich die Geschlechter erneuern, oder ob jede eine durch sie nicht aufhaltbare Tendenz zum Untergange hat?

Auch möchte ich nicht aus dem noch Ungebildeten und Ungeschiedenen in der unsrigen schließen, daß sie noch lange vom Ziel entfernt sey, mancher siecht auch jung hin, und ich sehe n icht recht ab, wie in Deutschland die Sprache noch jetzt mit wahrer Kraft sprießt und quillt. Das könnte sie nur bei großem Antheil der Nation an dem Bemühen der Künstler, bei großer Lebendigkeit von unten auf, an der es am meisten fehlt. Die ganze Frage scheint mir auf Einen Punkt hinauszukommen. Unsre ganze Literatur arbeitet schlechterdings nicht für die große Masse, die an ihr sogar wenig Antheil nimmt, sondern m ehr oder weniger für die, die selbst halb oder ganz thätig in ihr sind. Können diese die Nation ersetzen, so geht es gut, sonst ni cht.

Ich muß aber erklären, was ich meyne, wenn ich sage: Nation ersetzen. Alles geht schlimm in der Welt, wenn an die Stelle der Naturkräfte die künstlichen treten.

Im einzelnen Menschen geschieht das, wenn er glaubt, mit sich fert ig zu seyn, wenn alle seine Ideen und Gefühle ihren Zuschnitt haben, wenn die Phantasie selbst vielleicht gar habituell einen Gang angenommen hat, wenn er nicht mehr Geburten der Einbildungskraft in sich bemerkt, Blitze des Gefühls, Richtungen des Willens, die ihn selbst überraschen, wenn er nur das Uhrwerk seines ehemaligen lebendigen Individuums geworden ist, was leider am Ende vielleicht jeder wird; serius, ocius; und worüber sich zuletzt, eigentlich zu aller Vernünftigen Freude, der Tod erbarmt.

Der gebildete Theil einer Nation ist in diesem Fall, wie ein Individuum, und er nimmt gerade denselben Gang. Frankreich mag vielleicht jetzt schon dahin gekommen seyn, und sagen Sie mir selbst, würde es Ihnen sehr leid tun, wenn in Frankreich nie mand mehr dichtete? wenn die Literatur feierlich ins Pantheon getragen würde? Mir kaum.

Für das Volk giebt es keine solche Periode. In ihm sind, wie in jedem Menschenhaufen, die Naturkräfte immer rege, und es hat noch n icht gelernt (und lernt es nie) sie in die Tasche zu stecken, sobald es eigentlich seine Existenz und sein bessres Ich genießen will, wie die gebildeten Stände es thun. Daher bleibt die Volkssprache gleich energisch, gleich originell, gleich fruchtbar für den, der darin zu suchen weiß.

Dies immersprudelnde Leben hilft aber dem gebildeten Theile wenig oder nichts, wenn er entweder die Kluft zwischen sich und dem Volke bestehen läßt oder das Volk, wie man wohl gern zu wünschen pflegt, zu sich aufzieht. Er hat nun keine Masse mehr, an der er sich elektrisiren kann, und wird nüchtern und kalt.

Schöpft er endlich einmal unter sich, so mißfällt er eigentlich allen, und zieht nur den an, welchem Sehnsucht nach Naturlauten noch nicht fremd geworden ist. So ist es mit Rétif de la Bretonne in Frankreich gegangen.

Alles kommt also nur darauf an, daß die, welche an der Literatur mit Ernst Theil nehmen, eine hinlänglich große Masse ausmachen, um aus sich selbst Kraft und Leben zu schöpfen, und daß sie in sich die reinen natürlichen Gefühle und Ausdrucksarten des Volks nicht untergehn lassen. Beides kann in Deutschland der Fall seyn und darauf beruht meine Hofnung. Deutschland ist, wenn nicht der neue Kaiser noch mehr abreißt, groß genug, um daß auch bloß die Gebildeten eine Art Nation ausmachen; die Tendenz nach Wahrheit und Einfachheit in Gefühlen wird durch Lesen der Alten und andre Umstände genährt, und schöpfen wir Kraftausdrücke auch weniger aus dem Munde des Volks, so entlehnen wir sie doch noch aus den älteren, dieser Quelle näheren Schriftstellern. Nur schadet auch das gerade recht volksmäßig seyn sollende Romantische, weil es eigentlich nur abentheuerlich ist, und das aller Derbheit feindgesinnte idealisirende Wesen, das die Sprache lieber aus buntem Aether zusammenweben möchte.

Ihnen kann ich es nicht verdenken, daß Sie nicht auf deutschem Boden Ihre Unsterblichkeit suchen wollen; niemand sollte das eigentlich auf fremdem. Aber unterlassen müssen Sie darum nicht, Deutsch zu dichten; denn auch was man nicht sucht, kann man finden, und als Uebung der Geistesgewandtheit ist es allemal wünschenswerth.

Ich wundre mich nicht, daß Sie über Ihre Parthenäis kein eigentliches Urtheil gehört haben, es ist auch sehr schwer eins zu fällen, und der Grund, glaube ich, liegt darin, daß es dem Ganzen an Einheit der Stimmung fehlt. Sichtbares poetisches Talent kann dem Gedichte niemand absprechen, und jeder wird in einzelnen Stellen auch bei weitem mehr als das bloß finden. Aber es ist, und zu schneidend neben einander, komisch und erhaben, scherzhaft und rührend, und vielleicht sind nicht alle diese Dinge gehörig in einander verschmolzen. Es bringt die Wirklichkeit, das Phantastische und das Idealische zu nah an einander. Einzelne Stellen, die Schilderung des Schwindels, die Scene in der Höle sind unübertreflich, aber sie knüpfen sich nicht immer recht mit den übrigen zusammen.

Hiervon, glaube ich, liegt die Schuld in einem gewissen Misverhältniß unsrer Sprache, oder vielleicht unsres Tons, zu Ihrem doch vom unsrigen abweichenden Nationalcharakter. Sie haben einen andern Rhythmus der Einbildungskraft und des Gefühls; Sie verbinden schneller, springen weiter über, verwandeln uns für unser Gefühl die Natur manchmal in eine Feenwelt, tragen mit Einem Wort zu viel Witz in die Poesie über. So oft hätte ich Ihnen nicht mehr Gehalt (denn an Gehalt fehlt es Ihnen nie) sondern nur mehr Ballast gewünscht um sie tiefer zu halten, und jenen ruhiger sehen zu lassen. Sie haben für unsern ruhigen (wenn Sie wollen) schwerfälligen Gang zu viel Elasticität. Die Dänische Sprache, höre ich, soll viel mehr zu diesem Gange geeignet seyn und so begreife ich, wie Sie auf denselben kommen. Die Deutsche Poesie erhält dadurch manchmal, wie ich Ihnen oft sagte, einen ganz eignen, obgleich immer fremden Reiz, allein dem Epischen ist diese Stimmung gefährlich.

Dazu kommt nun noch die Schwierigkeit, die jedes komisch epische Gedicht hat. Ueber diese Gattung existieren weder Idee noch Beispiele. Bisher hat man bloß die Parodie der Epopee darunter verstanden. Unstreitig gäbe es auch ein komisches Epos, was der Komödie gliche, die auch keine Parodie der Tragödie ist. Aber wo ist ein Beispiel? Das Einzige allenfalsige wäre Göthes Reineke Fuchs. Sie, scheint es mir, sind, und es war nicht anders möglich, oft auch zwischen der Parodie der Epopee und dem bloß nicht pathetischen Epos schwankend geblieben, und auch diese Ungleichheit thut vielleicht dem Ganzen Schaden.

Hier, lieber Freund, haben Sie ein Urtheil und ein recht aufrichtiges; zu aufrichtig konnte es gegen Sie nicht seyn. Sagen Sie mir bald selbst, was sie davon denken, denn jeder beurtheilt doch am Ende sich selbst am besten. Aber hören Sie nicht auf, Deutsch zu dichten. Lassen Sie Sich in zwei Sprachen lesen, das ist alles, was ich wünschen muß.

Meine Frau werden Sie jetzt schon gesehen haben. Wie gern wäre ich bei Ihnen! Oder hätte Sie in Rom? Kommen Sie nie? – Moltke ist auch gegangen. Recht wider Willen, ohne die Frau wäre er vielleicht geblieben, und es hätte ihm besser gethan. Was macht er in Holstein? Selbst seiner Poesie wäre Italienischer Himmel günstiger gewesen.

Von Herzen adieu! Lassen Sie bald von sich hören! Ihr
H.

Über diesen Brief

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Quellen

Handschrift
  • Kopenhagen, KB, NKS 2252 - 4° I. A. 2, Nr. 1703
Druck
  • Grundlage der Edition: Leitzmann 1935a, S. 21–25
Nachweis
  • Mattson 1980, Nr. 1083
Zitierhinweis

Wilhelm von Humboldt an Jens Immanuel Baggesen, 21.06.1804. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/521

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