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  3. Nr. 543

Wilhelm von Humboldt an Jacob Grimm, 08.07.1827

Ich fühle mich ordentlich strafbar, Ew. Wohlgebornen gütigen Brief, der nun schon ein volles Jahr bei mir liegt, erst heute, und auch heute, da ich im Begriff stehe, eine Reise einiger Monate anzutreten, viel kürzer, als ich wünschte, zu beantworten. Ich wartete aber immer ab, Ihnen eine kleine Schrift, deren Druck schon damals im Werke war, zugleich zu überschicken.

Der Gedanke eines Compositionsvocals spricht mich sehr lebendig an. Man dürfte ihn vielleicht vorzugsweise in Sprachen erwarten, die nicht gewohnt sind, fast überall den Endbuchstaben eines Worts vom Anfangsbuchstaben eines andern afficiren zu lassen. Allerdings aber bleibt in Sprachen, welche die Grundform nicht eigen aufstellen, immer zweifelhaft, ob dieser Vocal nicht dieser angehört. Der Flexion sprechen Ew. Wohlgebornen diesen Vocal ganz ab, und ich trete Ihnen darin vollkommen bei, wenn Sie von eigentlichen Flexionslauten reden. Aber die Flexionslaute bedürfen oft auch eines vermittelnden Vocals, u. wie nun wenn dieser derselbe, als der in der Composition wäre? Die wirklich dem Wort zufügende Flexion bleibt immer, welches System man über sie annehmen möge, eine Art der Composition. So kann ich in οἰκ-ο-δομέω doch nicht οικο für die Grundform ansehen, u. auch nicht als Nominatif |sic| Zeichen. Erstere scheint mir nur οικ, letzteres nur σ, o ist in beiden Fällen Anfügungsvocal.

Ew. Wohlgebornen kennen nunmehr gewiß unseres gemeinschaftlichen Freundes Bopp Anzeige Ihrer treflichen Grammatik.

Ich bin sehr begierig zu hören, wie Sie über die darin hauptsächlich berührten Punkte denken. Mich hat vorzüglich das darin über den Ablaut und das Guna Gesagte interessirt, ich muß aber gestehen, u. habe darüber mit unserm Freunde selbst viel verhandelt, daß ich ihm darin nicht beitreten kann. Ich halte Ablaut und Guna, u. hierin weiche ich auch von Ew. Wohlgebornen ab, für zwei verschiedene u. wenigstens nur entfernt verwandte Erscheinungen. Dagegen besitzt das Sanskrit eine andre Vocalveränderung, welche dem Ablaut mehr gleich kommt, nemlich diejenige, durch welche z. B. aus man im reduplicirten Praeteritum mene[a] wird. Schon im Sanskrit möchte ich bezweifeln, daß das Guna von der Leichtigkeit der Endsylben herrührte. Es sind so wichtige Instanzen dagegen, daß der Ausnahmen von der angeblichen Regel zu viele werden. Allein nie würde ich mich dazu verstehen können abzuläugnen, daß im germanischen Ablaut ein ursprüngliches tiefes u. schönes grammatisches Gefühl liegt, u. daß er nur diesem seinen Ursprung verdankt. Mehrere sanskritische Sprachen besitzen Aehnliches, aber so schön, so rein, so systematisch, als die germanischen, keine, u. es geschieht ja auch sonst, daß unter ganz verwandten Sprachen eine etwas dem Stamm nicht Fremdes, aber doch ganz Eigenthümliches besitzt.

Ich füge diesen Zeilen eine kleine, beinahe zur Streitschrift gewordene Schrift über den Bau des Chinesischen hinzu. Es wird Ew. Wohlgebornen doch vielleicht interessiren, von einer Sprache näher zu hören, die gewissermaßen aller Grammatik entsagt. Ich bin jetzt mit den Südseesprachen beschäftigt, die sich an das Chinesische, obschon viel grammatischer, gleichsam anschließen. Die sanskritischen Sprachen sind, meiner Kenntniß nach, die vollkommenst grammatischen. Außer ihrem Kreise giebt es aber eine Anzahl von Sprachen in denen es gleichsam sichtbar ist, daß die in allen Menschen gleiche Grammatik hat in sie hinabsteigen wollen, daß sie aber Schwierigkeit gefunden, darin Platz zu gewinnen. In dem Kreise dieser Sprachen bewege ich mich für jetzt, da ich für den Augenblick niemand kenne, der gleiche äußere Hülfsmittel dazu besäße, und da dies Feld bisher sehr verkehrt behandelt worden ist. Die sanskritischen Sprachen dagegen, deren Bearbeitung freilich schwieriger, edler, belohnender u. verdienstlicher ist, erfreuen sich in Ihnen, Bopp, Schlegel, der eigentlichen Hellenisten nicht zu gedenken, so treflicher Bearbeiter, daß es Anmaßung wäre zu glauben, daß man auf diesem Gebiete nöthig seyn könnte. Ew. Wohlgebornen müssen aber darum nicht glauben, daß ich mit geringerem Interesse Ihre Grammatik studirte. Ich kehre, obgleich jetzt meine Augen mir dabei einige Schwierigkeiten verursachen, immer u. um so mehr zu derselben zurück, als ich bedauern muß, in frühern Jahren gerade den germanischen Sprachen nicht genug Zeit gewidmet zu haben. Es ist meine innigste Ueberzeugung, daß es ein wahrhaft unsterbliches u. einziges Werk ist, so sehr daß das Ausland, Frankreich u. England, noch nicht einmal einen Begriff von einer solchen Bearbeitung einer Sprache haben. Nur Dobrowsky’s Arbeiten können, meinem Gefühl nach, einigermaßen damit verglichen werden. Möge Ihnen der Himmel Gesundheit u. Muße schenken, dies wirklich große Werk zu vollenden.[b]

Mit der herzlichen Verehrung der Ihrige
Humboldt.
Tegel bei Berlin, den 8. Julius, 1827.

Anmerkungen

    1. a |Editor| Leitzmann 1929, S. 205: „mamn“.
    2. b |Editor| Jacob Grimm veröffentlichte bis 1837 noch zwei weitere Bänder der 2. Auflage der Deutschen Grammatik (Göttingen: Dieterich, Bd. 1: 1822, Bd. 2: 1826, Bd. 3: 1831, Bd. 4: 1837). [FZ]
    Zitierhinweis

    Wilhelm von Humboldt an Jacob Grimm, 08.07.1827. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/543

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