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  3. Nr. 564

Wilhelm von Humboldt an Friedrich Heinrich Jacobi, 26.10.1798

Paris den 26sten October 1798.

Das Stillschweigen, das Sie seit nunmehr beynah zwey Jahren gegen mich beobachten, hat mich tief geschmerzt, liebster Freund; ich habe es um so stärker empfunden, als unser schönes Beysammenseyn in Wandsbeck mich durch den ungestörten Genuss Ihres täglichen Umgangs verwöhnt, u. mir auch für die Folge die Hoffnung eines minder unterbrochenen Briefwechsels eingeflösst hatte. Monate sind es, dass ich mir vorgesetzt hatte, es zu brechen, aber immer ist mir bey der Ausführung irgend ein Hinderniss dazwischen gekommen. Ich wünschte Ihnen mit irgend einem Reisenden zu schreiben, u. versäumte unglücklicher Weise die Gelegenheiten, die sich mir dazu zeigten. Ich eile um so mehr jetzt die zu benutzen, die sich mir eben darbietet.

Sie wissen längst, dass ich mich seit fast einem Jahre hier aufhalte; vielleicht haben Sie auch durch Stienchens Briefe an ihre Mutter u. ########[a], wenn er Gelegenheit gehabt hat Sie zu sehen, etwas Näheres über unsere Art zu leben erfahren. Sie kennen mich zu sehr, um nicht zu wissen, dass ich nicht leicht aus dem Kraise |sic| von Gedanken u. Beschäftigungen heraus gehe, in den ich mich einmal festgesetzt habe. So ist es mir auch hier gegangen. Mein Nachdenken u. meine Thätigkeit haben sich auch hier so ziemlich um dieselben Gegenstände herum gedreht, die mich in Deutschland beschäftigten; ich habe mich viel u. genau um Frankreich u. seine jetzige Lage bekümmert, aber ich bin darum schlechterdings nicht aus meiner eigenthümlichen Assiette herausgekommen; ich bin vielmehr mitten in Frankreich nur ein noch viel eingefleischterer Deutscher als vorher geworden. Der Umgang mit einigen deutschen Freunden, die ich theils hier fand, u. die theils nach mir hier angekommen sind, hat viel dazu beygetragen, u. wie viel hätte ich nicht um die Freude gegeben, Sie manchmal bey einigen dieser Unterredungen zu sehen, wo gerade die Dinge abgehandelt wurden, die auch Ihnen die nächsten u. liebsten sind.

Das schlimmste Bild von Paris wird Ihnen Baggesen (den ich Sie herzlich von mir zu grüssen bitte) entwerfen. Sie haben unstreitig einen Brief von ihm an Sieveking gelesen, in dem er es als eine wahre Hölle, u. zwar nicht wie eine Miltonsche oder Klopstockische, sondern so, wie sie in einer Französischen Epopee seyn würde, matt, schaal, u. langweilig beschreibt. Auch hat er, wie Sie gewiss auch schon wissen, seinem Sängerberufe wahrhaft getreu, wie ein anderer Orpheus eine Euridice hier zu entführen getrachtet, u. wird, wie er mir beym Weggehn sagte, das Abentheuer im Junius ganz vollenden, wo ich ihn hier wiederzusehen denke, wenn ich nicht indessen auf meinem Büssungswege in die Unterwelt (denn das sonnige Licht ist doch nur in Deutschland oder Dännemark) weiter vorgerückt bin. Nach der Beschreibung unseres Freundes bedarf man in der That einer Entschuldigung, wenn man so lange hier bleibt, als ich mich jetzt hier aufhalte.

Wenn man die Sache mit philosophischen Augen betrachtet, so befindet sich diese Nation allerdings in einer sonderbaren u. bedenklichen Lage. Ich rede jetzt nicht von den Umständen des Tages, nicht von dem Missklange, der zwischen der Verfassung, wie manche sie sich denken oder träumen, u. dem Geiste u. dem Charackter der Nation, wie er noch wirklich ist, nur zu sehr bemerkt wird; nicht von der angeblichen Sittenverderbniss, über die so viel u. laut geschrieen wird. Vieles von diesem ist lange nicht so arg, als man es gern machen möchte; wenigstens nicht schlimmer, als an manchem andern Ort; u. wenigstens sind dies wie es mir vorkommt, nur Nebenfolgen eines ganz andern u. bey weitem schlimmeren Uebels, das ungleich älter ist; das die Revolution freilich nicht geheilt, aber auch war lich nicht hervorgebracht hat; das durch sie nur jetzt klarer ins Auge fällt.

Jede Nation nemlich, wie jeder Mensch überhaupt, braucht, dünkt mich, eine innere Triebfeder, eine lebendige immer rege Kraft, aus der sich seine höhere Thätigkeit, sein eigenthümliches Daseyn entwickeln kann. Ein solches inneres Princip des Lebens vermisse ich in dieser Nation; u. gerade weil ich dies wahrhaft heilige Feuer, das allein die Menschheit zugleich läutert und nährt, mehr als irgendwo sonst in der deutschen Nation antreffe, so wächst dadurch, wie ich nicht läugne, meine tiefe Achtung, u. meine innige Anhänglichkeit für sie.

Die Erscheinung, die sich einem anitzt am häufigsten aufdrängt, ist Mattigkeit u. Schwäche. Nirgends sieht man Energie, Feuer u. Leben. Ich rede hier nicht von den äusseren Begebenheiten, sonst würde viel gegen mich sprechen; aber da können einzelne Umstände und einzelne Menschen entscheidende Impulse geben, ich rede überhaupt nicht von der politischen Stimmung, ich beschränke mich bloss auf das was eigentlich national ist, auf den Gang der Meynungen und des Geistes, die Bildung des Karakters, die Sitten u.s.f. und hier ist jener Ausspruch nur zu wahr –.

Nur ein Theil der Wissenschaften macht merkliche Fortschritte; gerade aber der, welcher den Menschen am nächsten liegt, der eben auch eine höhere Spannung des Geistes und Gefühls erheischt, die Philosophie in allen ihren Theilen liegt und schlummert ganz und gar; die Poesie macht bloss einige schwache und meist vergebliche Anstrengungen, ihrem längst erreichten Maximum nur wieder irgend nahe zu kommen; in der Kunst zeichnet sich nur wenig aus; der Gesellschaft mangelt das bessere Leben, das Interesse des Geistes und Herzens; und selbst den öffentlichen Vergnügungen fehlt es an Raschheit und Mannichfaltigkeit, sie sind oft einförmig und langweilig, und selbst der verschrieene Luxus ist für die Masse der Menschen, die hier zusammengedrängt sind, nicht weit her; wenn er die Eitelkeit derer befriedigt, die ihn zeigen, so giebt er dem Zuschauer verhältnissmässig nur immer wenig zu bewundern oder zu belachen.

Grösstentheils ist diese Stimmung unstreitig eine Folge der Begebenheiten der leztverflossenen Jahre, und der jezigen Lage. Die Revolution hat viel zu sehr nur physisch gewirkt; die Schreckens Zeit hat mit ihrem eisernen Arme Frankreich in eine starre Betäubung versenkt, von der die Folgen nur noch zu sehr fühlbar sind; die Dauer des Kriegs hat auch das ihrige gethan, und selbst die oft noch schimmernde und doch immer verzögerte Hoffnung des Friedens ist hierinn verderblich. Man erlaubt sich eher die Hände in den Schoos zu legen, wenn man eine Epoche, die freylich zur Begünstigung aller Thätigkeit nothwendig ist, in einer gewissen Nähe vor sich sieht. Grossentheils ist also jene Erscheinung nur zufällig, und vorübergehend. Aber zum Theil ist sie auch, glaube ich, tief in dem Karakter der Nation gegründet, und diess muss der Philosoph ausspähen, wenn er über die Gegenwart hinausblicken will –. Der Mensch rückt nicht wahrhaft weiter fort, wenn er nicht Ideale vor Augen hat, wenn nicht die Ideen des Guten, Wahren, und Schönen in andern und höhern Bildern, als die uns täglich im bloss logisch Richtigen, Nüzlichen und Gefällig Harmonischen begegnen, vor uns stehen. Diese Ideale, der Blick auf sie, das was man, wie ich neulich irgendwo las, sehr gut Echappées ins Unendliche nennen kann, fehlt den Franzosen. Zwar nimmt ihre Einbildungskraft allerdings auch einen ähnlichen Flug; aber eben weil es bloss die Phantasie ist, die dahin gelangt so bleibt es gehaltleer, und man vermisst den innern Sinn, der ein lebendiger Zeuge ist, dass jene erhabnen Urbilder nicht übermenschliche Fremdlinge sind, sondern in dem Innern des menschlichen Busens wohnen, aus dem sie auch abstammen. Man vermisst die tiefe Energie des Geistes, die, durch wahre aber innere Erfahrung bereichert, nicht bloss Verhältnisse von Begriffen, sondern wahres Daseyn entdeckt; man vermisst den grossen bildenden Sinn, durch welchen der ächte Dichter die Natur auffasst und darstellt; man vermisst endlich, und diess natürlich am schmerzlichsten, das reine sittliche Gefühl, das, auf den strengen Begriff der Pflicht bezogen, den erhabenen; auf das begeisternde Bild einer hohen und idealischen Menschheit, den schönen und edlen; und in beyden Fällen, den uneigennüzigen Tugendhaften bildet.

Wenn es möglich wäre, diesen Ausspruch in schneidender Strenge zu verstehen, so wäre er das thörichtste Verdammungsurtheil, das der Stolz eines Menschen über eine Nation aussprechen könnte. Allein so können Sie, mein Lieber, mich nicht misverstehen. Es ist keine Frage und braucht nicht einmal erwähnt zu werden, dass jene, die Hauptenergien des menschlichen Gemüths, in einer Nation, die, als Masse betrachtet, und gerade durch ihre Natur Anlagen, so grosse Achtung und Bewunderuug[b] verdient, thätig und mächtig seyn müssen, und selbst wenn man, was doch immer noch sehr übertrieben wäre, den Franzosen abläugnen wollte, dass sie zur wahren Philosophie, Poesie und Sittlichkeit auf der eigentlichen und ächten Bahn gelangten, so könnten sie noch immer andere gleichfalls zum Ziele führende Wege dahin einschlagen. Was ich meyne ist eigentlich nur das, dass die Richtung ihrer Kultur, nicht bloss ihrer geistigen Thätigkeit einen gerade vom Ziel abführenden Weg anweist, sondern auch die Quellen selbst verunreinigt, aus welchen sie entspringt; dass sie, sobald sie über diesen Gegenstand, die nothwendige Art der Bildung, raisonniren, geradezu demjenigen widerstreben, was sie allein aufsuchen sollten, und dass (diess ist der härteste Theil meiner Anklage) in dem gesammten Schaz ihrer Litteratur (die doch immer als die Darstellung des gesammten Gedankensystems die richtigste Quelle der Kenntniss einer Nation, besonders einer so hoch kultivierten, bleibt) kein einziges Denkmal vorhanden ist, aus dem sich ein entschiedenes Streben nach tiefer Philosophie, ächter Poesie, oder erhabener und idealischer Sittlichkeit in vollkommener Reinheit, und ohne allen Zusaz irrdischer Schlacken, (wenn Sie mir den Ausdruck erlauben) erweisen liesse.

Die ursprünglichen Naturkräfte stehen also bey dieser Nation mit der Cultur nicht nur, wie überall, in einem Streit, sondern auch in einem solchen, der nothwendig mit der Niederlage des einen beyder Theile endigen muss, und für den es keine Schlichtung in einer kultivierten Natur giebt. Denn was jene als ihre freyeste Thätigkeit ansehen müssten, verwirft diese unerbittlich als Schwärmerey und Wahn. In diesem Streit müssen aber nothwendig die ersteren unterliegen, da endlich doch immer die Form und der Gedanke siegen, und alles, wie stark es auch sey, untergehen muss, das keinen intellektuellen Ausdruck zu finden vermag. Sie werden um so leichter unterdrückt, als die Französische Natur mehr gesund als derb, mehr leichtgestimmt als kraftvoll ist, und als diese Nation eine so wunderbare allgemeine Bildungsfähigkeit besizt, dass die Kultur, wenn sie einmal schädlich wirkt, auch weit allgemeiner schadet als bey ihren Nachbarn.

Darum scheint es mir in der That wahr, dass das innere und bessere Leben hier meistentheils zerknikt wird; und weil es schon viele Generationen hindurch dieselbe Operation erfahren hat, nun auch wirklich schwächer entglimmt, da der Mensch gerade da niedergedrückt wird, wo er anfängt emporzustreben. Darum erfahre ich auch hier fast das Gegentheil von dem, was ich in Deutschland fühle. In Deutschland vergisst man gerne die Masse, um bey einigen Individuen stehen zu bleiben; hier, so achtungswerth auch viele Einzelne sind, flüchtet man sich doch gerne zu diesem wirklich bewundernswürdig sanften, guten und verständigen Volke hin. In Deutschland lebe ich lieber in der Zukunft als in der Vergangenheit (denn mit der Gegenwart ist man doch in der Regel nirgends zufrieden), hier verweile ich am liebsten in dem vorigen und selbst der lezten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts. Denn wenn man von französischer Kraft spricht, so findet man sie in der That nur da eigentlich noch versammelt.

Es giebt hier jezt mehrere gute Köpfe, die sich mit Eifer mit Metaphysick beschäftigen, die auch ein grosses Verlangen haben, die Kantische zu kennen. Aber der wahre Zeit Punkt einer Revolution in diesem Fache ist noch lange nicht gekommen. Ob sie gleich ihre Philosophie selbst mangelhaft finden, so sind sie doch mit dem Wege, auf den sie Condillak |sic| gebracht hat, vollkommen zufrieden, und halten ihn für den einzigen wahren. Sie wollen nichts als Analytiker seyn, und verdrehen und verschlichten jeden Gegenstand, dem sich nun einmal nicht durch Analysis beykommen lässt; und für die Analyse selbst fehlt ihnen die nothwendige Strenge und Schärfe. Sie haben Ein ungeheures Schreckbild: angebohrene Ideen; und dafür muss alles gelten, was in das eigentlich nicht weiter Erklärbare eingreift, man möge es nun innere Geistesform, oder das Ich, oder allgemein das Ursprüngliche und Unvermittelte, oder im Praktischen Vernunft oder Vernunftinstinkt u.s.f. nennen. Man erschöpft vergebens die reichste Mannichfaltigkeit der Formen, alles soll auflösbar, alles bis zur Sensation zurückführbar seyn, die selbst nachher natürlich an Nichts festem hängen kann. Mit nothwendigem Sezen, mit der Abstraktion von aller äussern Erfahrung, mit dem durchaus bedingungslosen darf man gar nicht kommen. Alles diess sind nur Scheinbilder der metaphysicirenden Vernunft.

Bey dieser Philosophie muss natürlich aller Begriff ächter Tugend verschwinden, und sich in einen bloss vernünftigen Eigennuz auflösen. Auch ist es dieser leztere, den die hiesigen Moralisten recht allgemein fühlbar machen möchten. De creer des habitudes vertueuses ist ihr Haupt Ziel. Der Hang nach Grundsäzen zu handeln ist wirklich dem französischen Karakter nicht einmal in dem Grade eigen, als er einem Nationalkarakter eigen seyn kann; von Gefühlen besorgen sie immer Schwärmerey; es bleibt also nichts übrig, als Gewohnheiten. Diess ist um so furchtbarer, als die Moralität sonst mächtige Stützen verliert. Wirklich übertriebene Furcht vor Fanatismus und Aberglauben bringt gegen jede religiöse Empfindung (wenigstens bey einer grossen Zahl von Köpfen, indess andere mit nicht grossem Glücke deistische Ideen allgemein zu machen suchen) welcher Art sie auch sey, entweder Erbitterung und Hass oder wenigstens eine bloss verachtende Toleranz hervor, und wird derselben unstreitig eine der Aufklärung noch ungünstigere Richtung geben. Andere Arten erhöhter Empfindsamkeit fehlen gleichfalls, und so muss natürlich, da der Mensch doch einmal einer innern Bewegung bedarf, die Einbildungskraft durch keine Regel geleitet müssig umherschweifen, oder die nicht durch Empfindung gemilderte Leidenschaft ausserhalb suchen, was allein in uns zu finden wäre –.

In diesem Zustande könnte die Kunst, besonders die Dichtkunst, eine grosse Hülfe gewähren; allein daran ist hier nicht zu denken, wo selbst die, welchen die Französische, über die sie wirklich erhaben sind, weder den Geist noch das Herz erfüllt, sie dennoch für die höchste Poesie, und die ihnen unendlich mehr verwandte Englische zB. für Etwas Edleres, Gehaltvolleres und Besseres, nur nicht für Poesie anerkennen: ein sicherer Beweis, dass ihnen der eigentliche Kunstsinn mangelt; dass sie in dem, was sie Poesie nennen, nur eine gewisse bestimmte äussere Form fühlen, und in dem wahren und ächten, mehr durch den Gehalt, als durch das, was eigentlich Kunst Form ist, angezogen werden.

Die griechische Einfachheit und Zartheit, die sich so ganz auf diese Seite neigt, ist dem französischen Charakter durchaus fremd, ebenso die nordische Derbheit und Stärke; und doch sprosst wohl nur aus der glücklichen Vereinigung beyder die schönste poetische und philosophische Blüthe empor, die vielleicht darum künftig einmal am besten auf deutschem Boden fortkömmt, weil die Natur die Deutschen am wenigsten mit einseitigen Vorzügen begabt hat, welche die Erreichung allgemeiner Vollkommenheit hindern könnten; sie mehr kräftig ausgestattet, als selbst geformt hat.

Ich sagte so eben, dass die Franzosen in der Philosophie nie anders als analytisch verfahren. Man könnte vielleicht nach der im Vorigen gemachten Darstellung den Hauptfehler ihrer gebildeten Natur (denn die ungebildete ist immer gut) dadurch ausdrücken, dass sie alle Synthesis wegläugnen; nichts anerkennen, als was sich mechanisch erklären lässt; die freie Zeugung des Geistes und Willens aus dem Nichts nicht gelten lassen; und ihm selbst da, wo sie ihm zB. im Handeln oder Dichten gleichsam unbewusst entschlüpft, nicht volles Recht wiederfahren lassen. In der That hätte, glaube ich, der, welcher in französischer Sprache irgend eine Synthesis (eine Thathandlung des Geistes oder Willens) rein und allgemeinverständlich aufstellen könnte, das Räthsel gelöst. „Doch wohl nicht bloss die Franzosen?“ werden Sie mir einwenden. Und freylich ist diess sehr wahr. Denn da liegt gerade jede Philosophie im Argen.

Überhaupt hätte mich die Scheu vor der Nemesis auch schon so weit nicht schreiben lassen, wenn ich nicht, wie schon gesagt, fürchtete, unser guter Baggesen gäbe ihnen ein gar zu arges Bild des hiesigen Zustandes, das denn ganz wunderbar auf den zurückleuchtete, der freywillig schon ein Jahr hier ist, und noch immer wenigstens nicht sehr ernstlich auf seinen Rückzug denkt. Desswegen schien es mir nöthig, Ihnen zu zeigen, dass ich mich selbst wenigstens nicht auch mit dem Strohme fortreissen lasse, und immer kann es nicht schaden, von Zeit zu Zeit sein Glaubensbekenntniss abzulegen, wenn man unter Ungläubigen lebt.

Sehen Sie also, liebster Freund, das bisherige nur als eine Herzens Erleichterung meines beunruhigten vaterländischen Gewissens an. Sonst kann ich nicht läugnen, verweile ich wenig bey diesen Seiten, die man bald in den ersten Wochen bemerkt, und spühre mehr dem tiefern, verstecktern, und bessern nach. So bekannt auch im allgemeinen die Haupt Eigenthümlichkeiten dieses Nationalkarakters sind, so führt doch seine genauere Betrachtung noch auf Resultate, die für die allgemeine Menschenkenntniss schlechterdings nicht unwichtig sind. Vor allem lernt man, wie der Verstand, wenn er nicht hoch aber dabey einseitig bearbeitet ist, gleichsam die Rolle aller übrigen Fähigkeiten zu spielen im Stande ist; welche Gestalt unter seiner Herrschaft die Phantasie annimmt; und wie selbst das Gefühl seiner Natur nach die Forderungen desselben umwandlen kann, ohne dieselbe ganz aufzugeben. Denn das, was ihn in diesem Charakter so merkwürdig macht, ist gerade die ihm an sich heterogene Verbindung mit einem nicht bloss lebhaften, sondern heftigen, immer unruhigen, und doch immer nach einem äussern und schnell zu erreichenden Ziele strebenden Temperament. Er disponirt dadurch das Gemüth mehr zur Leidenschaft, als zum bloss stillen, sich selbst genügenden, Gefühl, und bringt dadurch eigene Modifikationen der Empfindung hervor, in denen man ihn immer wieder erkennt. In den spätern Griechen (schon im Euripides) werden Sie oft auch eine raisonnirende und sophistisirende Empfindung bemerkt haben; aber hier ist beydes viel inniger mit einander amalgamirt. Die Empfindung nimmt in der That einen höhern Flug, als es die eigentlich physische vermöchte; sie ist wahrhaft Empfindung, denn sie ist weder kalt noch erkünstelt; aber sie besizt ein Raffinement, sie führt eine Sprache, die allein den Antheil des Verstandes verrathen würde, wenn sich sonst auch nicht in der Spannung, in die sie die Seele versezt, in dem zerstöhrenden Feuer, dem es an aller wohlthätig erwärmenden Gluth fehlt, Mangel an eigentlichem Sinn, an Natureinfachheit, an Empfänglichkeit zeigte. Freylich sieht man diess nur selten in einer gewissen Vollkommenheit, da es in dieser nur in wirklich grossen Seelen erscheinen kann; aber es ist, dünkt mich, das, was der Beredsamkeit Rousseaus zB. vorzüglich der Beredsamkeit der Leidenschaft eine so eigenthümliche Farbe giebt. In welche Sprache man das zu übersezen versuchen möchte, so verliehrt es immer gerade sein eigentliches Wesen, und wie es da ist, kann man nicht läugnen, ist es nicht nur in sich schön und gross, sondern entdeckt auch neue Nüançen, neue Seiten in dem menschlichen Gemüthe. Gerade darinn, in einem Gebrauche von Begriffen in einem Gebiete, in dem sonst der Begriff nichts vermag, in einer künstlichen Verbindung blosser Verhältniss Beziehungen, in einer aufs feinste berechneten Stellung aller Theile des Gedankens scheint mir die grosse Stärke auch der französischen Sprache zu liegen. Keine andere, kömmt ihr in der Kunst des Raisonnements gleich, und wenn man es epigrammatisch ausdrücken wollte, so könnte man sagen, dass keine soviel durch blosse Worte auszurichten vermag.

Es giebt eine Eigenschaft, die dem Franzosen vorzugsweise vor dem Deutschen eigen ist, und in der der leztere viel von dem erstern lernen könnte – die Besonnenheit, die so wenig bloss ruhig ist, dass sie ihm auch in der höchsten Bewegung nicht fehlt. Der Deutsche ist so oft in dem Falle sich zu schämen; der Franzose nur äusserst selten; und ich sage diess hier gar nicht ironisch. Wir Deutsche unterscheiden immer ganz bestimmt, zwey gleichsam ganz verschiedene Welten, eine unsichtbare und eine sichtbare, ein inneres und ein äusseres Daseyn, und vergessen sehr oft, dass wir, indem wir reden schreiben, u. handlen, aus dem ersteren heraustreten. Dadurch sind wir dunkel, oft (da wir uns so oft nur als Natur zeigen) unfein, und beinahe immer formlos. Bey den Franzosen ist es gerade das Gegentheil, sie berechnen alles auf die Wirkung, und diess ist es, was im Grossen und im Kleinen, ihnen die politischen und gesellschaftlichen Vortheile über ihre Nachbarn giebt. Man verfolge nur mit rücksichtsloser Kälte Einen Zweck, und man wird ihn immer erreichen. Wer immer nur darauf denkt, wie er handlen, wenig, wie er seyn will, der wird in dem äussern Leben unfehlbar seyn.

Aber es wird dadurch doch zugleich etwas bey weitem achtungswürdigeres erreicht. Diese Rücksicht auf den Gebrauch und das äussere Leben hindert vielleicht das tiefe Forschen nach Wahrheit, aber es bewahrt auch vor einer Menge Chimären, und erleichtert die Verbreitung des wirklich gefundenen; sie lähmt vielleicht den hohen und idealischen Flug der Empfindung, aber sie bricht auch die Gewalt des rohen Naturtriebs; und vor allem bringt sie das Streben nach einer gewissen Kunstform hervor, welches nicht nur der allgemeinen Politur, sondern auch der Kunst in ihrem ächtesten Begriffe äusserst wesentlich ist. Diese grössere Kunstmässigkeit ist in der That in ihren Schauspielern, in ihren Dichtern, in ihren Prosaisten, ja selbst im Umgange und im täglichen Gespräch äusserst auffallend, und macht dass ihnen eigentlich alle übrige Nationen auf gewisse Weise roh vorkommen müssen. Vielleicht rührt auch daher ihr Urtheil, dass nur sie eigentlich Einfachheit und Natürlichkeit besizen, weil sie freylich alles wegschneiden, was nur irgend zu üppig scheinen könnte .

Wenn die Franzosen je eine grosse Tiefe des Geistes und Herzens gewinnen, wenn sie dann damit die ihnen in so hohem Grade eigene Gabe verbinden, das, was sonst nur einsam in einzelnen Köpfen ruht, in den täglichen Umlauf des Lebens zu bringen; so können sie erstaunlich wohlthätig für Europa werden, für das sie bis jezt fast durch alle Zeiten hindurch nur beunruhigend gewesen sind. Und ich glaube allerdings, dass es dahin noch einst kommen wird. Ein Charakter-Zustand, wie der, den ich Ihnen im Vorigen und ich glaube nicht unwahr schilderte, muss beinahe von selbst zum Durchbruche führen; wirklich haben die Franzosen an einer gewissen Soliditaet gewonnen, nur dass es bis jezt eine solche ist, die, ohne die Achtung sehr zu erhöhen, die Liebenswürdigkeit beinah vermindert, auch bekümmern sie sich sorgfältiger um fremde Sprachen und fremde Geistesbildung.

Zwar wendet man gegen eine solche fortschreitende Bildung (oder vielmehr gegen eine solche umkehrende, denn es müsste eine Art der Wiedergeburt vorgehen) gewöhnlich die Hindernisse ein, welche die Sprache ihnen in den Weg legen würde; allein daran glaube ich nicht recht. Es giebt eigentlich wenig Dinge in einer Sprache, die so fest sind, dass sie keine Umänderung erlaubten, und das Feld des willkührlichen Gebrauchs ist immer noch gross genug, dass das wahre Genie sich mit Freyheit darinn bewegen kann. Das Genie schafft sich ja immer selbst seine Sprache. Von den ersten Anfängen seiner Ausbildung an nuançirt es für sich die Bedeutungen der Worte, bildet es sich (alles innerhalb selbst der strengsten Grammatick) seine eigenen Phrasen, verwebt es mit einem Worte seine Individualität in seine Sprache. Welche neue Wendung hat nicht die Französische schon durch Rousseau, Mirabeau u.s.f. erhalten! Weil aber freylich eine dem Widerstande verhältnissmässige Kraft erfordert wird, um in diesem Kampfe zu siegen, so kann es seyn, dass Einzelne wirklich verstummen, weil ihre Individualität zu schön und zart ist, um in der Sprache ihrer Nation einen Ausdruck zu finden. Das Einzige, was man von der französischen vielleicht behaupten könnte, wäre die Unmöglichkeit, je einen eigentlich dichterischen Theil zu bekommen. Französische Poesie kann leicht untergehen, und unwiderbringlich untergehen; darüber werden sich aber die leicht trösten, welche die Poesie nur der Kindheit der Nationen anweisen.

Ich kann nicht läugnen, dass ich auf die Entwicklung des Französischen Geistes äusserst begierig bin. Aber freilich muss, um davon Früchte zu sehen, erst Friede geworden, erst allgemeiner Wohlstand (wozu troz der Noth des Tages der Saame doch reichlich ausgestreut ist) verbreitet, erst das Gemüth in Freyheit, der Geist in Schwung gesezt seyn.

Bis dahin können nur vorbereitende Schritte geschehen, grosses Vorrücken kann man nur in den Theilen der Wissenschaften erwarten, von denen ich hier gar nicht sprach, nur in den mathematischen und naturhistorischen. Denn vergessen muss man auch nicht, dass ein Beurtheiler wie ich, den Franzosen immer gewissermassen Unrecht thut, weil er in einem durchaus andern Fach lebt und webt als worinn sie vorzüglich sind.

Aber genug von diesem allgemeinen Geschwätz. Es ist eine recht deutsche Unart in solche weitläuftige Excurse in Briefen zu verfallen. Aber im freundschaftlichen Umgange kann ich einmal der Begierde nicht widerstehen, auch das auszusprechen, was mich gerade am meisten beschäftigt, und darum bitte ich Sie, Theurer Freund, recht herzlich um freundschaftliche Nachsicht für diese Ausführlichkeit. Es kam mir wirklich nur darauf an, Ihnen zu sagen, wie ich die Welt ansehe, die mich hier umgiebt, und es kam mir nicht in den Sinn, sie Ihnen zu schildern. Denn wer kennt den französischen Charakter besser als Sie, der Sie immer in der Nähe Frankreichs und in Verbindungen mit wichtigen Männern dieser Nation lebten, der Sie selbst so oft das Geheimniss gefunden haben, ihre Sprache Ihren eigenen tiefern und bessern Ideen anzupassen? Sehen Sie also diese Blätter recht eigentlich als für Sie und nur für Sie geschrieben an. Ich möchte um alles in der Welt vor keinem andern Richterstuhle als vor der Nachsicht der Freundschaft mit diesen flüchtig hingeworfenen Bemerkungen erscheinen, die noch dazu über eine ganze Nation immer Etwas Anmaassendes haben, und gegen die sich gewöhnlich zugleich die griechische und die französische Nemesis erhebt.

Von einzelnen Menschen und Dingen könnte ich Ihnen vielleicht Mancherley sagen, wenn wir erst wieder, wie ich hoffe, in fortwährendem Briefwechsel stehen; in Einem Briefe ist es, wie Sie selbst fühlen, nicht leicht möglich. Ich habe in der That das Glück gehabt, hier mehrere Menschen zu finden, mit denen es möglich ist, einen sehr interessanten Umgang zu haben. Nur ist der Umgang hier freylich etwas sehr Unterbrochenes. Eine meiner neuern Bekanntschaften ist die Stael, in der That eine äusserst merkwürdige Frau, und recht geschaffen, der Französischen Bildung neue Gestalten zu geben, da sie offenbar mehr und Etwas anderes besizt, als das was gewöhnlich in dem Französischen Nationalkarakter liegt.

Unter den Deutschen, die seit längerer Zeit sich hier aufhalten, ist Schlabberndorf |sic|, den Sie kennen, unstreitig bey weitem der interessanteste. Er erinnert sich Ihrer mit herzlichem Antheil, und ich bin überzeugt, dass auch troz vieler Verschiedenheiten in Meynung und Denkungsart sein Umgang Ihnen viel Vergnügen gewähren würde.

Baggesen ist uns hier eine überaus angenehme Erscheinung gewesen. Ich kannte ihn noch gar nicht, und war doch durch vieles, was ich von ihm gehört hatte, sehr auf seine Bekanntschaft gespannt. Er hat eine durchaus eigene Geistesform und ächte Genialität. Nur selten trifft man gewiss eine Phantasie an, die soviel Beweglichkeit doch mit soviel Tiefe und gesezmässiger Bildungskraft verbindet, das einige seiner poetischen Stücke ganz unläugbar darthun. Grüssen Sie ihn noch einmal herzlich von uns.

Von meinen hiesigen Arbeiten werden Sie bald eine sehen, für die ich mir hier recht eigen Ihre Aufmerksamkeit erbitten möchte. Vieweg in Berlin wird Ihnen ein Bändchen „Aesthetische Versuche“ überschicken, die ich im vorigen Winter hier geschrieben habe. Sie werden darinn eine Beurtheilung von Goethes Herrmann und Dorothea, aber zugleich viel allgemeines über Poesie und Kunst überhaupt finden. Wie herzlich würde ich Ihnen danken, wenn Sie mir ein Wort eines gütigen Urtheils darüber sagten. Ich bedarf dessen um so mehr, da ich in der That immer fast nur in Rücksicht auf die wenigen Menschen schreibe, deren Geist ich kenne, und die immer lebendig vor meinen Gedanken stehen, sobald es mir gelingt in einiger Tiefe in das Gebiet der Ideen einzudringen. Über den Gegenstand selbst, glaube ich, werden wir einig seyn. Auch sehen Sie, dass ich den Muth nicht verlohren habe, meine freye Meynung über die Werke derer zu sagen, die ich meine Freunde nennen darf. Denn auch hier bin ich des lebhaften Widerspruchs eines Theils des Publikums fast gewiss.

Die Abhandlungen die Sie in Wandsbeck ihrer Aufmerksamkeit widmeten sind seitdem liegen geblieben. Ich gestehe, dass erst Sie mir die Augen über sie eröffnet, und mir gezeigt hatten, dass ein Gegenstand wie dieser wenigstens andere Vorbereitungen erfordere. Ich hatte das undurchdringliche Geheimniss des Charakters wirklich zu leicht angesehen. Indessen ist mir die Sache nur desto werther geworden, und ich habe jezt neue und ich glaube bessere Plane dazu –.

Meine Frau grüsst Sie, liebster Jacobi, Lenchen und Lottchen mit der herzlichsten Freundschaft. Sie lebt hier recht vergnügt, und hat sich zwar sehr abwechslend, aber doch in der lezten Zeit besser als sonst befunden. Grüssen Sie von uns beyden auch tausendmal Reimarussens[c], Sievekings[d], und Poels[e], und sagen Sie allen, dass wir unendlich oft an Hamburg zurückdenken, dass wir viele Plane machen, dorthin zurückzukommen, und Plane die hoffentlich nicht unausgeführt bleiben sollen. Werden auch Sie denn noch da seyn? Sie müssen es nothwendig, wenn die Erinnerung an unser ehmaliges Zusammenseyn uns nicht die Freude um mehr als die Hälfte verderben soll.

Von ihren Kindern hörten wir zulezt nur durch Stinchen. Ich habe Fritz im Sommer 97 von Dresden aus geschrieben, ihm für das köstliche Rosenöl gedankt, das er meiner Frau geschickt hatte, und ihm gemeldet, dass wir nach Wien giengen, um von dort nach Italien zu reisen, woraus leider nichts geworden ist. Ich hatte den Brief nach Braunschweig addressirt, habe aber keine Antwort erhalten. Grüssen Sie ihn und alle die seinigen innigst von uns.

Vor allem aber, liebster Freund, antworten Sie mir bald. Geben Sie mir nur ein Zeichen des Lebens, wenn Sie auch nicht gerade gestimmt sind, viel zu schreiben, und warten Sie ja nicht erst meine Schrift ab, mit deren Erscheinung es noch bis gegen Neujahr dauern kann. Meine Addresse ist: à M. d. H. à Paris rue du Colombier, Faubourg St. Germain nro. 7. und bis zum Frühjahr bleibe ich noch hier. So lange dauert es zB. schon noch, ehe man nur den Apoll hier sehen kann. Dann gehe ich, wenn es Friede ist nach Italien, sonst nach England. So sind nehmlich die Plane. Die Erfüllung?

Leben Sie herzlich wohl, und vergessen Sie nicht ihren
Humboldt.

Anmerkungen

    1. a |Editor| Hier wurde eine Blockade im gedruckten Text gesetzt. Sollte hier vielleicht der Name des französischen Gesandten in Hamburg und Bremen, Karl Friedrich Reinhard, des Ehemanns von "Stienchen", d.h. Christine Reinhard, stehen? [FZ]
    2. b |Editor| Wohl eher ein Satzfehler als ein übernommener Schreibfehler Humboldts. [FZ]
    3. c |Editor| Der Arzt und Naturforscher Johann Albert Heinrich Reimarus und seine Frau, die Salonnière Sophie Reimarus.
    4. d |Editor| Der Kaufmann Georg Heinrich Sieveking und seine Frau Johanna Margaretha, eine Tochter von J. A. H. Reimarus.
    5. e |Editor| Der Diplomat und Schriftsteller Piter Poel und seine Frau Friederike Elisabeth.
    Zitierhinweis

    Wilhelm von Humboldt an Friedrich Heinrich Jacobi, 26.10.1798. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/564

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