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  3. Nr. 567

Wilhelm von Humboldt an Carl Ludwig Fernow, 07.09.1805

Rom, den <7>. September, 1805.

Ihr ausführlicher Brief, den ich erst erhielt, nachdem ich bereits auf den späteren, der mir die unglückliche Nachricht von Schillers Tode brachte, geantwortet hatte, hat mir eine ausnehmende Freude gemacht, und ich würde die Antwort darauf nicht erst bis auf heute aufgeschoben haben, wenn mich nicht die Versendung der von Ihnen gewünschten Bücher aufgehalten hätte. Gleich nach Empfang Ihres Auftrags nahm ich zwar von Visconti das, was hier zu haben war, allein das Sicilianische Wörterbuch[a] verursachte mir einen Aufenthalt einiger Wochen, und dann übergab ich alles dem de Sanctis (sogenannten Checo de Volpati) den Sie kennen. Durch ihn ist die Kiste nun schon vor 14 Tagen abgegangen; er hat mich aber erst vorgestern davon benachrichtigt. Wie er mir sagt, hat er Ihnen selbst geschrieben, und Sie werden daher in seinem Briefe gefunden haben, von welchem Kaufmann in Augsburg Ihnen die Sachen werden zugeschickt werden. Ich habe Ihnen daher nur noch die Rechnung Viscontis quittirt zu übermachen, zu welcher ich meine zweite Auslage für das Wörterbuch hinzugefügt habe. Das Ganze beträgt auf diese Weise 42. Sc. 80. Baj. und da ich bei dem jetzigen theuren Cours den Scudo zu 1. r. 13 g. 6 pf. in Preuss. Courant (das Ihnen von Erfurt aus wohl bekannt seyn wird) rechnen muß, so macht diese Summe in Preuss. Courant 66. r. 21. g. Diese nun ersuche ich Sie, je nachdem es Ihnen bequemer ist, entweder in Berlin an die Banquiers M. Friedländer & Comp. oder an meinen Schwiegervater in Erfurt zu bezahlen, und nur dabei zu bemerken, daß die Zahlung auf meinen Auftrag geschieht u. ich bitte das gezahlte Geld bis auf weitere Anweisung an sich zu behalten. Könnte die Zahlung in Berlin geschehen wäre es mir angenehmer.

Was Sie über Deutschland, oder vielmehr über die Verpflegung eines an Italien Gewöhnten dorthin sagen, fühle ich vollkommen. Auch reift in mir mit jedem Tage der Entschluß der 27. Jahre i.e. an Lebenszeit immer mehr. Ich hüte mich auch nur bei Spatziergängen über Ponte Molle zu gehen, und Gottlob ist es, solange ich Rom bewohne, nur Einmal geschehen, und so sehe ich Deutschland wirklich, wie ich mit Freuden gestehe, liebe und ehre, so glaube ich doch kaum, daß ich es je wiedersehen werde. Meine Freunde sterben immer mehr dort ab, und sie zu beweinen ist hier ein schönrer Platz u. ein sanftrer Himmel. Die Lebenden, hoffe ich, machen noch einmal u. mehr als einmal eine Wallfarth hieher, und hier gewährt Ein Monat mit Ihnen mehr Genuß, als dort ein rollendes Jahr. Mit Deutschland geht es mir oft, wie mit einem Walde, dessen Anblick man besser genießt, wenn man ihn von außen ansieht, als wenn man sich mitten unter den Bäumen befindet. Auch ist die Deutsche Individualität mehr, als die irgend einer andren Nation, etwas intellektuelles u. Moralisches, von dem jeder einzelne immer nur etwas u. Viele wenig an sich tragen. So uralt sie ist, so kann man sagen, daß sie in der Wirklichkeit der Menschen, wie sie dort auf Straßen und Feldern umhergehen, oft verschwindet. In jedem Fall, wenn man doch nun einmal nur in Deutschland oder in Italien wohnen kann, und sich (wie es mir in der That vorkommt) immer nach dem einen oder dem andern sehnen muß, scheint mir Deutschland für die Sehnsucht und Italien für das Wohnen bequemer.

Soviel sich von Deutschland lebendig hier haben läßt, haben wir wirklich jetzt hier, die beiden Riepenhausens[b], einen H. v. Rumor u. alle Tieks[c] mit der Schwester u. H. v. Knorring[d]. Riepenhausens sind trefliche junge Leute zugleich von Kenntnissen, Fleiß u. Talent; mit dem ältesten Tiek würde ich, glaube ich, viel umgehen, aber seine Umgebungen sind ungemein störend. Die Schwester ist rein weg für mich ein unangenehmes u. langweiliges Geschöpf, und der Bildhauer so absprechend u. so eingenommen von sich, daß man kaum nur einsieht, wie man ihn nehmen soll. Der älteste ist jetzt noch immer krank, und kann wenig gehen. Er arbeitet aber auf der Vaticanischen Bibliothek u. es ist in der That wünschenswürdig, daß er die dort vorhandnen Deutschen Manuscripte ordentlich brauche. Von seinem Octavian habe ich bessere Erwartungen gehabt. Er hat mir eigentlich recht wenig gefallen. Einige Scenen mit den Weibern ausgenommen, ist kaum nur etwas Lesbares darin; eine wilde Confusion im Ganzen, die doch darum nichts weniger als reich ist, und im Einzelnen kein Gehalt nicht an Ideen u. nicht an Empfindung. Das Komische, ob es gleich manchmal ungeheuer und unerlaubt gemein ist, macht noch die beste Wirkung darin. Mit der Genoveva[e] ist wirklich dies Produkt nicht zu vergleichen, und ich glaube immer, jetzt wie bisher, daß Tieks ganzes Talent sich allein im Lyrischen ausspricht. Daß es mit der Deutschen schönen Literatur bedenklich aussieht, ist gewiß sehr wahr. Es wäre sonderbar genug, wenn wir den Zenith erreicht hätten, u. nun, wie andre Nationen, herabsinken. So wie es bei andern geschehen ist, ist es indeß bei uns nicht möglich. Die Italiäner u. Franzosen haben ihre klassischen Werke gehabt, u. haben aufgehört produktiv zu seyn, weil sie diese, wenigstens in der Form nicht mehr übertreffen konnten, u. sie also nur noch bloß nachahmten. Die Spanier u. Engländer sind in dasselbe Unglück gerathen, aber indem sie die vaterländische Spur verlassen, u. Fremde nachgebildet haben. Wir würden immer auf eine andre Weise gesunken seyn; dadurch nemlich, daß wir so sehr das ganze Gebiet der Formen u. des Stoffs durchwandert wären, daß nun kein Fußpfad mehr neu u. unbetreten bliebe. Indeß ist dabei doch noch eher Rettung zu hoffen. Ueberhaupt ist der deus ex machina nirgends so sehr zu erwarten, als im Reich des Genius. Es steht da, ohne daß man es ahndet. Mit Göthe’s Gesundheit scheint es ja ganz neuerlich wieder minder gut zu gehen. Fr. v. Wollzogen schreibt zwar, wie gewöhnlich über alle Fakte, nur sehr fragmentarisch darüber, doch sind einige Worte in Ihrem Briefe, die es uns fürchten lassen, und ebenso einige in den öffentlichen Blättern. Wenn Sie ihn doch bereden könnten, hieher zu kommen. Ich bin überzeugt, daß ihm dieser Himmel u. diese Umgebungen wohlthätig seyn würden. Grüßen Sie ihn herzlich von mir. Meinen Brief hat er hoffentlich empfangen[f].

Ihr Projekt eines Lexicons hat meinen vollkommensten Beifall. Nur durch solche Arbeiten kann das Sprachstudium wahrhaft weiter gebracht werden. Es läßt sich im Grunde über eine Sprache nur dann urtheilen, wenn man alle ihre primitiva einzeln durchgegangen ist, u. partheilos geprüft hat, ob u. welcher andern Sprache sie zugehören, oder wieviele darunter ihr durchaus eigenthümlich zukommen. Dennoch ist dies eigentlich noch nie von einer einzigen Sprache geschehen, u. fast über alle u. aller Abkunft hat man geurtheilt. Hätte man mehrere Sprachen dergestalt bearbeitet, so käme man endlich auf ein allgemeines Wurzellexicon. Damit gleichsam a priori anzufangen, ist eine bloße u. recht eigentliche Raserei. Es wird Ihnen aber, wie es immer bei allem Etymologisirn ist, sehr schwer werden, die Gränzen gehörig abzustechen. Denn es ist unglaublich, wie tief auch das Deutsche in dem Italiänischen verwebt ist. Dann ist es auch Schade, bloß beim Lateinischen stehn zu bleiben, da es nur ein so kleiner Schritt von da bis zum Griechischen ist, und man mit diesem auf den Standpunkt kommt, der wenigstens in dieser Reihe der letzte ist, und von dem aus sich sehr oft auch die Verwandtschaft mit dem Deutschen leicht übersehen läßt. Ihre Grammatik brauche ich sehr häufig, und bewundere ihre Vollständigkeit u. Genauigkeit. Daß Giuntotardi je eine Italienische ausarbeite, daran ist wohl schwerlich zu denken; Schade aber ist es recht sehr, daß die Ihrige Italienern durchaus unzugänglich ist. Wenn es nicht so schwierig wäre, hier etwas zum Druck zu befördern, so würde ich Ihnen sehr rathen, sie selbst zu übersetzen.

Ich kann diesen Brief nicht schließen, ohne der schändlichen Reisebeschreibung Kotzebues zu erwähnen. Wird denn niemand diese erbärmliche Sudelei, u. besonders diese Insolenz, über Kunst, von der er gar nichts versteht, u. über Rom, wo er kaum einige Wochen gewesen ist, zu schreiben, rügen. Durchaus unverschämt sind seine Antheile über die hier lebenden Künstler. Wäre er in Person hier, könnte er sich immer einige Leibtrabanten halten, um sich vor der Germanischen Rache zu schützen. Ich bitte Sie recht ernstlich, darauf zu denken, daß er wenigstens in Recensionen so arg zu Schande gemacht werde, als es bei einem schon einmal so schamlosen Menschen möglich ist. Zu sagen, daß man Rom mit leichtem Herzen verläßt! daß es höchstens ein Duzendmal freut, das Colosseum zu sehen! Für solche Dinge ist keine Strafe zu arg.

Jetzt erlauben Sie mir, liebster Freund, noch einige Bitten, die ich an niemand so gut, als Sie, zu richten weiß, und bei deren Erfüllung ich auf Ihre gütige Freundschaft rechne[g]:

1., ist seit der neuesten durch Oberlin besorgten Ausgabe des Tacitus (zu der Wolf das erste Buch gemacht hat) eine neue erschienen, u. hat sie durch neue Lesarten oder Erklärungen auch nur etwas vor der Oberlinschen voraus? In diesem Fall bitte ich Sie, solche zu kaufen, u. sogleich durch Frachtgelegenheit an den Ihnen ja wohl bekannten Valeriani, Professor der politischen Wissenschaften in Mailand, zu schicken.

2., wünschte ich außerordentlich, sobald als möglich, Gottscheds Reimlexicon[h] (wenn nemlich seitdem kein besseres erschienen ist) zu erhalten. Sie thäten mir daher einen großen Gefallen, wenn Sie es aufzutreiben suchten, und mir, wenn es nicht anders wäre, auch mit der Post zuschickten.

3., bäte ich Sie, mir Titel u. Preise der besten Dänischen, Schwedischen, Polnischen u. Russischen Wörterbücher, u. besten Holländischen, Schwedischen u. Russischen Grammatik anzuzeigen. Nur müßten dieselben nicht bloß die Wörter in derselben, sondern einer andern Sprache, am besten der Deutschen, erklären, und immer würde ich die vorziehen, die, beides die fremden Wörter in der bekannten Sprache, u. die der bekannten Sprache in den fremden erklärten, so daß man beide nach Gefallen aufschlagen kann. Das Dänische könnte auch [i] bloß Dänisch seyn, da ich Dänisch fertig läse. Eben so wüßte ich gern Titel u. Preis des besten u. vollständigsten Arabischen Wörterbuchs, u. außerdem der brauchbarsten Grammatik u. Chrestomathie für den Anfang.

Ihre Auslagen für den Auftrag ad 1., & 2., bitte ich Sie von den meinigen für Sie abzuziehen.

Und nun tausend Entschuldigungen für die Länge dieses Briefes, die herzlichsten Grüße von meiner Frau, und sehr viele Empfehlungen an Göthe, Fr. v. Wollzogen u. Schiller. Herder’s sind in Neapel[j]. Mit innigster u. unwandelbarster Freundschaft u. Anhänglichkeit
Ihr
Humboldt.

Anmerkungen

    1. a |Editor| Eventuell ist damit das Vocabolario siciliano von Michele Pasqualino gemeint, das zwischen 1785 und 1795 in fünf Bänden erschien. Humboldt besaß das Werk selbst: siehe Schwartz 1993, S. 24 Nr. 129. Das Wörterbuch wurde in einer Rezension zu "Sicilianischer Literatur und Kunst" im Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung vom 20. Februar 1805, Sp. 166f. erwähnt. [FZ]
    2. b |Editor| Das sind Franz (1786–1831) und Johannes Riepenhausen (1787–1860); beide Brüder waren als Maler und Kupferstecher tätig. [FZ]
    3. c |Editor| Dies sind der Schriftsteller Ludwig (1773–1853) und der Bildhauer Christian Friedrich Tieck (1776–1851). [FZ]
    4. d |Editor| Sophie Tieck (1775–1833) war in zweiter Ehe ab 1810 mit Karl Georg von Knorring (1769–1837) verheiratet; die erste Ehe mit August Ferdinand Bernhardi wurde 1807 geschieden. [FZ]
    5. e |Editor| Das Trauerspiel Leben und Tod der heiligen Genoveva erschien 1799/1800 in den zweibändigen Romantischen Dichtungen. [FZ]
    6. f |Editor| Damit ist wohl der Brief Humboldts vom 5. Juni 1805 gemeint; siehe Mandelkow 1965–1969, Band 1, S. 427–430 Nr. 296. [FZ]
    7. g |Editor| Zu diesen Aufgaben vergleiche den undatierten Brief Fernows an Karl August Böttiger in Dresden (Carl Ludwig Fernow »Rom ist eine Welt in sich«. Briefe 1789–1808, hrsg. von Margit Glaser und Harald Tausch, Band 1, Göttingen: Wallstein, S. 519f. Nr. 274.): "Der Minister Humboldt in Rom wünscht von mir zu erfahren, ob seit der neuesten durch Oberlin besorgten Ausgabe des Tacitus, zu der Wolf das erste Buch gemacht hat, eine neue erschienen sei, die durch neue Lesarten oder Erklärungen auch nur etwas vor der Oberlinschen voraus habe? – Niemand kann dies besser und bestimmter wissen als Sie. Sie würden mich also sehr verbinden, wenn Sie mir darüber Auskunft gäben. Ferner, kennen Sie ein Reim Lexicon das neuer ist, als das Gottschedische? u. wie heißt ein solches? Ferner, welches ist gegenwärtig das beste u vollständigste Arabische Wörterbuch? / Welches ist die beste Arabische Grammatik? / Welches ist die beste arabische Chrestomathie? auch dies sind Humboldtsche Fragen, die ich nur durch fremde Zusage beantworten kann. Können Sie mir auch dazu helfen? Verzeihung für das viele Gefrage! / Fernow." (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Archiv, Sign.: Autographen Böttiger K. 7). [FZ]
    8. h |Editor| In Humboldts Bücherverzeichnis findet sich ein Eintrag für "Gottscheds Reimregister. 8." (AST, Archivmappe 75, M. 4, Bl. 6r, Nr. 96). Worum es sich dabei handelt, ist unklar. Bekannt ist das in mehreren Auflagen zwischen 1696 und 1743 erschienene Poetische Handbuch von Johann Hübner (1668–1731), das ein Reimregister enthielt. Im Vorwort des 1826 erschienenen Allgemeinen deutschen Reimlexikons, das sich ausgiebig mit diesem Genre befasst, wird eine entsprechende Arbeit Gottscheds nicht erwähnt. [FZ]
    9. i |Editor| Oberer Teil des zerschnittenen Blattes.
    10. j |Editor| Eventuell sind damit der zweite Sohn Johann Gottlieb von Herders, der Geologe Sigismund August Wolfgang von Herder (1776–1838), und dessen Frau Susanne Sophie (1781–1848) gemeint, die im Juni 1805 geheiratet hatten. [FZ]

    Über diesen Brief

    Eigenhändig
    Schreibort
    Antwort auf
    -
    Folgebrief
    -

    Quellen

    Handschrift
    • Grundlage der Edition: Berlin, SBBPK, Autogr. I/135, Bl. 1r–3r, Nachl. 141 (Slg. Adam)
    Druck
    • Fa. J.A. Stargardt (Eutin), Kat. 479 (1949), Nr. 46 (Ausz.); Fa. J.A. Stargardt (Eutin), Kat. 560 (1962), Nr. 1046 (Ausz.)
    Nachweis
    • Mattson 1980, Nr. 1413
    Zitierhinweis

    Wilhelm von Humboldt an Carl Ludwig Fernow, 07.09.1805. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/567

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