1. Startseite
  2. Briefe
  3. Nr. 586

Wilhelm von Humboldt an Caroline von Humboldt, 09.05.1801

Durango, zwischen Vitoria und Bilbao, 9. Mai 1801

Du wirst meinen Brief aus Vitoria bekommen haben, liebe Li. Wir sind bis heute früh dort gewesen, und nun sitze ich hier im Innersten von Vizcaya in einem kleinen, unbedeutenden Nest, und das zwar – allein. Bokelmann ist mir nämlich nach Bilbao vorausgegangen. Ich konnte nicht umhin, einige Tage hier zuzubringen. Gerade hier ist der einzige Mensch, der eigentlich das Biskaysche, mit Kenntnis fremder Sprachen verbunden, getrieben hat, und wenn ich nicht die Rücksicht der Sprache ganz aus den Augen setzen will, muß ich diesen notwendig zu benutzen suchen. Ich hatte daher gleich mit Bokelmann verabredet, daß er nach Bilbao vorausgehen, und daß wir uns da wieder treffen sollten. Er wollte anfangs wenigstens noch den Nachmittag und Abend mit mir hier zubringen, allein weil es ihm einfiel, daß die Stube, in der wir schlafen sollten, röche, so hat er innerhalb fünf Minuten ein Pferd genommen und ist davongegangen. Er amüsiert sich gar nicht sonderlich in Spanien, und es tut mir leid, daß er verdammt ist, doch wenigstens einige Zeit darin zuzubringen. Außer der Natur gefällt ihm nichts. Du mußt auch ja nicht denken, meine gute Li, daß ich in einem so abscheulichen Loch säße. Gott! wenn wir oft in Andalusien und Granada solche Stube gehabt hätten, wieviel hätten wir darum gegeben. Ich habe einen großen Tisch, alle meine Bücher und Papiere darauf, eine sehr freundliche Wirtin und ein reines Bett. Was will man mehr mitten in Spanien? Auch mit dem Essen geht es. Es ist Milch da, man spricht auf morgen von Butter, und heut mittag hatten wir sehr gute gebratene Hühner und Eier. Bei dem Essen fällt mir ein, daß, wie Bokelmann in Marquina krank war, ich die große Idee bekam, ihm Hühnerbouillon zu kochen. Ich versammelte also den ganzen Rat im Hause, den alten Administrador, die Haushälterin und die Mädchen, und gab meine Orders göttlich, darauf setzte ich unsern Pferdeknecht neben den Topf, um allem pimiento[a] zu wehren. Ich dachte darauf, wie schön die Sache ablaufen würde, und brachte mit großem Triumph Bokelmann einen Teller der Reissuppe. Aber Gott! welch Gericht war das! Ich hatte nämlich vergessen, den Topf zu bestimmen, worin es gekocht werden sollte, und nun hatten sie zu einem mageren, elenden Huhn einen ungeheuren Kübel genommen, so daß die Bouillon wahres Spülwasser war. Glücklicherweise war das Huhn selbst eßbar, und so hatte der arme Bokelmann wenigstens etwas, woran er sich halten konnte.

Unser Weg heute von Vitoria her war ein wenig unangenehm wegen des Wetters. Wir ritten früh aus und hatten viel Nebel und Kälte. Überhaupt sind es bloße Fabeln, wenn man sagt, daß der Mai in Spanien heiß ist. Ein Teil des Weges war überaus schön und war es noch mehr durch den Nebel und das ewige Jagen der Wolken. Wir ritten langsam einen Berg hinan und hatten nur einige dicht mit Gebüsch bewachsene Hügel zur Seite. Wir sprachen gerade davon, daß unser Führer uns erzählte, daß dies ein pasage de ladrones[b] sei, und achteten nicht auf die Gegend. Wir sahen wohl einige Felskuppen über die niedrigeren Hügel herüberblicken, aber wir erwarteten nichts sehr Schönes oder sehr Großes. Wie erstaunten wir aber, als auf einmal, da wir die höchste Höhe erreicht hatten, die ungeheuren Felsen in den malerischsten Gestalten vor uns standen. Eine finstere Wand, steil wie eine Mauer und nur mit unzähligen Riffen durchfurcht, erstreckt sich an der rechten Hand ins Tal hinein. Gerade vor uns stand eine Pyramide von bloßen Klippen aufgetürmt, zu deren beiden Seiten sowie zu den Füßen eines mächtigen Vorgebirges sich zwei fruchtbare, reichbebaute Täler herabsenkten, die das Auge wieder bis zu den entfernten Gebirgen hin verfolgte, die sie am Horizont begrenzten, und zur Rechten ging dann die steile Felswand nur in verschiedenen Abteilungen fort, und ihre Spitze hatte ein rundes, schöngeformtes Haupt, auf dem eine schwere und finstere Nebeldecke lag. Man nennt dies Gebirge S. Antonio de Urquiola. Nichts kann zugleich größer und sonderbarer sein. Wie eine furchtbare Scheidewand steht es von der Ebene weg, und es ist, als hätte eine ungeheure Wasserflut dagegen angestürmt, sich an einer vorragenden Spitze gebrochen und sich nun zwei Wege da gebahnt, wo sich die benachbarten Gründe herabsenken, aber ein entsetzliches Vorgebirge von Fels zwischen sich gelassen. Die sehr gute Chaussee schlängelt sich wohl eine Stunde Weges um den mittelsten Felsen herum langsam die Höhe herunter, und alle Abwechselungen, welche eine wunderschöne Vegetation mit durchaus nackten Klippen geben kann, scheinen hier auf einmal erschöpft. Bald ist es ein schöner Eichwald an einer steilen Anhöhe, über dem der Fels hervorragt, bald läuft eine schattige Allee zwischen zwei nackten Wänden hin, bald drängt sich ein freundliches Ackerstück in beträchtlicher Höhe zwischen zwei in eine spitze Ecke zusammenlaufenden Felsen ein. Der Fleiß des Landmanns macht der unwirtbaren Klippe die letzte Handvoll Erde streitig, und die Felswand scheint die natürliche Mauer der kleinen Besitzung. Und dann die hundertfachen Gestalten, welche mit jeder neuen Änderung des Weges der mittlere inselförmige Fels bildet. Unzugänglich an allen Seiten wie es scheint, zeigt er überall schroffe, mit keinem Gesträuch überkleidete Wände und ist um so schöner, als er lauter große Massen hat und in einfacher Größe pyramidalisch zuläuft. Am Ende des Abhanges liegt ein kleines Dorf, reizender und malerischer, als es die Beschreibung schildern kann. Rings von diesen entsetzlichen Felsklippen umschlossen, ist es doch lachend und freundlich; denn die Anhöhe geht erst gemach bis an jene Wände heran, und solange nur noch einige Zoll Erde den unfruchtbaren Stein bedecken, sieht man Wiesen und Äcker und Gebüsche, alles sorgsam gepflegt und mit lebendigen Hecken umgeben.

Alle biskayschen Dörfer in diesem inneren Teile des Landes sind nur ein paar Häuser um die Kirche herum. Von da aus oft einige Stunden in der Runde liegen einzelne Häuser (caserios), die alten Stammsitze des Landes, die zu diesen Kirchen, zu denen sie oft weit zu gehen haben, eingepfarrt sind. In diesen einzelnen Häusern wohnen die Landleute, die ältesten Bewohner des Landes, die sich für die am meisten adligen halten, sich darum noch jetzt Infanzonen[c] im Gegensatz mit den Städtern nennen, die, obgleich abstammend von ihnen, sich in die Täler heruntergezogen haben, eine reichlichere Lebensart führen, dem Ackerbau weniger obliegen und daher minder geachtet sind. Jedes dieser Berghäuser hat seinen Namen, der fast immer von der Lage des Ortes hergenommen ist; dies heißt der Sonnenplatz, jenes das Haus des Abhangs, ein anderes der Hügel der Steine usw., so daß, wer Baskisch weiß, aus dem bloßen Namen die Lage des Hauses, das er nie gesehen hat, errät, denselben Namen trägt die Familie, die es bewohnt, und das undenkliche Alter von beiden ist ihr Adel. Ihre wahre Ahnenprobe ist also die natürliche: wo ist dein Haus, und trägt es deinen Namen? Auch vergessen die Städter, wenn man von ihrem Heim spricht, nie hinzuzusetzen: ich bin aus dem und dem Caserio. Denn die Städte sind zu neu, um eigentliche Stammsitze zu haben, und der Kern und der Ursprung der Nation sind bloß die im Gebirge zerstreut wohnenden Landleute. Von diesen Häusern sieht man nun um das kleine Dörfchen, von dem ich sprach, eine Menge herumstehen bis oben in die hohen Berge hinauf, alle sind von Bäumen und Äckern umgeben, vor den meisten stehen einige alte Walnuß- oder Kastanienbäume, und viele sind durchaus mit Wein und Efeu überrankt. Aus einem dichten Gebüsch am Fuß des Berges ragt ein alter zerfallener Turm hervor, und diese ehrwürdige Ruine vermehrt das Romantische des Anblicks.

Louis Buonaparte[d] sahen wir gestern abend. Wir waren einige Stunden bei ihm, und er sprach erstaunlich viel. Den Abend gingen wir zusammen auf einen Ball. Eine Frau in Vitoria hat zwei Söhne als Zwillinge geboren, und deswegen gab der Mann den Ball. Indes alle tanzten, saß sie auf einem der kleinen Stühle, die Du kennst, und stillte den ältesten. Die ersten zehn Tage hat sie beide gestillt. Sie hatte sechs Kinder, alle selbst gestillt, und war eine hübsche, gutmütige und freundliche Frau. Bokelmann fand aber doch wieder, daß sie zuviel schrie. Etwas lauter wie ich sprach sie wirklich, obgleich sie eben aus den Wochen kam. Es ist aber auch eins von Bokelmanns Diktums, daß man die Damen hier nicht das zarte, sondern das gewaltige Geschlecht nennen muß. Die schwächsten, meinte er, wären noch immer stark genug, einen Ochsen totzuschlagen. Noch heute haben wir wirklich eine Schmiede gesehen, wo zwei Frauen auf dem Amboß hämmerten und die Männer davor Zigarros rauchten. Die französischen Offiziere aber habe ich bewundert, und das hat mich wieder mit vielem versöhnt. Obgleich der Ball höchst unpariserisch war – das Ameublement, wie Du weißt, lauter Talglichte, die Damen, selbst eine hübsche Marquise, entsetzlich in französischen Kleidern angezogen und mit einer Tournure! so haben sich doch die Franzosen nicht nur sehr gut amüsiert, sondern sich auch eben so verständig und höflich betragen als in der ersten Gesellschaft von Paris.

Ewig Dein
H.

Anmerkungen

    1. a |Editor| Sydow 1906–1916, Bd. 2, S. 95: Spanischer Pfeffer.
    2. b |Editor| Sydow 1906–1916, Bd. 2, S. 96: Räuberpfad.
    3. c |Editor| Sydow 1906–1916, Bd. 2, S. 97: Edelmann.
    4. d |Editor| Sydow 1906–1916, Bd. 2, S. 98: Bruder Napoleons I., später König der in das Königreich Holland verwandelten Batavischen Republik.

    Über diesen Brief

    Schreibort
    Antwort auf
    -
    Folgebrief
    -

    Quellen

    Handschrift
    • H (alt): Berlin, A.v.Sydow (laut Hurch verschollen)
    Druck
    • Grundlage der Edition: Sydow 1906–1916, Bd. 2, S. 94–99. – Freese 1955, 411f.; Humboldt 2010, S. 381–384 (B. Hurch)
    Nachweis
    • Mattson 1980, Nr. 661

    In diesem Brief

    Zitierhinweis

    Wilhelm von Humboldt an Caroline von Humboldt, 09.05.1801. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/586

    Download

    Dieses Dokument als TEI-XML herunterladen

    Versionsgeschichte

    Frühere Version des Dokuments in der archivierten Webansicht ansehen