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Wilhelm von Humboldt an Gustav Seyffarth, 04.07.1829

|1*| Ich danke Ew Wohlgebohren sehr für Ihr gütiges Schreiben vom 28. und dessen Beilagen. Ich danke Ihnen besonders für den gütigen Antheil, den Sie an dem großen Verluste genommen, den ich vor wenigen Monaten erlitten habe. Er hat allerdings meine ganze innere und äußere Lage auf die schmerzvollste Weise verödet und vereinsamt.

Was Sie mir über die demotischen Ziffern mittheilen, ist, indem ich die unbezweifelte Richtigkeit voraussetze, sehr interessant. In dem beständigen Vorausgehen der Einer ist eine Art von Iuxtaposition. Es wäre gewiß gut, dieß drucken zu lassen, allein es müsste dann damit eine Uebersicht der ganzen Aegyptischen Zahlenbezeichnung verbunden werden.

In dem gedruckten Aufsatz ist mit großer Mäßigung über Champollion geurtheilt. Allein in das, was auch, aber weil zu unbestimmt, gegen sein System gesagt ist, kann ich nicht einstimmen. An eine Vergleichung des Systems Ew Wohlgebohren mit dem seinigen scheint mir noch gar nicht zu denken, weil, wie ich Ihnen schon einmal äußerte, es noch an einer klaren und vollständigen Darlegung Ihres Systems, so leid es mir thut es sagen zu müssen, meinem Urtheile nach, fehlt. Sie sprechen in Ihrem vorletzten Briefe von Ihrem Entschluß, nunmehr Ihr Alphabet aufzustellen. Sollte es aber nicht viel einfacher sein, erst zu sagen, welche Buchstaben in Champollions nicht so übermäßig zahlreichem Alphabet[a], Ihrer Meinung nach, wahr, und welche falsch sind? So hätte man doch ein Fundament, und wüßte, worin Sie beide von einander abweichen. Dies müßte freilich mit Beweisen geschehen. Es müßte gezeigt werden, daß und warum, was Champollion mit seinen angeblich falschen Buchstaben liest, das nicht heißen könne. Wäre dies geschehen, dann wäre Champollion widerlegt. Für die Wissenschaft aber wäre ein großer Gewinn entstanden, da man nun einen Masstab besäße, nach dem man Ihre beiderseitigen Entzifferungen mit einander vergleichen |2*| könnte. In Ihren Rudimenta sind Stellen von den Papyrus Rollen wie Anrufungen entziffert, die Champollion wie Nahmen |sic| ließt. Dieser Lesung kann man nach seinem Alphabet nachgehen. Ich habe mir oft große Mühe gegeben, dasselbe mit Ihrer entgegengesetzten Entzifferung nach den in Ihrem Werke enthaltenen Grundsätzen zu thun, es ist mir aber nie gelungen. Ew Wohlgebohren können versichert sein, daß ich gar keine Vorliebe für Champollion habe. Er giebt aber ein bestimmtes, kurzes wenig Willkührlichkeiten ausgesetztes Alphabet, er erklärt (nicht immer und das misbillige ich auch an ihm) meistentheils die Aegyptischen Zeichen nach den einzelnen Buchstaben, man kann ihm also auf einem bestimmten Wege nachgehen. Das nur wünschte ich, daß auch erst mit Ew Wohlgebohren System möglich wäre, und wenn Sie Ihren Entzifferungen Eingang verschaffen wollen, müssen <Sie> das nothwendig thun. Ich muß recht sehr um Verzeihung bitten, daß ich mich mit so vieler Freymüthigkeit erkläre, aber ich wünschte, um der Sache willen, daß man genau urtheilen könnte, nicht grade nach welchem Systeme man die Schrift erklärt, aber nach welchen Grundsätzen und mit welchen Zeichen man nach Champollion und Ihnen Texte entziffert. Jetzt erklären Sich Ew Wohlgebohren, wenn ich es offenherzig sagen soll, zu unbestimmt, wie auch in dem gedruckten Aufsatz geschieht, übereinstimmend mit Champollion und abweichend von ihm, um daß es möglich ist zu sehen, worin Sie nun abweichen oder übereinstimmen.

Ich fürchte Sie aber mit meinen Bemerkungen zu ermüden, und bitte Sie, die Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung anzunehmen.
Humboldt
Tegel den 4ten Julius 1829.

|3*; Anschrift|
An
Herrn Professor Dr. Seyffarth
Wohlgebohren
in
Leipzig.
|Stempel und Siegel; oben: »William Humboldt / author of many works on languages &c«|

Anmerkungen

    1. a |Editor| Gemeint sind die Tafeln A–K im Précis du système hiéroglyphique des anciens Égyptiens. Humboldt besaß die erste Auflage von 1824 [Bücherverzeichnis AST, vor Bl. 1: "Précis du systeme hieroglyphique des anciens Egyptiens par Mr. Champollion le jeune. Imp. Roy. 1824. 8. (bei mir in zwei Bänden, Text u. Kupferplatten, gebunden.)"], die zweite von 1828 offenbar nicht. [FZ]
    Zitierhinweis

    Wilhelm von Humboldt an Gustav Seyffarth, 04.07.1829. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/618

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