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  3. Nr. 625

Wilhelm von Humboldt an Karl Gustav Brinckmann, 22.10.1803

Rom, den 22. October, 1803.

Ich beantworte Ihren Brief vier Monate, nachdem ich ihn empfangen habe, theurer Brinckmann, aber lassen Sie uns gegenseitig die Schuld aufheben; wir haben uns in langen Jahren in zu vielen Punkten berührt, um einander auch je nur auf irgend eine Weise fremd werden zu können. Ich rechne Sie, das ist gewiß recht schlicht und ehrlich gemeynt, zu den Wenigen, auf die ich in jedem ernsten Momente am ersten und liebsten zurückkomme, und auf die ich überall und zu jeder Zeit mit Sicherheit vertrauen würde, und ich hoffe, Sie, mein lieber theurer Freund, thun dasselbe.

Sie wissen, welch Unglück uns vor zwei Monaten betroffen hat, Kunth hat mir geschrieben, wie es auch Sie geschmerzt hat. Sie können denken, wie dieser Schlag auf die Mutter und mich gewirkt hat. Auf mich stärker, als ich es mir je vorher selbst vorgestellt hätte. Ich habe nie vorher diese Sehnsucht gekannt, die nichts stillt, diese Wehmuth, die sich jeder Empfindung beimischt. Der arme Wilhelm war noch mehr, als es irgend ein andrer wissen kann, ein unendlich liebes Kind, und er hing an mir mit wunderbarer und seltner Zärtlichkeit. Sein Tod hat in mir aufgeregt, was seit Jahren schlummerte. Es läßt sich darüber nicht schreiben, aber ich wollte, wir wären beisammen. Es ist jedem ernstem Geschick eigen, daß es das Tiefste und Beste in der Seele aufregt, und das sind die Momente, von denen ich eben sprach, die, in denen man sich immer zuerst an die Zahl der Wenigen wendet, mit denen man sich eigentlich allein nur versteht.

Ihr Brief, lieber Freund, hat mir unendliche Freude gemacht. Unser Briefwechsel muß und wird regelmäßig seyn. Wir haben in so vielem dieselbe Ansicht, und gewiß ist uns beiden dieselbe Unpartheilichkeit im Beurtheilen der Menschen eigen. So oft ich über mich nachdenke, komme ich immer darauf zurück. Das einzige Vorzügliche, was einmal meine Freunde, wenn sie die Summe meines Lebens ziehen, in mir finden werden, ist, daß ich das Studium des Menschenkennens zu einem hohen Grade in mir ausgebildet habe. Es ist selbst das ein Grund, warum ich nie etwas hervorbringen werde, was der Mühe werth sey, mich zu überleben. Sie sind, genau genommen, von derselben Tendenz, aber Sie sind glücklicher, weil Sie ein bestimmtes Talent, eine bestimmte Genialität und eine Sprache haben, die sich leicht ausspricht. Daher werden wir besser, als je sonst zwei Menschen, uns einander ergänzen und berichtigen.

Ich kann in wenig Tagen nun auf ein Jahr zurückblicken, das ich hier verlebt habe. Ich habe in diesem Jahr eigentlich nichts gethan, das ich aufweisen könnte, allein demungeachtet rechne ich es zu den sehr wohlthätigen meines Lebens. Ich kam in einer Art der Abstumpfung hieher. Sey es der Aufenthalt in Paris, oder der in Berlin, oder keiner von beiden, sondern nur ein inneres Bedürfniß, durch neue Umgebungen neue Anstöße zu erhalten, kurz ich fühlte in mir ein gewisses Unvermögen, mich auf eine eigentlich interessante Art zu beschäftigen, und ich glaube mit Wahrheit sagen zu können, daß ich hier sehr viel gewonnen habe. Rom ist eine Einöde, lieber Brinckmann, aber die schönste, die erhabenste, die fesselndste, die ich je gesehen habe. Rom ist nur für Wenige, und nur für die bessern gemacht, aber wen es einmal anspricht, der findet die Welt hier. Ich sage mit Wahrheit die Welt. Denn er ist allein einer ungeheuern Natur gegenüber, was er sieht, ladet ihn ein auszuschweifen in die entferntesten Gegenden, und in die dunkelsten Zeiten, und der Charakter der Gegend ist gerade von der Art, daß er in der Seele die Stimmung hervorbringt, sich diesem Spiele der Phantasie zu überlassen. Sie, wie ich ehemals, werden auch oft von der Lieblichkeit Italiänischer Gegenden gehört haben. Ich habe sonst immer wenig daraus gemacht, und vieles für Einbildung gehalten. Aber an Ort und Stelle bin ich es inne geworden. Das Geheimniß besteht darin, daß entweder die Dinge hier so gestaltet sind, oder der Standpunkt so begeisternd ist, daß das Große, um groß zu schei nen, nicht groß zu seyn braucht. Was man hier sieht, kann man sagen, trägt die Form der Kunst und der Phantasie. Man sieht und sieht es ewig wieder mit Lust, man untersucht es einzeln, und findet eigentlich nichts Einzelnes, was so außerordentlich wäre, nicht die hohen Felsen der Gebirggegenden, nicht die alten Eichen unsrer Wälder, nicht die großen romantischen Seeen der Schweiz, aber man wirft einen Blick auf das Ganze und es ist ein Gemählde, es wirft die Phantasie nicht zerstreuend aus einander und in die Fernen, es versammelt sie zurück auf denselben Punkt, wenn sie eben ins Unendliche ausschweifen will, es macht das Gemüth still, es bringt Wehmuth hervor, und vermehrt doch die Klarheit und nimmt kaum etwas der Heiterkeit. Kann man damit, wie es dem Deutschen nur so leicht gelingt, weil er in keiner fremden Eigenthümlichkeit je sich verliert, die Stimmung fürs Romantische (lassen Sie mich das Wort zum Gegensatz des Antiken gebrauchen) verbinden, so ist es der höchste aller Genüsse, und zugleich der am meisten erweckende. Wer nicht mehr bloße Natur ist (wie doch nur die früheren Griechen es waren), wer schon anfängt zu reflectiren, der muß romantisch gebohren und gebildet werden; unter Eichen und Klippen, in rauhem Klima, fern von Kunst, mit weniger harmonischer Sprache, unter dunkler Metaphysik, pedantischem Schulstudium und sentimentaler Dichtung; der Streit, der die Reflexion begründet, der Urstreit zwischen Freiheit und Nothwendigkeit, muß sich reproduciren in ihm für jede Kraft, in jeder Gestalt, in jedem Gedanken und jeder Empfindung – dann komme er hieher und nichts Menschliches ist mehr an ihm verloren. Dort kann man auch allein werden, wohin man nur strebt, und der Deutsche ist glücklich genug, nie über die Alpen steigen zu dürfen. Er verliert nur Genuß. Wer aber, dort noch unausgebildet, hieher kommt, der findet keinen Geschmack an der hiesigen Eigenthümlichkeit, oder wenn er ihn findet, ist er verloren. Er wird halb in jeder Natur. Denn zwei verschiedene sind es, das giebt der erste Anblick.

Ich fühle mich also hier glücklicher, das läugne ich nicht. Ich bin erweckter zu Ideen, und fruchtbarer in jedem Betracht. Ich habe für nichts Sinn verloren, wofür ich ehmals ihn hatte, und für manches hat sich ein neuer in mir erschlossen. Der Deutschen Metaphysik, mit der Sie Sich soviel beschäftigt haben, bin ich, wenn von Büchern die Rede ist, ganz abgestorben. Ich glaube aber auf metaphysische Ideen auf einem andern Wege gekommen zu seyn. Die Ideen, in denen sich in jedem Menschen das Letzte zusammenknüpft, und die man also wenigstens seine Metaphysik nennen kann, haben sich bei mir, seit einiger Zeit, beträchtlich verändert, und ich bin beinah zu einem ganz andern System gekommen, und zu einem, bei dem ich mehr Uebereinstimmung mit andern hoffen darf. Sonst pflegte ich mich in eine einzige Individualität einzuspinnen, und die ganze Welt in sie gleichsam aufzunehmen; jetzt scheinen sich mir alle im Ganzen der Menschheit zu verlieren, und das Einzige, was ich nur hier vermisse, ist der bestimmte Begriff dieses Letzten des Letzten. Fichtes absolutes Ich (ich rede aus bloßen Erinnerungen) war mir sonst immer widrig und dunkel, weil es mir die wirklichen Ichs aufzuheben, und ein durchaus chimärisches zu hypostasiren schien. Von dem Schellingschen Pantheismus habe ich kaum einen dunkeln Begriff. Aber wenn Sie mir zugeben, daß in jeder Metaphysik ein fester und heller Punkt ist, von dem man ausgeht, und ein (nicht unsichrer, aber) dunkler, auf den man zugeht, so, dünkt mich, nimmt Fichte zum ersten an, was eigentlich der letzte ist, das absolute, eigentliche Ich. Ich fühle nun, und zwar auf tausend der verschiedensten Manieren, die Unzulänglichkeit Eines (menschlich) intellektuellen Wesens, und auf ebensoviele Manieren das Zusammengehören aller, daß ich davon getrieben werde nicht, denn das ist wieder ein unrichtiger Begriff, auf ein AllEins, sondern auf eine Einheit, in der aller Begriff von Zahl, alles Entgegensetzen von Einheit und Vielheit untergeht. Diese Einheit Gottheit zu nennen, finde ich abgeschmackt, weil man sie so ganz unnützerweise aus sich hinauswirft. Der Ausdruck Welt, Universum führt gar auf blinde Kräfte, und physisches Daseyn. Weltseele ist noch unschicklicher. Ich bleibe daher am liebsten bei dem stehen, was das nächste ist. Diese Einheit ist die Menschheit, und die Menschheit ist nichts anders als ich selbst. Ich und Du , wie Jacobi immer sagt, sind durchaus Eins und dasselbe, ebenso ich und er und ich und sie und alle Menschen. Es ist nur als wenn jede Facette eines künstlich geschliffenen Spiegels sich für einen abgesonderten Spiegel hielte. Es wird einmal eine Veränderung kommen, wo dieser Irrthum schwinden und wie Schuppen vom Auge fallen wird. Mehr läßt sich nicht sagen, und mehr sollte keine Metaphysik sagen. Aber daß die Menschheit auch numerisch nur Eins ist, und daß sie gar nicht das ist, was wir sehen, sondern nur, was einige Wenige ahnden, zu welcher Ahndung aber in allen Menschen die Anlagen sind, das ist gewiß, und dies sind für mich die unzerstörbaren Grundsäulen aller Metaphysik.

Ueber den Weg, den die Metaphysik nimmt und nehmen soll, habe ich auch jetzt sehr veränderte Gedanken, denen ich aber nicht recht zu trauen wage. Jeder giebt zu, daß sie das Letzte und Höchste sey. Sollte man das finden, wenn man auf die Welt und sich Verzicht thut und ein Wort hascht und auswickelt, oder ein Gefühl, was kein Gefühl, und eine Anschauung, die keine Anschauung ist, wie die Fichtische? Dem a priori, das die eigentliche Metaphysik verlangt, steht nicht die Erfahrung, sondern nur die Erfahrung im Einzelnen entgegen. Das hat schon Kant sehr gut, nur daß seine Erfahrung ein leerer Schein ist. Das wahre a priori müßte, glaube ich, die Kraft im Menschen seyn, die den eigentlichen, aber vollern Menschen reproducirt, aber ohne Anwendung auf diesen oder jenen Gegenstand, und als bloße Energie. Denn ich nehme drei Stufen der menschlichen Energie an: bloß beobachten und Sammeln; aus dem Beobachteten und Gesammelten Ideen ziehn, die Ideen sich assimiliren. Dies letzte nenne ich den Menschen produciren oder reproduciren, denn das gilt gleich. Nur aus der in Einen Strauß gewundenen Summe aller Erfahrungen und Genüsse, aller Gedanken und Empfindungen, aller Geburten des Genies und Bestrebungen des Willens kann der Gedanke hervorgehen, der eine Erweiterung der wahren Metaphysik ist, und an die Stelle des: Abgezogenen und reinen, den wahren Gespenstern der bisherigen, müssen die menschlicheren und belebenderen Ausdrücke des Allverknüpften, des Ganzen und Vollen treten.

Dieser Metaphysik, und das werden Sie mir gewiß am leichtesten glauben, entspricht dann gleich wieder ein physischer Theil. Denn wie die Menschheit Eins ist, wie einer des andern bedürftig ist, wie eins zum andern führt, Geschlechter, Nationen, Individuen, wie alles immer von einer Idee regiert wird, und wie es ein kräftiges inneres, dieser Idee entsprechendes Streben giebt, das läßt sich, und eigentlich nur da, in der Erfahrung zeigen.

Am schönsten aber bewährt sich dies System durch seine praktische Anwendung. Alle andern führen aufs höchste zu sogenannten Tugenden (die das hauptsächlichste Streben des Menschen unbestimmt lassen) und kleben daran fremde Zierrathen, einen Gott, eine Unsterblichkeit und wer weiß was an. Diese Metaphysik befiehlt menschlich zu seyn bis ins tiefste Fleisch, alles zu kennen und zu durchsuchen, und alles in ächte Menschheit zu verwandeln, sie schneidet keine Beschäftigung und keinen Genuß ab, aber nimmt von überall alles Kleinliche und Unedle hinweg. Sie braucht keinen fremden Gott und keine verheißene Unsterblichkeit. Wie überhaupt nicht, so kann auch in mir die Menschheit so wenig untergehn, als sie entstanden ist, mit der Zahl hebt sich auch die Zeit in ihrem Begriff auf, und da sie alles ist, so ist nichts außer ihr.

Aber ich gerathe ins Schwatzen, und ins Schwatzen über unreife Ideen. Doch werden Sie, da Sie mich so genau kennen, fühlen, wie alles dies mit meinen bisherigen Lieblingsbeschäftigungen zusammenhängt, ja aus ihnen nothwendig entstehen mußte. Was ich je über Nationalcharaktere wußte oder zu wissen glaubte, hat durch meinen Aufenthalt hier schon mächtig gewonnen. Ich denke auch ernstlich darauf, etwas darüber aufzusetzen. Aber ich habe einen Haß auf lange Bücher gekriegt, und habe eine Form im Sinne, die nur die Spitzen der Dinge zusammenfassen soll, wenn mir die Ausführung gelingt. Mein Sprachstudium treibe ich hartnäckiger, als je, und es reiht sich vortreflich an alle jene Ideen an. Der innre geheimnißvoll wunderbare Zusammenhang aller Sprachen, aber vor allem der hohe Genuß, mit jeder neuen Sprache in ein neues Gedanken und Empfindungssystem einzugehen, ziehen mich unendlich an. Nichts ist bisher so schändlich betrieben worden, als eben die Sprachen, ich glaube einen Schlüssel gefunden zu haben, der jede interessant zeigt, und den Pfad zu allen erleichtert, vieles davon werden Sie schon aus meinem Vaskenwerkchen sehen können, aber alles bei weitem nicht. Ich muß noch unendlich studiren, und es wird vielleicht nie zum Schreiben kommen. Das Eine schadet immer dem andern, und ich ziehe immer das Erste vor, weil es mir leichter gelingt, und mehr Genüge leistet.

Wenn Sie Sander sehn, so sagen Sie ihm doch, daß ich die Vasken nicht vergesse. Aber es ist eben erst jetzt eine Schrift in Spanien erschienen, die ich nothwendig in meine verwandeln muß, und so dauert es noch. Allein zu Michaelis, 1804. soll es sicher erscheinen .

Jetzt noch ein Paar und recht recht |sic| angelegentliche Bitten, mein lieber Freund.

1. Sie können denken, daß ich der Deutschen Litteratur nicht fremd werden will, und ich habe mir jetzt einen kurzen und nicht ungeheuer kostbaren Weg, Deutsche Bücher zu bekommen, ausfindig gemacht. Die Frage ist also nur, was man lesen muß? Sagen Sie mir also was seit meinem Weggehn von der Art erschienen ist? Die Fächer, die mich interessiren, sind ja gerade eben die, welche Sie lieben, Metaphysik, Poesie, Philologie, von Geschichte, Statistik und Politik nur das, woraus man so recht ungeheuer viel lernt. Einige Fragen muß ich noch ganz besonders thun. Ist Fichte’s neue umgearbeitete Wissenschaftslehre erschienen? oder sonst etwas Neues von ihm? Um Schellings jetziges System zu kennen, was muß man lesen? Verdienen Tieks Minnelieder über die Alpen zu gehen, und ebenso sein Octavian, wenn er erschienen ist? – Den Ion will ich nun und nimmermehr nicht. Ich habe es von Göttingen an gewußt, daß der August Wilhelm ein schaler, undichterischer Kopf, und ein unwissender Mensch ist. Trotz des seligen Aars mit dem königlichen Flug hielt ihn in Göttingen niemand für mehr. Die Kunst, aus Nichts Etwas zu machen, ist erst später entstanden. – Man schreibt mir von Paris, daß Friedrich eine Baronesse Karschine von Haßferd bei sich habe. Wer ist das, oder ist das bloß eine Verkappung der Veit?

2. Meine zweite Bitte, mein Theurer, ist wichtiger, und er fordert Verschwiegenheit und Klugheit. Der Hofmeister, den ich mitnahm, hat mich verlassen, und ich brauche einen andern, allein seit Wilhelms unglücklichem Tode ist das Bedürfniß weniger dringend. Ich höre, ein Sohn von Voß ist im Reußischen Hause Hofmeister[a], und müßte mich sehr irren, wenn Sie ihn nicht sogar genau kennen sollten. Ich sah ihn, als er noch halb Kind war, aber er, die Mutter und die ganze Erziehung im Hause gefielen mir ausnehmend.

Prüfen Sie, nach Ihrer Kenntniß meiner und meiner Frau, ob dieser Mensch sich für uns paßte, ob es ihm bei uns gefallen könnte? Er hätte jetzt bloß Theodor zu erziehen, und den Mädchen einzelne Stunden zu geben. Aber Theodor müßte er ganz besorgen. Theodor ist gegen 7 Jahr alt, muß mit Lernen, ob er gleich viel Begriffe hat, die man nicht erlernt, ganz anfangen, und ist ein Junge von gewiß treflichem Kopf und interessantem, aber eignem Charakter. Gefiele der junge Voß Ihnen dazu, so suchen Sie ihn auf eine gute Art zu fragen, ob er Lust hätte, das Reußische Haus zu verlassen und hieher zu kommen? Mehr will ich jetzt nicht wissen. Ich will und kann noch gar nichts gewiß machen, und er müßte seine ganze Lage noch durchaus unverändert lassen. Ich will jetzt nur wissen: ob ich von der Idee sogleich abstrahiren muß, oder nicht? Weiß ich das, so schreibe ich Ihnen im letzten Fall weiter. Sie sehen, daß diese Bitte Geheimniß und Delikatesse fordert, und daß ich sie darum nur Ihnen anvertrauen konnte. Auf jeden Fall brauchte ich den Menschen erst im Sommer, vielleicht gar Herbst. Können Sie mir auch sagen, welche Bedingungen er im Reußischen Hause hat, ist es mir sehr lieb.

Gentz hat mir ein Paar himmlische Briefe geschrieben. Er ist in jeder Art der Alte.

Ich habe das genie du christianisme Wort für Wort und mit unendlichem Genuß durchgelesen. Es sind himmlische Sachen darin, über alles Französische Wesen hinaus, und doch auch nicht Deutsch oder Englisch. Der Verfasser ist nicht uninteressant, aber weniger als die guten Kapitel seines Buchs. Sehr lachen habe ich müssen, daß der arme alte Reimarus einem wieder da so ehrlich aufgetischt wird. Um die Vorsehung zu beweisen, thun doch alle Leute immer besondre efforts. Denn um welches andern Zwecks willen hätte wohl ein Franzose seinen Lesern solchen ennui bereitet? – Sahen Sie schon die Clotilde Surville? Die Stael findet sie unter aller Critik. Ich kenne sie noch nicht.

Adieu, mein lieber theurer Brinckmann. Leben Sie wohl und heiter! Warum sind Sie nicht hier? Ihr Gespräch würde alles in mir klarer und bestimmter machen, und Ihre Freundschaft, die ich gewiß recht herzlich erkenne, mir ein unendlicher Trost seyn. Meine Frau grüßt Sie herzlich. Sie können denken, was sie gelitten hat.
Ihr
Humboldt.

Anmerkungen

    1. a |Editor| Siehe hierzu Anne Baillot / Enrica Fantino / Josefine Kitzbichler (2015): Voß’ Übersetzungssprache: Voraussetzungen, Kontexte, Folgen, Anhang S. 173f. (Kommentar zu S. 2 des Briefes 2): „[Heinrich] Voß sollte Ende Oktober 1803 eine Stelle als Hofmeister in Berlin bei Graf Heinrich XLIV. Fürst Reuß (1753–1832, jüngere Linie) antreten“. Dazu ist es krankheitsbedingt nicht gekommen. [FZ]
    Zitierhinweis

    Wilhelm von Humboldt an Karl Gustav Brinckmann, 22.10.1803. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/625

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