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  3. Nr. 635

Wilhelm von Humboldt an Friedrich August Wolf, 05.01.1796

Berlin, 5. Jänner, 1796.

Diese Ueberschrift wird Ihnen, lieber theurer Freund, schon den Grund angeben, warum ich Ihnen so lange nicht schrieb, u. Ihre lieben beiden Briefe in Einer Antwort zusammennehme. Da ich in einigen Jahren nicht auf einige Wochen hier gewesen bin, so häufen sich Besuche u. Zerstreuungen auf eine manchmal nicht wenig lästige Weise, u. Correspondenz u. Studiren liegen in unglücklicher Unthätigkeit. Desto mehr lebt aber das Andenken u. die innere Sehnsucht nach Ihnen u. den wenigen übrigen meiner Freunde, mit denen ich gewohnt war, ein ganz anderes Leben, u. ganz andere Beschäftigungen zu theilen.

Ganz vorzüglich hat mich Ihr Mscpt. interessirt, das ich mit großem Vergnügen u. mannigfaltiger Belehrung durchlesen habe. Freilich hat der Herausgeber nicht alles in ein so helles Licht gestellt, als man deutlich sieht, daß es nach Ihrem mündlichen Vortrag möglich gewesen wäre, indeß glaube ich doch überall Ihre Gedanken in ihrem wahren Umfang u. Ihren Zusammenhang gefaßt zu haben. Die Hauptsache ist unstreitig die Unterscheidung der Poesie vor u. nach der Prosa, und die Entwicklung der Eigenthümlichkeiten beider. Mit allem, was Sie hierüber sagen, bin ich vollkommen einverstanden, u. es ist ein entscheidender Schritt in der Kritik, die bisher alles unter einander zu werfen pflegte, diese beiden Gattungen gehörig zu sondern. Nicht weniger hat mir die Herleitung des Begriffs gefallen, den die Alten mit der Poesie verbanden, nur wollte ich diese Untersuchung von der allgemeinen philosophischen Bestimmung des Wesens der Poesie lieber getrennt, als beide verbunden wissen, da es mir überhaupt nicht nöthig scheint, zum Behuf des philosophischen Raisonnements Zuflucht bei der Geschichte zu suchen. Der allgemeine Charakter der Poesie ist, dünkt mich, kein andrer, als daß sie, selbst ein Werk der productiven Einbildungskraft des Dichters, die Einbildungskraft des Hörers in Bewegung setzen soll, u. die Definition, die Schiller einmal irgendwo angiebt, daß sie die Kunst sey, die Einbildungskraft in ihrer Freiheit mit Nothwendigkeit zu bestimmen, scheint mir zugleich die richtigste u. die fruchtbarste, sobald man gehörig versteht, was es heißt, der Einbildungskraft zugleich Gesetze vorschreiben, u. ihr ihre Freiheit lassen. Auch hat allen älteren unzulänglichen Definitionen wohl derselbe Begriff dunkel zum Grunde gelegen, vorzüglich derjenigen, welche alle Poesie zur Erdichtung macht, u. die sich auf gewisse Weise gar nicht übel vertheidigen läßt. Zwar setzen Sie ihr mit Grund entgegen, daß nicht jede Poesie z. B. die didaktische, die der ältesten Sänger im Sinn ihres Vf. u. s. w. aus Erdichtungen zusammengesetzt ist. Aber gewiß ist doch jede wahre Poesie schlechterdings nichts anders, als ein Werk der Einbildungskraft, u. selbst angenommen, daß Homer jeden Umstand, den er sang, buchstäblich für wahr hielt, so war dennoch eigentlich seine Phantasie die schöpferische Kraft. Der Unterschied der ältesten u. neuesten Sänger hierin scheint mir nemlich der: jene bringen noch schlechterdings mit der vereinten Kraft ihres Gemüthes hervor, ihre Phantasie ist nicht nur noch nicht von den übrigen Seelenkräften (so daß diese rein u. für sich zu handeln vermöchten) geschieden, sondern sie hat auch überhaupt vor allen die Oberhand. Daher kann es jenen Sängern noch nicht einfallen historische Wahrheit u. poetische Dichtung entgegenzusetzen, oder wenigstens nicht diese Entgegensetzung scharf u. rein durchzuführen, u. insofern wird jeder Stoff unter ihrer Behandlung (d|urc|h. Phantasie) dichterisch. Sobald aber, bei wachsender Cultur, die Phantasie entweder der philosophirenden Vernunft, oder der historischen Urtheilskraft Freiheit läßt, unabhängig u. für sich thätig zu seyn, so wird der Geist einer Nation, wenn auch vielleicht noch nicht ihre Sprache (wozu auch äußere Bedingungen gehören) prosaisch. Von diesem Augenblick an hört die Poesie ebenso auf die natürliche u. alltägliche Sprache zu seyn, als die Phantasie aufgehört hat, beständig geschäftig zu seyn. Sie ist es jetzt nur bei eignen veranlassenden Gelegenheiten, u. müßte eigentlich, wenn man sich eine idealisch fortschreitende Kultur denkt, sich immer weiter von der Prosa entfernen. Die Poesie müßte immer poetischer, die Prosa immer prosaischer werden. In der That war dieß, dünkt mich, in den besten Zeiten der Griechischen Literatur wirklich der Fall. Wenigstens ist es mir immer ein merkwürdiges Phänomen gewesen, daß ihre Prosa niemals, selbst nicht im Plato, als nur in einzelnen Stellen, poetisch wird. Hingegen scheint mir die Poesie schon zu Euripides Zeit u. noch mehr gleich darauf, gewissermaaßen prosaisch zu werden, theils wie z. B. Euripides Sprache in seinem Dialog selbst zeigt, theils weil man doch damals, wenn auch nicht öffentlich, so doch priuatim schon die Poesie gar sehr ohne Begleitung von Musik, u. also auf minder sinnlich-vollkommene Weise brauchte. Bei uns sind beide Arten der Verderbniß zusammengekommen, u. Poesie u. Prosa scheinen manchmal ihre Rollen geradezu zu verwechslen. Indeß lassen sich für die poetische Prosa in unsrer Sprache auch rein wichtige Gründe anführen. Unsre Poesie ist (ihrem Wesen nach) von Musik entblößt, ja unsre Sprache ist so wenig sinnlich-vollkommen, daß sie einer metrischen Behandlung große Schwierigkeiten entgegensetzt, u. dafür durch geringren Wohllaut entschädigt. Dagegen ist sie ihrer Materie u. ihrer grammatischen Form nach, so reich, so dichterisch, so bestimmt, u. so geschmeidig zugleich, daß sie sich auch den feinsten Wendungen der Phantasie u. des Gefühls u. dem mannigfaltigsten Periodenbau anschmiegt. Durch die erstere Eigenschaft macht sie, daß bei einer poetischen Prosa eigentlich kein so großer Verlust ist, durch die letztere wird sie derselben u. ihrer Vorzüge fähig. Mit griechischen Sinnen u. Organen wäre poetische Prosa eine wahre Sünde gewesen. Mit der Römischen Sprache, wo die Sünde, dünkt mich, kleiner geworden seyn würde, war sie nicht möglich. Diese hat zu abgemessene u. bestimmte Gänge u. zuviel Gravität für eine Zwittergattung dieser Art. Unsre Sprache hält eine gewisse Mitte. Ueberhaupt sehe ich die Deutsche Sprache, so wie die Nation gern von dieser Seite an. Die Griechische möchte ich die sinnlich-vollkommenste nennen; am ähnlichsten aber mit dieser ist mir die Deutsche u. sie könnte vielleicht nicht mit Unrecht die menschlichste heißen. An sinnlicher Vollkommenheit steht sie der Griechischen bei weitem nach, aber sie behauptet einen großen Vorzug vor ihr durch zwei recht eigentlich menschliche Eigenschaften 1., im Ausdruck für den Gedanken (die Philosophie) 2., im Ausdruck für die Empfindung, insofern sie nicht sowohl ein Werk der Sinne u. der Phantasie, als desjenigen ist, was wir Herz nennen. Irre ich mich nicht, so paßt eine solche Vergleichung auch in Absicht der Nationen selbst nicht übel. Daß ich indeß der poetischen Prosa schlechterdings nicht das Wort reden, sondern nur Entschuldigungsgründe für dieselbe, u. nur in gewissen Gattungen, z. B. im Werther u. einigen Trauerspielen, anführen will, versteht sich von selbst. Bei diesem Begriff von Poesie sehen Sie selbst, lieber Freund, kann ich nicht anders, als den drei Stücken, die Sie im 3ten Abschn. als das Wesen der Poesie ausmachend, aufstellen, vollkommen beistimmen, u. da Ihre Untersuchungen so größtentheils historisch sind, so ist es auch zweckmäßiger, jene verschiedenen Eigenschaften, die zwar nur vereinigt die wahre Poesie vollenden, aber auch einzeln schon hinreichen um den Namen des Poetischen zu verdienen, von einander abzusondern.

Daß das bloße metrum vorzüglich in früheren Zeiten, auch ohne allen weitren poetischen Gedanken u. Schmuck die Poesie hie u. da ausmacht, muß, dünkt mich, ganz aus der Natur jener Zeiten erklärt werden. Zwar möchte ich nicht schlechterdings bei dem Grunde stehen bleiben, daß man es als eine Hülfe des Gedächtnisses gebraucht habe, aber es scheint mir schlechterdings natürlich, daß man alles, was nicht eine solche bestimmte, in sich geschlossne Form hatte, nur so hingeredet halten mußte, u. daß es niemandem einfallen konnte, es auf die Nachwelt fortzupflanzen. Jeder Gedanke, der eigentlich bleibend erhalten werden soll, muß aus der Masse der übrigen herausgerissen, muß mit einer eignen Form begabt, gleichsam zu einem Individuum gemacht seyn. Er prägt sich sonst, wäre er auch in Erz gegraben, nicht allein nicht dem Gedächtniß ein, sondern er erregt nicht einmal Aufmerksamkeit. Ja, was noch mehr ist, in demjenigen selbst, der ihn hat, entsteht erst alsdann, wenn dieß mit demselben vorgegangen ist, der Einfall, ihn auch andern mittheilen, in Curs bringen zu wollen. Gewiß aber hat man schon in den frühesten Zeiten, u. bei den rohesten Nationen dasjenige, was einem jeden jedesmal einfällt, was[a] spricht u. singt, von demjenigen unterschieden, was als ein allgemeiner Besitz von der Vorzeit ererbt u. auf die Nachkommenschaft fortgepflanzt wird. Eine solche Sammlung von Sprichwörtern, Sprüchen, Liedern u. s. f. hat es gewiß immer u. überall gegeben, u. sie ist unstreitig der erste Stamm eines literarischen Vorraths gewesen. Ehe es nun, sage ich, jemandem einfallen könnte, irgend etwas von ihm Gedachtes diesem Vorrath zuzugesellen, mußte dasselbe eine Form haben, wodurch es sich vor allem übrigen Gedachten u. Gesagten auszeichnen, in dem es sich darstellen u. erhalten konnte. Im Grunde beruht auch noch jetzt die ganze Kunst zu schreiben allein darauf, u. die ganze Aufgabe für den Schriftsteller allgemein gelesen u. verstanden zu werden, beruht bloß auf dem Talent, seinem Werke eine so ausgezeichnete Form zu geben, daß sie sich jedem empfiehlt u. jedem einprägt, seine Gedanken, wo möglich, einem eignen für sich bestehenden organischen Wesen ähnlich zu machen. Ehe die weit schwierigere Kunst der Prosa erfunden war, gab es hiefür keine andere Form, als die metrische, u. gewiß liegt hierin der Grund, warum viele Dinge metrisch sind, die an sich nur zur Prosa geschickt scheinen. Selbst die Orakelsprüche der Pythia, die freilich bei der unzertrennlichen Verbindung der Begriffe von Begeisterung, Weissagung u. Dichtung an sich nicht anders als metrisch seyn konnten, gewannen gewiß an schneller Verbreitung u. Ansehn durch diese Form.

Ihren Untersuchungen über Aristoteles Poetik, u. der Herleitung seiner Hauptideen aus dem Plato danke ich sehr viel Licht u. Belehrung über dieß schwierige Buch. Auch hier, auch bei diesem offenbar nicht überall recht zweckmäßig nachgeschriebenen Collegio ist es mir überaus auffallend gewesen, wie sehr nur Sie gemacht sind, feine Untersuchungen dieser Art zugleich mit der nothwendigen Kritik u. doch nicht mit einem schlechterdings nicht weiter bringenden Scepticismus zu führen. Ich bewundere Ihre Belesenheit, Ihren Scharfsinn, aber noch mehr beinahe das glückliche Talent bei der Belesenheit immer zugleich die bloßen Facta in ihrer treusten Nacktheit, u. die Resultate, die sich daraus ziehen lassen, in ihrer ganzen Allgemeinheit vor Augen zu haben – die nothwendigste Eigenschaft des Alterthumsforschers u. deren Mangel mich so entsetzlich zurücksetzt.

Ihren Instanzen gegen Aristoteles μίμησις u. seine Darstellung τῶν καθ’ὅλου kann ich zwar meinen Beifall nicht versagen, indeß wenn Aristoteles hier irrt, so irrt er bloß weil er den wahren u. recht eigentlich philosophischen Begriff der Poesie empfand ohne ihn deutlich zu denken, was sich, glaube ich, leicht deutlich machen läßt, wenn man das Wesentliche der poetischen Form von dem Zufälligen des Stoffes unterscheidet. Gewiß ist es nicht nur keiner Poesie eigentlich um hist. Wahrheit zu thun, sondern es ist auch in ihrem Wesen gegründet, jede, auch die strengste historische Wahrheit unter dem Scheine der Dichtung vorzutragen. Allerdings kommt es nun zwar nebenher manchmal dem Dichter darauf an, daß das, was er sagt, für Wahrheit gehalten werde. So z. B. dem Pindar beim Lob seiner Helden, wo er sogar Eidschwüre zur Hülfe nimmt, so was Sie anführen dem Spötter in der comoedia antiqua u. im Iambicum. Aber dieß liegt bloß in dem zufälligen Zweck, nicht im Wesen dieser Poesien, die ihre poetische Wirkung, auch wenn man jedes in ihnen vorkommende Factum für falsch hielte, dennoch nicht verfehlen würden. Und sollte es nicht das gewesen seyn, wohin Aristoteles zielte? daß nemlich der Dichter, auch wenn er buchstäbliche Wahrheit behandelt, nie die Wirkung hervorbringen will, die der Historiker (selbst der am meisten dichtungsreiche) beabsichtigen müßte, das Wissen u. die Erfahrung zu bereichern, u. dem Verstande Fälle zur Beurtheilung vorzulegen, sondern die gänzlich entgegengesetzte, auf die Einbildungskraft zu wirken, u. das Herz durch Leidenschaften zu rühren. Denn auch mit dem didaktischen Gedicht, wovon nur leider so wenig Muster vorhanden sind, ist es nicht anders. Auch hier soll der eigentliche Zweck nie bloße Belehrung seyn (denn wozu sonst der poetische Apparat, man müßte denn versus memoriales machen wollen) sondern die Absicht geht, scheint es mir, dahin, dasjenige, was sonst nur durch den trocknen u. raisonnirenden Verstand erkannt wird, jetzt auch in dem Medium der Phantasie u. des ästhetischen Gefühls darzustellen, u. so der ganzen Natur des Menschen inniger einzuverleiben. Selbst wo der Zweck nicht so groß u. erhaben ist (wie bei den Acker- Krieg- u. s. w. Gedichten) sucht der Dichter doch etwas an sich bloß Mechanisches lachender u. für Phantasie u. Herz reizender darzustellen.

Daß Aristoteles ausdrücklich das metrum als nicht nothwendig zur Poesie erwähnt, ist äußerst auffallend. Indeß glaube ich nicht, daß er gleichsam aus Furcht den Gegensatz: ein Homer in Prosa bleibe doch ein Dichter unterdrückt habe. Das Wesentliche der Poesie würde er auch dem prosaischen Homer sicherlich nicht abgesprochen haben, aber die äußere Form doch unstreitig, was hingegen die Modernen, die eine poetische Prosa annehmen, nicht dürften.

Auch das Wenige, was Sie über die Silbenmaaße u. ihren Ursprung sagen, ist mir überaus belehrend gewesen. Auch ich habe mich nie überreden können, daß der senarius mit dem Hexameter gleiches Alters seyn sollte. Wenn es, wie ich mich erinnere, einige Scholiasten u. lateinische Grammatiker behaupten, so hat sie unstreitig die freilich nicht zu läugnende Aehnlichkeit beider Silbenmaaße getäuscht. Mir scheint der senarius vielmehr das jüngste unter allen dreien, den Epischen, Lyrischen u. Iambisch-Dramatischen. Denn einzelne Lyrische Gesänge giengen ja auch den Anfängen des Theaters vorauf. Ueberhaupt ist es sonderbar, wie nicht bloß diese 3 Silbenmaaße, sondern auch die Gattungen der Poesie, für die sie vorzüglich bestimmt sind, den Völkerschaften nach vertheilt sind. Denn man kann sich, dünkt mich, nicht erwehren: Ionische Sprache, Epos, Hexameter; Dorische Sprache, Hymnen, Dithyramben u. s. w. lyrische Silbenmaaße; u. At-tische Sprache, dramatische Poesie, senarien u. Anapästische Systeme in unzertrennter Verbindung zu denken. Da auch alle diese Gattungen von der Art ihrer öffentlichen Aufführung dh. Rhapsoden, Chöre, u. Schauspieler abhiengen, so war es natürlich, daß sie in einer gewissen mit den Sitten u. der Sprache der Nation verwandten Gleichförmigkeit fortdauerten. Freilich haben Dichter aus allen drei Stämmen sich in allen Gattungen versucht. Allein auffallend ist doch die überwiegende Zahl Dorischer u. Aeolischer Lyriker, u. Atheniensischer Dramatiker. Unendlich zu bedauern scheint es mir, daß wir keine andre als attische dramatische Werke übrig haben. Ich gestehe Ihnen offenherzig, daß ich mir von Pindars Tragödien schlechterdings keine Art von Vorstellung machen kann. Kommt denn wirklich gar keine andre Stelle, als die Erwähnung im Suidas davon vor, u. mag denn der Dialog ebenso attisch gewesen seyn u. in senarien, als die Chöre der Attischen Dichter Dorisch sind? Ich kann mir eine solche Gewandtheit in zwei verschiedenen Dialekten u. Dichtungsarten recht gut in Atheniensern, aber schlechterdings nicht in einem Thebaner u. noch weniger im Pindar denken. Soviel ist sicher daß der Unterschied jener 3 Silbenmaaße, die man durch Fülle, Energie u. Gewandtheit charakterisiren könnte, ganz mit dem Unterschiede der drei Dialekte u. Stämme übereinkommt. Auch darum mußte der senarius, so wie der recht ächt gebildete Attische Dialekt der späteste seyn. Ueber die eigentliche Veranlassung des senarius ist mir allerlei eingefallen, vergönnen Sie einmal bloßen Einfällen ein Ohr. Ich denke ihn mir als den attischen Hexameter, u. erkläre mir seinen Ursprung ebensowohl aus dem Hexameter, als aus dem eigentlichen Iambico. Die griechische Tragödie ist, dünkt mich, ein Zusammengesetztes aus der Heroischen u. Lyrischen Gattung, besonders im Aeschylus u. Sophokles, wo weit weniger Dialog, als im Euripides ist. Zu dem heroischen Theil, zu manchen récits wäre der Hexameter treflich gewesen, u. bei weitem besser als der Iambische Vers. Allein er widerstand dem Attischen Dialekt u. der Mannigfaltigkeit, Gewandtheit u. natürlichen Einfachheit des Dialogs, für den der Iambische Vers mehr gemacht war. Allein um der zu großen Einförmigkeit des letztern zu Hülfe zu kommen mußte man ihn mit fremden Füßen verbinden, u. so entstand die sonderbare u. künstliche Zusammensetzung des senarius, eine Behandlung des Iambischen Verses mit Hinsicht auf den Hexameter. Denn wirklich war doch das Iambicum der eigentlich Iambischen Dichter reiner, u. die Einmischung der Dactylen, die Caesur nach der 5ten Silbe, u. besonders daß diese 5te Silbe sehr oft lang u. sehr gern die 1ste eines Dactylus ( | ᵕ – | – || ᵕ ᵕ | ᵕ – | | ᵕ – ) ist, bringt eine gewisse Erinnerung an den Hexameter in den sonst so ganz heterogenen Vers. Auch haben die Tragiker dieß selbst gefühlt. Denn doch wohl nur um diese Aehnlichkeit nicht zu groß zu machen ist der 5te Fuß in allen nur ungeheuer selten, u. in dem sorgfältigeren Sophocles auch der erste nur mit wenigen Ausnahmen ein Dactylus. In dem senarius der Komiker fällt diese Aehnlichkeit (wie klein oder groß sie sey) fast ganz hinweg, da er zwar nicht (vt ajunt) licentiöser, aber noch mannigfaltiger u. daher für die natürliche, von allem Pathos entfernte Sprache noch brauchbarer ist. – In Absicht der lyrischen Silbenmaaße ist der Unterschied derer in Strophen u. Antistrophen u. derer in kurzen immer gleich wiederkehrenden kleinen Stanzen sehr auffallend, vorzüglich darum, daß nur die letztern eigentliche Canons geworden sind, welche auch andere Dichter als bekannte Formeln brauchen, da die erstern schlechterdings immer so sehr wechslen, daß im Pindar nur zwei Oden (die noch dazu eng zusammengehören) dasselbe Metrum haben. Aber woher dieser Unterschied gekommen, u. inwiefern man beide Silbenmaaße auch zu verschiedenen Gattungen gebraucht haben mag, weiß ich nicht recht. Jene größern waren wohl freilich[b] eigentliche musikalische Concerte, die letzteren wohl mehr Lieder, die jeder leicht für sich singen konnte. Findet man aber nichts Historisches hierüber? Nach dem Eindruck, den die letzteren Metra (Sapphische, Alcäische u. s. w.) auf mich machen zu schließen, kann ich sie auch nicht zu längeren Stücken geschickt halten. Vielmehr ist mir ihr Gebrauch zu langen Pindarischen Oden in Sudorius Uebersetzung[c] immer fatal gewesen. Indeß soll doch die Sappho ganze Bücher darin gedichtet haben.

Soviel, lieber Freund, habe ich unter tausend Störungen über Ihren Aufsatz hinwerfen können. Verzeihen Sie mir Inhalt u. Form, vorzüglich daß ich Ihrer Arbeit nicht schrittweise folgte. Aber das Mscpt. hat nicht viele Absätze, u. meine Zeit war so zerstückt. Nun noch Eins. Wie ich jetzt Ihre Arbeiten über diesen Gegenstand kenne, hielte ich es nur insofern für übel, sie mit dem Arist. zu verbinden, weil sie alsdann in wenigere Hände kommen würden. Aber aus diesem Grunde bin ich auch ganz für die Idee eines eignen Buchs, um dessen baldige Bearbeitung ich Sie recht dringend bitte. Kann es Ihnen Freude machen, daß ich durch ähnliche, nur bei größrer Muße sorgfältigere Briefe Theil an Ihrer Arbeit nehme, so bitte ich Sie, mir dieß Vergnügen nicht zu rauben. Denn ein Vergnügen u. ein recht recht großes ist es mir. Lesen Sie doch schlechterdings zwei Abhandl. von Schiller im 11ten u. 12ten St. d. H|oren|. über das Naive, u. die sentimentalischen Dichter. Es kommt viel über die Alten vor, u. sagen Sie mir Ihre Meynung.

Nun zum Fatalen, meiner Pindarischen Ode. – Wie haben Sie, liebster Freund, meine eigne neuliche Erklärung über die Veranlassung des Drucks derselben so misverstehn können, um noch darauf neugierig zu seyn? Ich wiederhole Ihnen noch einmal: aus bloßer leidiger Schwäche, u. in einem übereilten Moment gab ich mein Versprechen, u. die Ausführung geschah so schnell u. übereilt, u. in einer so unglücklichen Stimmung, daß ich nie ohne Schaamröthe an das Ding denken kann. Dennoch, damit Sie sehn, daß ich mich nicht schone, schicke ich Ihnen das Geschreibsel u. zum ewigen Eigenthum. Ueber die Uebersetzung werden Sie selbst urtheilen. Die Einleitung enthält nichts Bedeutendes – als den Chronologischen Irrthum. Ob mehrere Irrthümer weiß Gott. Aber am Ende derselben ist auf Veranlassung der Silbenmaaße eine Stelle im Grunde gegen Heyne, die ich um alles in der Welt zurückkaufen möchte. Ich habe sie in einem unglücklichen Moment des Dünkels hingeschrieben, u. fühle jetzt ganz wie gezwungen, herbeigezogen, gar nicht pertinent u. (da ich gar keinen Namen habe) süffisant sie ist. Sie müssen sie ebenso finden u. ich bitte Sie ausdrücklich es mir nicht zu verschweigen. Ich wünsche, daß jedermann, dem das Ding zu Gesicht kommt, es vergesse. Aber ich werde nie vergessen, wie sehr sich ein auch sonst nicht unbesonnener Mensch übereilen kann. Die Anmerk. brauchen Sie nicht anzusehen. Sie sind ganz ausgeschrieben.

Der Chronologische Irrthum, den ich im folgenden Stück noch dazu berichtigt habe, war der verzeihlichste. Der Grund desselben in Corsini u. nach diesem in Barthelemy, liegt im Dodwell de cyclis. <d.[d] 5. §. 1.> Dieser sagt nemlich, daß ob man gleich Ol. 48, 3 die erste Pyth. Feier gehalten, doch die erste Pythias Ol. 49, 3 gerechnet werde. Er beweist dieß einzig u. allein aus 3 Stellen des Schol. des Pindar (ad Ol. 12. P.[e] 3. 4.) wo dieser Schol. Pythiaden auf Olympiaden so zurückbringt, daß er dabei muß die erste Pyth. in Ol. 49, 3 gesetzt haben. Indeß ist von diesen Stellen Eine gar nicht beweisend, u. bei den beiden andern ists gewiß bloß ein Irrthum des Schol. selbst, der Ende u. Anfang der Pyth. verwechselte. Die Stelle im Pausanias, die ich Ihnen verdanke, macht alles aus. Auch danke ich Ihnen sehr für die Bekanntschaft mit Simsonis Chron. u. seine Berichtigung. Es scheint mir sehr brauchbar.

Haben Sie in Ihren Papieren etwas über Pindars Tod, ich meyne die Zeit. Corsini setzt Sie |sic| Ol. 82, 1. Aber er erwähnt gar nicht, daß dem Schol. zufolge die 8. Pyth. Ode auf einen in der 35. Pyth. gewonnenen Sieg gedichtet ist, also nach Ol. 82, 3. oder wie Corsini rechnet gar nach Ol. 83, 3. – Sie sehn, lieber Freund, daß ichs nicht an Nachsuchen u. Mühe fehlen lasse. Aber es will doch nichts rechts werden. Dieß könnte mich beinah muthlos machen.

Ich muß gleich schließen, also nur mit 3 Worten noch etwas, was mir wichtig ist. Ich hatte mir vorgesetzt, da ich jetzt mit den Dichtern ziemlich fertig bin, um einen Anfang zu machen, mir: den Charakter der griechischen Poesie zum Thema einer Abhandlung oder eines Werks zu machen. Um das Feld zu verengern, hatte ich mich auf die lyrische beschränkt, u. fürs erste gar auf Pindar. Hier hatte ich wirklich seit einigen Wochen angefangen. Aber jetzt kommt mir dieß wieder fürs Ganze zu speciell vor, u. ich werde an einen Plan erst fürs Ganze genauer denken, u. Sie mit diesem bekannt machen. Meynen Sie aber, daß ich den Pindar abgesondert mit Einwebung seiner besten Stellen in einer Uebersetzung verfolgen soll?

Eben werde ich abgerufen. Meine Frau grüßt herzlich. Tausendmal Verzeihung für diesen Brief u. ein herzliches Lebewohl!
Ihr

Humboldt.

Anmerkungen

    1. a |Editor| Mattson 1990, S. 142 Z. 128: „was er“, jedoch ist das Wort „er“ in der Fotokopie nicht auszumachen.
    2. b |Editor| Mattson 1990, S. 145 Z. 276: „feierlich[,]“
    3. c |Editor| Die erste Gesamtausgabe der lateinischen Übersetzung der Pindarischen Oden durch Nicolaus Sudorius (= Nicolas Le Sueur) erschien im Jahr 1582; bereits 1575 bzw. 1576 erschienen vom selben Autor die Olympischen und die Pythischen Oden als Einzelausgaben; siehe Francesco Tissoni, Pindarus, S. 82–93 (http://catalogustranslationum.org/PDFs/volume10/v10_pindarus.pdf). [FZ]
    4. d |Editor| Mattson 1990, 147 Z. 322: „d[iss].“
    5. e |Editor| Mattson 1990, 147 Z. 326: „P[yth].“

    Über diesen Brief

    Eigenhändig
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    Quellen

    Handschrift
    • Grundlage der Edition: Berlin, SBBPK, Ms. germ. qu. 655, fol. 99–104
    Druck
    • Brandes 1846, Bd. 5, S. 148–162; Mattson 1990, S. 138–147 Nr. 47; Mattson 2017, S. 176–185 Nr. 399
    Nachweis
    • Mattson 1980, Nr. 390

    In diesem Brief

    Werke
    Zitierhinweis

    Wilhelm von Humboldt an Friedrich August Wolf, 05.01.1796. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/635

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