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  3. Nr. 637

Wilhelm von Humboldt an Friedrich August Wolf, 22.10.1798

Paris, 22. 8br. 98.

Obgleich, liebster Freund, seit meinem letzten Briefe an Sie hier gar nichts vorgefallen ist, was Sie besonders interessiren könnte; so mag ich doch eine gute Gelegenheit, einen Brief bis Hamburg durch einen Reisenden gehen zu lassen, nicht versäumen, ihm auch für Sie einige Zeilen mitzugeben. Vielleicht sind sie Ihnen eine Veranlassung mehr, mich endlich mit einer Antwort zu erfreuen, nach der ich mich in der That recht herzlich sehne. Ich lebe noch immer auf eben die Weise fort, die ich Ihnen damals beschrieb, doch habe ich mich seitdem mehr, als vorher, mit philologischen Dingen beschäftigt. Ich habe nemlich die Vergleichung der Pindarischen Handschriften[a], die ich mir schon damals vorsetzte nun angefangen u. zum Theil vollendet. Es sind ohngefähr 12 bis 15 auf der hiesigen großen Bibliothek, zum Theil ziemlich alte. Aber ich überzeuge mich immer mehr u. mehr, daß der Pindarische Text von da her nicht viel zu erwarten hat. In der That ist die Ausbeute aus der Vergleichung der ganzen Pythischen Oden so gering, daß kaum einige Stellen auf eine recht entscheidende Weise dadurch gewinnen. Die Vergleichung des ganzen Apparats von Lesarten indeß, den man zusammen aus diesen u. den Wiener Mscpten ziehen könnte, würde einem Herausgeber immer nützlich seyn u. auch die Geschichte des Textes würde dadurch beträchtlich gewinnen. Dem Uebersetzer können sie fast gar nicht dienen, u. ich scheue mich einen großen Theil meiner Zeit auf eine Sache zu wenden, die weder mir, noch da ich sie unmöglich vollständig machen kann, noch einem andren nützlich werden würde. Ich weiß nicht, ob, als ich Ihnen schrieb, schon Caillard wieder hier angekommen war. Ich sehe ihn von Zeit zu Zeit, komme aber doch ein wenig von meiner zu vortheilhaften Meynung über ihn zurück. Er hat, denn dies wollte ich eben von ihm erwähnen, den Heynischen Pindar bei sich, von dem er (dies sey zur Bestätigung meines minder günstigen Urtheils gesagt) unendlich große Stücke hält. Ohne daß ich diesen bisher selbst genauer angesehn, kann ich mir wohl denken, wie er seyn wird, da Herrmanns Antheil bloß in der einen Abhandlung zu bestehen scheint. Sobald Caillard ihn entbehren kann, werde ich die Pythischen Oden durchgehen, u. sollte ich vielleicht finden, daß ich mit Hülfe meiner MscptVergleichungen über eine Parthie Stellen etwas Bedeutendes sagen könnte, so würde ich eine Recension dieses Pindars versuchen u. Ihnen zu beliebigem Gebrauch oder NichtGebrauch mittheilen. Soviel ich weiß sind ja auch die additamenta noch nicht in der ALZ. recensirt.

Von den Italiänischen Handschriften möchte ich Ihnen gern etwas schreiben. Aber sie sind noch so wenig geordnet, daß ich noch nicht einmal habe erfahren können, ob z.B. auch Pindare darunter sind. Doch vertröstet mich du Theil von einem Tag zum andren. Der arme Mann hat viel Noth damit. Denn stellen Sie Sich nur vor, daß er es nicht einmal hat dahin bringen können, daß man die Repositoria vorher dazu eingerichtet hat, u. anfangs alle Handschriften nur auf die Erde legen mußte. Es heißt daß 500 Mscpte aus Rom u. gleichviel aus Venedig angekommen sind. Die Wahl mag nicht die glücklichste seyn. Wenigstens war unter der Commission gerade niemand, der dies Fach genauer gekannt hätte.

Villoison habe ich noch immer nicht gesehen. Aus der projectirten Reise nach Orléans ist nichts geworden. Wie mir aber der junge Schweighäuser, der jetzt hier ist, u. ein recht angenehmer Mensch scheint, sagt, so erwartet er ihn in einigen Tagen hier in Paris, u. alsdann hoffe ich ihn gewiß zu sehen. Er soll noch immer an seiner Griechischen Reise arbeiten. Wenn diese noch erscheint[b], so habe ich beinah Lust die Uebersetzung, oder wenn es nöthig seyn sollte, Umarbeitung davon zu übernehmen. Es wäre eine sehr angenehme Veranlassung, einen großen Theil der Griechischen Literatur u. Alterthümer durchzugehen, u. selbst auf eine Reise nach Griechenland, die ich doch noch immer nicht ganz aufgegeben habe, obgleich ich sie gewiß nicht eher als in mehreren Jahren unternehmen würde, wäre es eine schöne Vorbereitung.

Bei dem Gedanken dieser Reise muß ich Ihnen doch ein Wort von meinem Bruder sagen. Er ist leider vorgestern von hier abgereist. Seine Abreise hat mich unendlich geschmerzt. Wir hatten die letzten Monate hier in demselben Hause gewohnt, alle Mittag zusammen gegessen, meist dieselben Gesellschaften besucht, kurz im eigentlichsten Verstande mit einander gelebt, u. nachdem wir so alles Angenehme des ungestörten Zusammenseyns in vollem Maße genossen hatten, mußte diese Trennung folgen, die noch dazu höchst wahrscheinlich nichts weniger, als kurz seyn dürfte. Zwar ist er nicht, wie Sie vielleicht nach Deutschen Zeitungen vermuthen, mit dem Capitain Baudin um die Welt gesegelt. Diese Weltumseglung, die ihn freilich nicht wenig reizte wird aus Mangel an den nöthigen fonds jetzt ganz unterbleiben. Aber er ist nach Algier abgegangen, um sich dort einige Monate aufzuhalten, u. von da aus den Orient zu besuchen. Er reist mit einem Schwedischen Consul, der auf einer eignen Fregatte dahin von Marseille aus übergeht, u. dieser Consul in dessen Gesellschaft er zugleich sicher u. bequem ist, war eigentlich die Veranlassung, die ihn gerade nach Algier bringt. Indeß ist der Plan auch sonst nicht übel; die Barbarei ist immer in mannigfaltiger Rücksicht interessant, u. indeß er seine Zeit dazu verwendet, sich mit derselben bekannt zu machen, müssen sich die Sachen zwischen den Franzosen u. Türken im Orient u. Aegypten aufklären. Er lag mir eine Zeitlang an, ihn zu begleiten; u. ich hatte natürlich große Lust, aber die Schwierigkeit meine Familie hier indeß allein zu lassen, hielt mich doch zuletzt zurück.

Von meiner Frau, mein lieber theurer Freund, soll ich Ihnen recht innige u. herzliche Grüße bestellen. Ihre Gesundheit ist noch immer sehr wechselnd, zwar hat sie sich im Ganzen sehr gebessert, das entsetzliche tägliche Fieber ist schon seit 8–10 Wochen ganz verschwunden; aber mit dem Eintritt des Spätherbstes kommen doch wieder andere Anstöße u. ich fürchte immer wieder für den Winter. Sie liest jetzt mit großem Antheil u. lebendigem Genuß den Vossischen Ovid. Was sagen denn Sie zu dieser Arbeit? Mich hat sie entzückt. Der Ovid hat unter der Deutschen Meisterhand, dünkt mich, Deutsche Kraft u. Herzlichkeit gewonnen, ohne an Lebendigkeit, Beweglichkeit, u. Zierlichkeit zu verlieren. Durch diese Uebersetzung vollendet Voß den Beweis seines ächten Dichtergenies. Denn wer etwas dem Homer so Ungleiches gleich vortreflich machen kann, der zeigt dadurch den Umfang seines eignen Geistes, u. die unbeschränkte Freiheit, mit der er sich im Felde der Kunst bewegt. Sie, Glücklicher, mitten in Deutschland u. unter lauter Deutschen können kaum fühlen, wieviel einem solche, eine so kräftige, hohe u. begeisterte Sprache giebt, was solche Bilder dem Sinn, solche Gedanken dem Geiste u. Herzen sind. Aber in dieser Oede, „fern von dem Schalle germanischer Rede” schlagen Deutsche Töne dieser Art ganz anders an ein Deutsches Ohr. In der That wird man hier der Herz- u. Kraftlosigkeit sehr müde, u. ich bleibe noch immer dabei, daß so manches Interessante ich auch hier für meine Neugierde antreffe, der einzige Genuß meiner bessren Kräfte doch immer ein erhöhteres u. dh.[c] den Contrast selbst lebendigeres Bewußtseyn der volleren u. kräftigeren Deutschen Natur bleibt.

Was arbeiten denn Sie, mein Lieber. Ich höre gar nichts von Ihnen; Korai, der sehr mit Ihnen in Briefwechsel zu treten wünscht, auch nicht. Erfreuen Sie uns doch beide bald mit fröhlichen Nachrichten, sagen Sie uns, daß Sie u. die Ihrigen der Dämon der Krankheit, der Sie vergangenen Winter so arg zu plagen schien, verlassen hat; wenn das ist, so sind Sie gewiß auch nicht unbeschäftigt geblieben. Bedürfte aber Ihre Gesundheit u. Ihre Stimmung noch einer Reise, so kommen Sie auf den Winter oder Frühjahr hieher. Die Gelegenheiten des bequemen u. wohlfeilen Herkommens müssen von Leipzig aus häufig seyn, u. Sie fänden doch gewiß hier viel Wichtige |sic| u. interessante Hülfsmittel Ihrer Studien. Haben Sie dann den Tag über Paris durchstrichen, so bringen Sie den Abend bei uns zu, wo Sie immer einige Deutsche oder Franzosen versammelt finden. Wir wollen Sie gerade so recht auf der Mitte des Deutschen u. Französischen Umgangs erhalten, daß Sie keins zu viel bekommen sollen.

Ich sehe, ich bin auf der vierten Seite. Lassen Sie mich, theurer Freund, noch einige Worte zum Schluß über eine Arbeit sagen, die Sie von hier aus überraschen wird. Vieweg in Berlin wird Ihnen in wenigen Wochen ein Exemplar „Aesthetischer Versuche” zuschicken, die ich hier ausgearbeitet habe, u. die eigentlich eine Beurtheilung von Göthe’s Herrmann u. Dorothea enthalten. Sie finden darin zugleich meine Begriffe über das Wesen der Kunst (die Elemente der Aesthetik) eine Erörterung des Wesens der Epopöe u. manche einzelne Bemerkungen über mannigfaltige ästhetische Gegenstände. Die Ideen, die diese Schrift enthält, haben, glaube ich einigen Werth. Wenigstens habe ich sie tief u. genau durchdacht, sie an alle Theile meines Gedankensystems gehalten u. sie nirgends in Disharmonie gefunden. Ebenso glaube ich, daß der Begriff ästhetischer Beurtheilung, der darin aufgestellt ist, Beherzigung verdient. Wegen des Stils aber, bitte ich um Ihre Nachsicht. Wer selbst so klassisch schreibt, kann mit einer Arbeit, wie diese, unmöglich zufrieden seyn. Aber es war mir unmöglich an eine gänzliche Umarbeitung zu gehen, u. die Herausgabe verzögern mochte ich auch nicht gern, weil mir der Inhalt dieser Versuche in der That werth ist. Wenn Sie Zeit hätten, wenn nicht das Ganze (ich sage dies recht offenherzig, da es immer eine Arbeit ist, ein ganzes Werk zu lesen) aber einzelne Abschnitte genauer anzusehen, so möchte ich Sie wohl um ein Urtheil bitten, besonders um ein solches, das mich in der Folge bei meinen nächsten Arbeiten leiten könnte. Denn da ich auf eine Reihe Ideen gestoßen zu seyn glaube, die sorgfältig entwickelt zu werden verdient, so wünschte ich sehr in der Kunst der Darstellung mehr Fertigkeit zu erwerben, als mir leider bis jetzt eigen ist. Dem Fehler der Dunkelheit glaube ich ziemlich entgangen zu seyn; aber ich bin dafür in den der Ausführlichkeit verfallen, u. besonders um diese Schrift um ein Beträchtliches kleiner zu machen, hätte ich sie nicht ungern noch einmal von neuem umgearbeitet, wenn es mir möglich gewesen wäre, eine noch längere Zeit hier einem Gegenstande zu widmen, für den mein hiesiger Aufenthalt mir wenigstens ganz fruchtlos blieb. – Wie ich in meinem Urtheile über Göthe u. sein Gedicht mit dem Ihrigen übereinstimme, oder nicht, wünsche ich besonders zu vernehmen. Ich bin mir bewußt wenigstens nichts aus Rücksichten gesagt zu haben, was ich nicht ganz, oder nicht so für wahr hielt. Aber genug von mir selbst. – Ich sehe, da ich diesen Brief wieder überlese, daß ich Ihnen recht eigentliches Geschwätz geschrieben habe. Allein die Nachrichten die Sie wünschten, hat Ihnen mein letzter vollständig gegeben, u. man muß sich, dünkt mich, nicht immer vornehmen, bloß wichtige Dinge zu schreiben. Sonst verschiebt man es ewig, u. die Freundschaft bedarf öfterer Erinnerungen. Möchte auch Ihnen Ihr Herz dies recht oft und laut sagen!


Humboldt.

Ich habe meine Wohnung seit meinem letzten Briefe verändert; meine Adresse ist jetzt: rue du Colombier, faubourg St. Germain, nr. 7.

Anmerkungen

    1. a |Editor| Humboldt hatte sich bereits seit Jahren mit den Oden des Pindar beschäftigt: Früchte dieser Arbeit waren der Privatdruck Pindars zweite olympische Ode (erschienen 1792) sowie in Zeitschriften "Pindars vierte Pythische Ode" (erschienen 1795) und "Pindars neunte Pythische Ode. An Telesikrates, aus Kyrene, der im bewafneten Laufe gesiegt hatte" (erschienen 1797). Die letzte zu Lebzeiten im Druck erschienene Übersetzung eines Pindar-Textes "Die Dioskuren aus Pindars zehnter Nemeischer Ode" erschien 1798. Vgl. auch die weiteren in GS VIII aufgeführten Arbeiten Humboldts zu diesem Thema. [FZ]
    2. b |Editor| Dies ist nicht der Fall gewesen; vgl. Renata Lavagnini (1974): Villoison in Grecia. Note di viaggio (1784–1786), Palermo: Istituto Siciliano di Studi Bizantini e Neoellenici, sowie Étienne Famerie (Hrsg.) (2006): Jean-Baptiste Gaspard d’Ansse de Villoison, De l’Hellade à la Grèce: voyage en Grèce et au Levant (1784–1786), Hildesheim/New York: G. Olms (Altertumswissenschaftliche Texte und Studien, Band 40). [FZ])
    3. c |Editor| D.h. „durch“.
    Zitierhinweis

    Wilhelm von Humboldt an Friedrich August Wolf, 22.10.1798. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/637

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