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Wilhelm von Humboldt an Friedrich August Wolf, 20.08.1797

|129r| Wien, 20. Aug. 97.

Ich kann nicht läugnen, liebster Freund, daß ich diesen Brief mit einer schmerzlichen Empfindung anfange. Ich schrieb Ihnen nun, wenn ich mich nicht verrechne, vor länger als zwei Monaten, ich bat Sie mir recht bald Nachricht von Sich nach Dresden zu geben, ich erinnerte Sie an Ihr Versprechen, mir allerlei zu meiner Reise Dienliches zu schicken – und bis auf den heutigen Tag sah ich keine Zeile von Ihnen. Da meine Abreise von Dresden sich auf 14 Tage über den Termin, den ich Ihnen, wenn ich mich nicht irre, geschrieben hatte, verzögerte, so glaubte ich, Sie hätten vielleicht, da Sie zweifelten, daß mich ein Brief noch dort finden könnte, einen hieher an Locella geschickt. Nun ist Locella freilich in diesem Augenblick abwesend, aber ich habe mehrere seiner Freunde gesprochen u. keinem ist etwas davon bekannt. Ich weiß nicht, welcher Ursache ich Ihr beunruhigendes Stillschweigen zuschreiben soll; ich hatte mich so herzlich darauf gefreut, mich für die Trennung von Ihnen durch einen regelmäßigeren Briefwechsel zu entschädigen, und nun sehe ich mich zwei Monate hindurch, so aller auch der kleinsten Nachricht von Ihnen beraubt. Glücklicherweise habe ich von einigen Durchreisenden, die Sie in Halle gesehn haben, z.B. dem jungen Fries gehört, daß Sie wohl sind. Ich hoffe also es ist nur Ihre gewöhnliche Briefscheu, oder vielleicht gar der Vorsatz, mir recht ausführlich zu schreiben, was Sie jetzt zurückgehalten hat, und bitte Sie nun recht herzlich diese oder welche Hindernisse es seyn |129v| mögen, recht bald zu überwinden. Ich habe meinen Briefwechsel so eingeschränkt, daß ich mit Gewißheit versprechen kann, ordentlich zu schreiben; ich schreibe eigentlich bloß Ihnen, Schillern u. Körnern, u. gewiß soll keiner von Ihnen je über vier Wochen ohne ausführlichere Nachricht von mir bleiben. Aber ich will jetzt dieß zu vergessen suchen u. Ihnen einige Worte von mir u. von hier sagen.

Mit mir geht es recht gut; mit den Meinigen leider nicht ganz so. Meine arme Frau kränkelt noch immer u. die Aerzte verheißen die völlige Wiederherstellung nur vom Italiänischen Klima, u. mein jüngstes Kind ist in diesem Augenblick recht krank an Durchfall u. Zahnen. Doch hoffe ich, soll es ohne Folgen seyn. Meine Frau grüßt Sie herzlich, u. bittet Sie mit mir, endlich Ihr langes Stillschweigen zu brechen.

Wien ist mir, seit den 14 Tagen, die ich nun beinah hier bin, schon sehr interessant geworden. Es hat freilich nicht die Mannigfaltigkeit, die z.B. Paris u. London darbieten, aber doch schon gegen die übrigen Städte Deutschlands, die ich bis jetzt sah, eine so entschiedene Eigenthümlichkeit, daß sie nothwendig jeden zum genaueren Beobachten reizen muß. Auch der allgemeine Volkscharakter hat hier schon bei weitem etwas Piquanteres, als im nördlichen Deutschland, mehr Humor, mehr Fröhlichkeit, mehr Leichtigkeit u. Gewandtheit. Er ist den Ausländern bei weitem ähnlicher u. insofern weniger Deutsch, wenn man den Begriff des Deutschen nach demjenigen Bilde fixirt, das Deutsche Cultur u. Deutsche Literatur geben, u. wo man mehr <vorzüglich> ein Gleichgewicht der Kräfte, einen Mangel an irgend etwas einzelnem Hervorstechenden oder Auffallenden bemerkt. Indeß könnte |130r| man ihn vielleicht mit gleichem Recht auch mehr Deutsch nennen, da er überhaupt mehr Charakter ist. Dieß verschiedene Verhältniß des südlichen u. nördlichen Deutschlands verdiente gewiß näher auseinandergesetzt zu werden; meinem Urtheil nach ist es keine Frage, daß eigentlich in dem südlichen eine bessere u. energischere, wenigstens elastischere Natur ist, u. wäre die Cultur der Sprache u. der Literatur von diesem ausgegangen, wie es einmal unter den Minnesängern den Anschein gewann, so scheint es keinem Zweifel unterworfen, daß der Deutsche Geist, der jetzt doch von den Ausländern, wie sehr sie auch anfangen mögen, seine Produkte zu achten, doch immer als mechanisch u. pedantisch u. nachahmend angesehn wird, bei weitem mehr Energie u. Originalität gewonnen haben würde. Freilich wäre er dann aber nicht in den Platz getreten, auf dem er jetzt auch in den Augen des vorurtheilfreiesten Urtheilers unläugbar steht, <u.> auf dem man ihn allen[a] Nicht-Deutschen collectiv genommen entgegensetzen kann. Statt, wie er jetzt ist, gleichsam der Beschauer u. Beurtheiler aller Nationen zu seyn, hätte er mit zu den Partheien gehört, u. es hätte gleichsam der Standpunkt gefehlt, aus dem sich alle übersehen lassen, u. auf den alle zurückwirken. Und ohne das, wäre es nicht möglich gewesen, was ich jetzt für wirklich erreichbar halte, daß Eine Nation gleichsam die Brücke zwischen der antiken u. modernen Welt, die sonst durch eine unendliche Kluft getrennt geblieben wären, gemacht hätte. Denn dieß, die Verbindung der Eigenthümlichkeiten der Alten u. Neuen in Eine einzige Form hervorzubringen könnte man gleichsam die Endabsicht des Deutschen Charakters nennen, oder vielmehr das, wohin jeder an seinem Theil mitzuwirken streben muß, dem es um eine wahrhaft idealische Veredlung unseres Nationalcharakters zu thun ist. |130v| Zwar läßt sich mit Grunde sagen, daß dieß Ziel jeder Nation vorgesteckt ist. Aber nur eine, die eine solche Geschmeidigkeit besitzt, sich fremden Eigenthümlichkeiten anzupassen, hat eine sichere Hofnung demselben näher zu kommen.

Vorzüglich hat mich seit einigen Tagen die Bibliothek beschäftigt. Ich hatte mehrere Dinge über die Italiänische Literaturgeschichte nachzuschlagen, wozu mir bisher immer die Hülfsmittel fehlten. Leider ist es aber mit der Benutzung der Bibliothek mit diesem Monat am Ende, da Ferien eintreten u. die Bibliothek nunmehr geschlossen wird. Die Codices habe ich bis jetzt nur flüchtig durchgesehen. Doch hat mir ein gewisser Bast, den ich hier kennen gelernt habe, u. der sich sehr mit ihnen beschäftigt, genauere Nachricht davon gegeben. Die Bekanntschaft dieses Mannes ist mir auch darum sehr lieb gewesen, weil ich glaube, daß sie Ihnen nützlich werden könnte. Er ist noch ein junger Mann, hat in Jena studirt, u. ist jetzt bei der HessenDarmstädtischen Gesandschaft angestellt. Diese Anstellung hat er aber nur angenommen, um dadurch Gelegenheit zu erhalten, hier leben u. die Bibliothek benutzen zu können. Er vergleicht jetzt ein Paar Handschriften des Aeschylus für Schütz, u. soviel ich ihn jetzt kenne, scheint er sehr gute Kenntnisse zu besitzen. Er recensirt viel an[b] der Lit. Zeit. u. eine Recension aller Bodonischen Ausgaben, die nächstens erscheinen wird, ist von ihm. Sie schätzt er unendlich, u. wünscht sehr mit Ihnen in einige Verbindung zu treten. Sollten Sie also einmal hier auf der Bibliothek etwas nachgesehen wünschen, so könnten Sie Sich an ihn, glaube ich, sehr gut wenden. Sie dürften es mir nur allgemein vorläufig schreiben, so sagte ich ihm vorläufig davon u. schriebe Ihnen seine Adresse. Von den Handschriften des Pindar, die es hier giebt, u. die noch nicht verglichen sind, sagt er mir, daß auch nicht viel Trost in ihnen |131r| zu finden sey. Sie wären sehr jung u. wichen wenig von dem gewöhnlichen Text ab, soviel er sie jetzt, zwar nur flüchtig angesehen habe. Wenn ich noch dazu Zeit finde, so sehe ich sie doch etwas genauer an. Eine eigentliche Vergleichung interessirt mich bei dieser Beschaffenheit der Mscpt. nicht genug, u. würde mich auch zu lange aufhalten, da ich im Lesen von Handschriften noch ganz ungeübt bin, u. es erst daran lernen müßte. Schade ist es, daß einige Cod. durch zu starkes Beschneiden gelitten haben sollen. So ist hier eine Paraphrase des Aristaenet in versus politicos von einem Mönch in Hydrunt. Bei dieser haben diese langen Verse meistentheils, wie ich höre, ihr Ende verloren. Der Gebrauch der Bibliothek ist erstaunlich leicht u. bequem gemacht. Man bekommt in wenig Minuten schlechterdings alles, was man verlangt, Kupferwerke, Handschriften u.s.w. u. ist in der Benutzung schlechterdings nicht genirt. – Locella ist, wie ich Ihnen schon sagte, in diesem Augenblick nicht hier. Er kommt aber in wenigen Tagen. Ich werde ihn gleich alsdann besuchen, u. in Ermanglung eines Briefs ihm Complimente von Ihnen bringen. Alter ist ein guter u. höchst gefälliger, aber sonst ziemlich ungenießbarer Mann. Interessanter scheint Polla |sic|, der bei der Bibliothek mit angestellt ist, u. sich ausschließend mit griechischer Literatur beschäftigt.

Dieser Brief, liebster Freund, ist seit ich ihn anfing, zwei Tage liegen geblieben. Seitdem haben wir hier ein Naturphänomen gehabt, das ich Ihnen doch erzählen muß. Es war am 19t eine so fürchterliche Hitze u. es ging ein so Siroccoähnlicher Wind, daß viele Leute glaubten, daß ein Haus irgendwo brenne, u. die Glut der Flamme ihnen entgegenschlüge. In diesem Winde war der Thermometerstand 31° Réaumur[c]. Dieß war den Nachmittag zwischen 3 u. 4 Uhr. Am Abend kam ein Gewitter u. nun kühlte sich die Luft bis zu 14°[d] ab, so daß in 6 Stunden ein |131v| Wechsel von 17° war. Bei diesem Wetter wahrscheinlich hat sich meine Frau verkältet u. Halsweh mit Flußfieber bekommen. Doch geht es heute schon viel besser.

Sie grüßt Sie u. die Ihrigen herzlich. Leben Sie innigst wohl, u. denken Sie manchmal an uns, wie wir so oft u. so lebhaft an Sie denken.

Wir bleiben bis zum 1st 8br. hier. Nehmen Sie aber immer an, daß wir viel früher gingen, damit Sie desto eher schreiben. Wie herzlich mich auch nur ein Paar Zeilen Ihrer Hand erfreuen würden, davon haben Sie keine Idee. Wie ists auch mit den Fragen u. Adressen für Italien?

Meine Adresse hier ist: in der Kärnthnerstraße im eisernen Mann, nr. 1002.

Von ganzer Seele Ihr
Humboldt.

Ich frankire nicht u. bitte Sie das Gleiche zu thun. Die Briefe gehen immer sichrer u. besser. Wir werden doch wohl von hier über Venedig gehen; wenn Sie Sprengeln an seine Erkundigung wegen der Karte erinnern wollen.

Anmerkungen

    1. a |Editor| Mattson 1990, S. 187: allem
    2. b |Editor| Mattson 1990, S. 188: in
    3. c |Editor| Dies entspricht 38,8° Celsius. [FZ]
    4. d |Editor| D.h. 17,5° Celsius.

    Über diesen Brief

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    Quellen

    Handschrift
    • Grundlage der Edition: Berlin, SBBPK, Ms. germ. qu. 655, Bl. 129–131
    Druck
    • Brandes 1846, Bd. 5, S. 192–197; Mattson 1990, 186–190 Nr. 67
    Nachweis
    • Mattson 1980, Nr. 517
    Zitierhinweis

    Wilhelm von Humboldt an Friedrich August Wolf, 20.08.1797. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/639

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