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Wilhelm von Humboldt an Christian Gottfried Körner, 28.11.1812

Wien, den 28. November, 1812.

Wohl war es um Vieles besser, als wir in so großer Nähe wohnten, liebster Freund, und niemand kann den Unterschied lebhafter fühlen, als ich. Aber dennoch hat mir Ihr lieber Brief eine herzliche Freude gemacht, ob Sie gleich ganz Recht haben, und ich es sogar jetzt mehr fühle, als sonst, daß der Briefwechsel eigentlich keine einzige der Freuden hat, die das Gespräch so reichlich darbietet. Man ist in Briefen immer zu arm, oder zu reich, zu wasserklar, oder zu dunkel. Es hat mich ungemein gefreut zu sehen, daß Sie und die Ihrigen wohl und vergnügt sind. Uns hat, wie Ihnen Ihr Sohn vielleicht geschrieben hat, die Gesundheit in diesen letzten Wochen wenig zugesagt. Meine Frau fing an unpäßlich zu werden; dann aber bekam unser kleiner Herrmann plötzlich ein Fieber, das sich bald als ein Nervenfieber ankündigte. Er ist jetzt in der Besserung, war aber einige Tage hindurch äußerst gefährlich. Die Gesundheit meiner Frau konnte sich bei der Unruhe, dem Wachen, und der ewigen geschäftigen Sorge auch nicht herstellen; die Krankheit wurde nur vergessen, nicht geheilt, und so leidet auch sie noch, wenn sie gleich nicht bettlägerig ist. Nach und nach, hoffe ich indeß, soll Alles sich wieder herstellen. – Ich bin ziemlich fleißig gewesen. Meine Uebersetzung des Agamemnon, die ich Vers für Vers so gut als ganz neu umgearbeitet habe, wird hoffentlich noch vor Neujahr ganz beendigt seyn. Ich bin schon bei der letzten Scene, muß aber wieder zu der ersten umkehren. Ueber das Gelingen habe ich selbst kein Urtheil. Aber die Arbeit macht mir, trotz ihrer unendlichen Mühsamkeit, da wohl noch kein Uebersetzer es so streng mit dem Silben maß genommen hat, sehr viel Freude. Ich habe von jeher ein unendliches Gefallen an Rhythmus in der Rede gehabt, und ein schöner Silbenfall wirkt sehr oft, ohne alle Rücksicht auf den Sinn, im eigentlichsten Verstande begeisternd auf mich. Es scheint dies dasjenige zu seyn, wodurch sich meine Natur für den Mangel alles eigentlich musikalischen Sinnes entschädigt. Außerdem aber liegt im Agamemnon eine so unendliche Größe, daß ich sagen möchte, daß in diesem Stück alle tragische Erhabenheit, der furchtbarste und doch so durchaus künstlerische Schauder, von welchen man sonst nur Fragmente und noch besonders umhüllt und eingewickelt erblickt, auf einmal und nackt hypostasirt ist. Ich weiß nicht, ob Ihnen der ganze Gang des Stückes recht gegenwärtig ist; allein in keinem andern ist die Katastrophe so gerade, so nackt, so ohne den Leser nur einen Augenblick in Zweifel zu lassen hingestellt. Es hat daher auch gar keine Verwicklung, man weiß, auch dem Stück nach, vom ersten Augenblick an, was vorgehen wird, und sieht das große Schicksal sich langsam nähern. Vorzüglich schön aber sind gleich tragische und furchtbare Ereignisse, die ganz außer dem Stücke selbst liegen, benutzt: das Opfer der Iphigenie, als erste Ursach und Grund zu Allem Folgenden, aber selbst, wenn auch dunkel, ruhend auf dem allgemeinen Schicksal der Pelopiden, und dem Bruderzwist, Klytämnestras Ermordung durch Orest, und die Einnahme von Troja, gleichsam als Hintergrund des Ganzen, in dasselbe um so inniger verwebt, als der Uebermuth, mit dem Agamemnon die Griechen zur Rächung seiner Familienehre in den Kampf geschickt hat, auch seinen Untergang rechtfertigt. Der erste Chor in der zweiten Scene und die vorletzte zwischen dem Chor und Klytämnestra umfassen diese ganze Entwicklung und Erklärung der Handlung und ihrer Darstellung, und in der letzten ist der Charakter der Klytämnestra in einer so furchtbaren Größe aufgestellt, daß alles Gräßliche von ihr abgewälzt wird, und nur die Furchtbarkeit des Schicksals dieses ganzen Geschlechts stehen bleibt. Ich bin sehr begierig, wie Sie mit der Uebersetzung zufrieden seyn werden. Darin jedem auch nur sehr zu genügen, ist sehr schwer, da jeder fast andre Foderungen macht, oder wenigstens auf andre mehr Gewicht legt. Ich denke gewiß, Ihnen auf Ostern das Ganze gedruckt schicken zu können. – Ihr Sohn ist fortwährend in neuen Compositionen sehr fleißig gewesen. Er hat, wie er Ihnen geschrieben haben wird, zwei Stücke, Rosamunde und Hedwig gemacht. Ich habe nur das erstere gelesen. Da mir einiges nicht recht consequent Angelegtes im Plan schien, so habe ich es ihm gesagt, und er hat sehr willig, ja ich möchte sagen, auf flüchtige Bemerkungen zu willig geändert. Ich bin ganz Ihrer Meynung, daß sein schnelles Arbeiten, solange das erste Feuer noch dauert, nicht aufgehalten werden muß; ich habe darum sogar sehr sorgfältig meine Bemerkungen über seine ersten Productionen verschwiegen, und ich bin noch jetzt überzeugt, daß es besser war. Jetzt kann man mit mehr Freiheit mit ihm über alle reden, weil er fester, und mit Recht seines Erfolges gewisser ist. Die einzige Sache, die ich jetzt bei ihm fürchte, ist, daß er zu sehr das Dramatische im Auge hat, und darüber das Poetische vernachlässigt. Dies wird Ihnen auf den ersten Anblick sonderbar vorkommen, es ist doch aber sehr wahr. Es ist nemlich ganz verschieden, ob die Handlung eines Stücks mit großer Lebendigkeit dargestellt ist, und ob diese Handlung selbst, dargestellt wie es nun sey, einen tiefen Eindruck hervorbringen, große Empfindungen und Gedanken an regen kann. Wenn das Erstere, auch ohne das Letztere, gelingt, so kommt allemal Effect hervor; denn da jede Tragödie doch immer mit heftigen Leidenschaften zu thun hat, so fehlt es weder an Furcht und Schrecken, noch Mitleid. Aber wie die einzelne Rührung vorbei ist, bleibt nichts übrig, es haftet nichts nach der Vorstellung, und kein Theil des inneren menschlichen Lebens, was doch eigentlich das Wichtigste und Letzte in allem poetischen Streben ist, ist auf eine neue, und nur durch Poesie erreichbare Weise ins Idealische übergegangen. Das Publikum im Ganzen und vorzüglich der Schauspieler begünstigen solche Stücke immer sehr, und da Ihr Sohn hier sich in Rücksicht seiner Kunst fast nur an Schauspieler halten kann, so ist auch er mehr auf diese Seite hingetrieben worden. Darum halte ich hierin für das sicherste Besserungsmittel, daß er, wie er ohnehin bald thut, Wien verläßt, und zu Göthe kommt. Den Aufenthalt in Weimar halte ich darum so vorzüglich gut, weil er Ihren Sohn zu einem ernsteren poetischen Streben bringen wird, ohne ihn weniger lebendig für das so unendlich nothwendige theatralische Streben zu machen, und wie Ihr Sohn einmal ist, wird immer nur das Leben recht stark auf ihn wirken. Es ist zum Beispiel unläugbar, daß es ihm gut und sogar nöthig wäre, mehr eigentlich zu studiren, vorzüglich alte und ausländische Poesie. Er ist wirklich nicht müßig, er treibt sogar viel Geschichte; allein immer zu sehr im Zweck seiner nun angenommenen Arbeitsweise, vorzüglich um Stoffe zu neuen Compositionen zu suchen. Es ist aber natürlich, daß nur ein gleichsam uneigennütziges, frei durch das Interesse am Gegenstande geleitetes Studium den wahren innern Gehalt geben kann, den niemand so wenig entbehren kann, als der Dichter, da sonst sein unmittel bares Geschäft ihn in die Gefahr bringt, für Gehalt zu nehmen, was es nicht ist. Ich habe Ihren Sohn wohl hie und da dazu angemahnt, allein so voll guten Willens er ist, wird er nie viel durch eigentlichen Vorsatz wirken, in Weimar wird von selbst durch den bloßen, unendlich gehaltreicheren Umgang die Lust sich mehr entwickeln, und dann wird ihm sein hiesiger Aufenthalt immer sehr nützlich gewesen seyn, und ihm gerade dasjenige gegeben haben, was er an einem andren Orte und auf einem andren Wege nicht leicht je hätte er reichen können. – Ich habe Ihnen so ausführlich und offenherzig über Ihren Sohn geschrieben, liebster Freund, weil ich mich ausnehmend für ihn interessire, und weil ich weiß, daß Sie diese Offenheit lieben. Ich bin in mir überzeugt, daß, so viel Verdienst auch seine Productionen schon jetzt haben, er künftig noch etwas viel Ausgezeichneteres leisten wird, und ich freue mich dessen im Voraus mit Ihnen. Empfehlen Sie mich Ihrer Frau Gemahlin und Ihrer Schwägerin auf das freundschaftlichste, und schreiben Sie mir recht bald einmal wieder. Meine älteste Tochter schließt ein Briefchen an die Ihrige ein, und meine Frau grüßt Sie alle herzlich.

Leben Sie herzlich wohl! Ganz der Ihrige.
H.
Zitierhinweis

Wilhelm von Humboldt an Christian Gottfried Körner, 28.11.1812. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/647

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