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Wilhelm von Humboldt an Johann Wolfgang von Goethe, 28.06.1797

|1*| Dresden, den 28. Jun. 97.

Es ist nicht ganz meine Schuld, liebster Freund, daß ich Ihren liebevollen Brief vom 8.ten d. erst so spät beantworte. Er ist mir, da er mich nicht in Berlin gefunden hat, erst spät durch Vieweg zugekommen.

Ihre Aenderungen der angezeigten Stellen hat mir Vieweg nicht mitgeschickt. Er schreibt mir indeß, daß er, zwei ausgenommen, von allen übrigen hat Gebrauch machen können. Ich bewundere, wie unermüdet Sie beschäftigt sind, diesem schönen Werke auch die letzte Vollendung zu geben, und da s Sie es wünschen, so sollen meine kleinlichen Bemerkungen auch mit dem Druck selbst noch nicht aufhören.

Der Schluß des Ganzen, den Sie mir zugleich mittheilen, ist Ihnen vortreflich gelungen. Er hilft das große Bild von der Lage der Zeit u. der neuen Umstaltung der Dinge, worauf das ganze übrige Gedicht, wie auf einer ungeheuren Basis ruht, treflich vollenden, u. die Gesinnungen der beiden Verlobten Dorotheens greifen so schön ineinander ein, daß Sie nun im eigentlichsten Verstande alles umschließen, was nur über diesen Gegenstand menschlich gedacht u. empfunden werden kann. Die unerwartete Erscheinung des ersten Geliebten thut eine sehr große Wirkung. Sie gewinnen dadurch den großen Vortheil einen höheren, kühneren, weit mehrumfassenden, heldenmäßigeren Charakter |2*| auftreten zu lassen, u. mit dem Interesse des Ganzen zu verknüpfen, als der übrigen Anlage Ihres Plans nach möglich war. Die beiden Hauptarten des menschlichen Daseyns, die Sie selbst an einem andren Ort so meisterhaft schildern, das unruhige Streben nach Erweiterung u. Veredlung, u. die bescheidene Beschränktheit, die nur auf der kleinen ihr angewiesenen Stelle thätig ist, stehen dadurch unbeschreiblich lebendig u. individuell durch die Schilderung so weniger Verse da. Aber was dann so vorzüglich groß ist, ist, daß der ruhige Hermann eigentlich nicht minder heldenmäßig erscheint, als der andre; er zeigt vielmehr eine Stärke u. Festigkeit des Entschlusses, die nur durch Vernunft u. richtigen praktischen Sinn geleitet, sich in bescheidenen Schranken hält; u. der ganze Unterschied zwischen beiden liegt vielleicht in Einflüssen des Himmelstrichs u. der Nationalverschiedenheit. Denn auch dieß haben Sie so meisterhaft benutzt, u. dem Deutschen, (der Ihnen, wie ich gern einmal recht umständlich ausführen möchte, für die idealische Darstellung seines Charakters schon so viel schuldig ist) wieder einen sehr edeln Platz angewiesen.

Dieser Schluß vollendet nun zugleich, wie es mir scheint, den Begriff des Epischen in Ihrem Gedicht, vorzüglich im Gegensatz mit der Idylle. Die Idylle kann in der That |3*| nicht mehr als Eine Stimmung des menschlichen Gemüths kennen, bloß die beschränkte, die auf Ruhe u. Glück bloße Zufriedenheit geht. Das kühne Bemühen des Völkerverbeßrers, das rastlose Streben des Weltumseglers, der emsige Fleiß des Naturforschers, selbst der höhere Standpunkt des Philosophen, mit dem er sich über die bloße Wirklichkeit erhebt, alles dieß ist der Idyllenstimmung nicht bloß fremd sondern entgegengesetzt. Sie ist schlechterdings nur das Bild Einer Hälfte der Menschheit, u. ich habe oft gedacht, ob es nicht eine Gattung der Dichtart geben müßte, die ebenso ausschließend nur die andre schilderte. Das Epos allein umfaßt die gesammte Menschheit, vereinigt zugleich Flug des Geistes u. Ruhe der Empfindung, u. fügt alle Elemente menschlichen Daseyns zu Einem großen Ganzen zusammen. Dieß finde ich in so hohem Grade in Ihrem Hermann u. dieß macht ihn mir besonders so vorzüglich werth.

Einige einzelne Verse in diesem neuen Schluß sind zugleich so glücklich gesagt, daß sie einen unbeschreiblichen Eindruck machen. So die beiden:

Alles regt sich, als wollte die Welt, die gestaltete, rückwärts
Lösen in Chaos u. Nacht sich auf, u. neu sich gestalten.

Nur daß Sie im zweiten Vers „gestalten“ wiederbringen, |4*| gefällt mir nicht ganz. Es ist nicht bloß die Wiederholung, an der ich mich stoße. Es ist mir aber, als forderte der Zusatz „neu sich gestalten“ auch eine Partikel bei dem ersten „ge „die gestaltete“ Doch was doch nicht angienge. Doch wird es freilich schwer seyn, einen andren gleich passenden Ausdruck zu finden. Sonst kann ich nicht sagen, daß mir auch nur Kleinigkeiten in diesem Schluß aufgefallen wären. Das Ganze schien mir gar sich noch nicht so rein u. ohne Anstoß lesen zu lassen <als die vorigen Gesänge>; doch konnte ich nicht finden, wo es im Einzelnen stockte, u. überdieß schrieben Sie mir ja, daß Sie es noch hie u. da umändern.

Es schmerzt uns sehr, daß Sie uns beinah die Hofnung wiedernehmen, uns jenseits der Alpen zu sehen, u. daß wir vielleicht auch Meyer verlieren. Sagen Sie mir doch recht bald etwas Näheres. Alexander grüßt Sie herzlich; ebenso meine Frau, die noch innig über die Güte u. Liebe, die Sie ihr in Jena erwiesen haben, gerührt ist. Leider ist sie seit einigen Tagen wieder nicht recht wohl. Wir bleiben bis zum 12ten Jul. hier. Solange ist unsre Adresse: An H. v. H. den Aelteren (nicht: LegationsRath) im gräfl. Hagenschen Hause am Markt. Später: bei Körner abzugeben. Sobald ich nach Wien komme, melde ich Ihnen unsre dortige Wohnung. Die Briefe an Sie schicke ich bis auf weitre Nachricht an Schiller.

Leben Sie herzlich wohl u. reisen Sie recht glücklich!
Ihr
H.

Über diesen Brief

Eigenhändig, Kurrentschrift
Schreibort
Antwort auf
-
Folgebrief
-

Quellen

Handschrift
  • Grundlage der Edition: Weimar, GSA, Goethe, egg. Br. 439, Nr. XVI
Druck
  • Bratranek 1876, S. 38ff.; Geiger 1909, S. 39–42; Rößle 1952, S. 167ff.; Mandelkow 1965–1969, Bd. 1, S. 273ff.
Nachweis
  • Mattson 1980, Nr. 510
Zitierhinweis

Wilhelm von Humboldt an Johann Wolfgang von Goethe, 28.06.1797. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/652

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