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Wilhelm von Humboldt an Caroline von Humboldt, 17.05.1819

Frankfurt, 17. Mai 1819

Ich schreibe Dir heute, liebe Li, an Adelheids Geburtstag, und gestern war der Carolinens. Ich habe dem lieben Kinde einige Zeilen geschrieben, die ich hier beilege. …

Jetzt erwarte ich mit der lebhaftesten Ungeduld Deinen Brief aus Perugia. Die gute Gabriele schreibt sehr lieb und geduldig über die längere Trennung [von Bülow]. Es ist mir sehr merkwürdig gewesen, wie sie hübsch schreibt (unter uns beiden gesagt), viel besser als ihre Schwestern. Sie hat etwas viel Ausgebildeteres in ihrer Art sich auszudrücken, und immer Geist und Lebendigkeit. Es ist ein wunderhübsches und liebenswürdiges Wesen in allem. Ich müßte mich sehr irren, wenn sie nicht überhaupt, ob ich gleich nicht finden kann, daß sie Dir im Gesicht gleich sieht, am meisten im Inneren von Dir hätte.

Unser Burgörnerscher Nachbar[a] war immer ein höchst leerer, flacher, in allem Wesentlichen und Besseren unbedeutender Mensch. Was Du darüber sagst, daß solche Menschen gerade dieselben Worte brauchen, die man von denen hört und gewohnt ist, an die einen wahre und tiefe Empfindungen knüpfen, ist sehr schön und unendlich wahr. Überhaupt ist das an den Wörtern am meisten zu bewundern, daß sie manchmal nur wie eine leere Hülle sind, in die nichts oder etwas ihnen ganz Unähnliches gekleidet wird, und daß sie manchmal einen Sinn und Gehalt haben, den sonst niemand in ihnen ahndet und fühlt. In dieser Art sprechen recht selten zwei Menschen dieselbe Sprache, und der meiste menschliche Umgang besteht bloß darin, daß die Menschen sich einbilden, einander zu verstehen. Es ist schon recht viel, wenn zwei Menschen nur dahinkommen, die Grenzen zu erkennen, innerhalb welcher ein anderer den Begriff setzt, den er ausdrücken will. Die Sache selbst, dahin kommt es fast nie. Das wahre Verstehen in diesem Sinn muß wirklich aller Sprache vorausgehen, es ist nie durch den Verstand, immer nur durch die Empfindung und die angeborene Gesinnung möglich. Allein um auf den Fall zurückzukommen, von dem Du schreibst, so ist darin die Welt viel schlimmer geworden. Noch in unserer Jugend war wenigstens das hübsch, daß eine ganze Menge von Menschen, alle frivolen, alle sehr vornehmen, alle trockenen Geschäftsleute, alle bloß derb und roh an der Wirklichkeit Hängenden, eine ganze Menge von Wörtern in der Sprache niemals brauchten, und der Umgang mit diesen Wörtern einem Kreise vorbehalten blieb, in den man doch durch irgend etwas eingeweiht sein mußte. Man riskierte gar nicht, daß der, welcher doch den Begriff nicht fassen kann, das Wort aussprach, und man hütete sich auch sehr, es gegen ihn zu brauchen. Aber durch das Abkommen des Französischen und die lateinischen Brocken im Deutschen, durch das viele Lesen und Hören auf der Bühne von Schiller und Goethe ist die Sprache gemein geworden, und man muß erleben und dulden, daß das Sprechen von Menschen, die mit einem nichts ähnliches haben, als daß sie auf zwei Beinen gehen, ebenso klingt, als wenn man selbst spricht. Es gibt aber nichts Schrecklicheres, als wenn ein Fremdartiger in den eigengeweihten Kreis tritt. Viel eher kann man selbst daraus hinausgehen. Ich habe noch jetzt eine ordentlich kindische Scheu, mit den Leuten von Dingen zu reden, die über ihren Begriff gehen, und es wirkt bei mit immer als Scham, und als wenn ich unrecht hätte. So habe ich mich noch neulich überrascht, daß ich ganz rot geworden bin, da der verrückte Schatten [?] vom Agamemnon mit mir gesprochen hat. Die Unwissenheit, Einfalt und Beschränktheit als eine Vornehmheit zu behandeln, die man über sich in stiller Ruhe und Sicherheit sitzen läßt, hat mir immer nicht nur eine bequeme Lebensansicht geschienen, sondern auch eine geschmackvolle. Denn wenn man diese Dinge nicht mit einer Art willkürlichem Glanze bekleidete, fielen sie ja ganz platt zu Boden. Nur sollten sie sich dann freilich auch aller tiefen menschlichen Ausdrücke enthalten.

Stein schreibt mir von Zeit zu Zeit, vielleicht gehe ich noch diese Woche auf ein paar Tage zu ihm. Es muß sehr hübsch mit ihm allein in Nassau sein, noch dazu da das Wetter merkwürdig heiter ist.

Anmerkungen

    1. a |Editor| Sydow 1906–1916, S. 540: Graf v. der Schulenburg-Klosterrode.

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    Quellen

    Handschrift
    • Ehem. Berlin, A. v. Sydow (verschollen)
    Druck
    • Grundlage der Edition: Sydow 1906–1916, Bd. 6, S. 540–542. – Kappstein 1917, S. 334ff.
    Nachweis
    • Mattson 1980, Nr. 6855
    Zitierhinweis

    Wilhelm von Humboldt an Caroline von Humboldt, 17.05.1819. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/693

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