Wilhelm von Humboldt an Franz Bopp, 08.06.1829
|1*| Ew. Wohlgeboren danke ich herzlich für Ihr gütiges Schreiben vom 29. und dessen Beilagen. Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie mir aus der Königlichen Bibliothek, oder der der Akademie den 3. Band der Holländischen Akademie verschaffen könnten. Er soll eine Abhandlung über Denkmäler auf Java enthalten.
Die Bogen Ihrer lat. Gramm. habe ich schon zum Theil mit lebhaftem Interesse durchgesehen, und werde es noch thun, u. Ihnen gelegentlich meine Bemerkungen, wenn Sie es erlauben, mittheilen.
Die Classificirung der Declinationsbeugungen nach dem Consonantengewicht der Themata,
die man benutzt, scheint mir sehr sinnreich und erleichternd für das Gedächtniß.
Es entdeckt sich auch dadurch eine neue Analogie in der Sprache. Nur ist mir
aufgefallen, warum Sie nicht für die Neutra der Adjectiva dieselbe alternative,
als für die Feminina angenommen haben. Denn der Dualis {śrīmatī} ist
um nichts schwächer, als der Singularis
{śrīmat} und soll doch, wie
die Regel gestellt ist, die Analogie des Schwächsten haben.
Ob Ew. Wohlgeboren gut gethan haben, die Casus selbst in starke und schwache einzutheilen, stehe ich noch an zu entscheiden. Denn 1. theilt derselbe Casus diese doppelte Note, z. B. der Nominat. der im Masc. st stark, im Neutrum schwach ist. Starke u. schwache Declination scheint mir daher ein richtigerer Ausdruck, als die Uebertragung auf Casus selbst. Zweitens ist der Sinn dieser Benennung im Sanskrit doch nicht ganz dem gleich, an den uns Grimm im Deutschen gewöhnt hat. Endlich hat die Einführung einer neuen Terminologie in eine alte Sprache, die einmal ihre eigenthümliche hat, meinem Urtheil nach, immer etwas Bedenkliches. Vielleicht aber bin ich nur zu furchtsam.
In r. 109. scheint mir der Ausdruck: illas radices –
immutant zu allgemein und nicht richtig. Die Deutsche
Ausgabe r. 110. sagt auch: die Indischen Grammatiker schreiben alle
mit {n} anfangende Wurzeln
mit
{ṇ}. Allein in allen
Wurzelverzeichnissen, bei
Wilkins,
Carey, finde ich ja Wurzeln mit dem
lingualen u. Wurzeln mit dem dentalen
n. Da nun doch auch die letzten ihr
n nach einem
r-Laut verwandeln, so kann der Grund,
warum die Grammatiker einigen Wurzeln das linguale
n geben, nicht jene Verwandlung seyn, wie
Ew. Wohlgeboren es vorstellen. Man schreibt z. B.
{praṇudati} od.
{praṇedus} und die Grammatiker
schreiben von ersterem
{ṇud}, von zweitem
{nad}. Hierzu müssen sie
mithin einen andern Grund gehabt haben. Ich fange daher an, zweifelhaft zu
werden, ob man behaupten kann, wie Sie in der D. Gr.
110. thun, daß keine Wurzel mit
{ṇ}, anfängt, oder
wenigstens |2*| ob man gut thut, wie
Rosen gethan hat, alle
*
Anfangs-
{ṇ}
der Wurzeln auszumärzen. Man vertilgt dann ganz das Andenken an einen historisch
doch gemachten Unterschied zwischen Wurzeln mit diesem u. jenem n, was doch, wenn man auch den Grund des Unterschiedes
nicht kennt, nicht rathsam ist. Wahr bleibt es indeß immer, daß die abermalige
Veränderung des
{ṇ} in
{n} in der ganzen übrigen Conjugation gar
nicht zu erklären ist. Ich halte aber, wie Sie schon wissen, die Wurzeln nicht
für bloße Fictionen, und da wäre es immer möglich, daß
die Wurzel, als solche, einen Anfangslaut hätte, den sie im flectirten Gebrauch
verlöre. Ich wünsche sehr Ihre Meinung hierüber zu erfahren. Wie dem aber sey,
so ist die Fassung von r. 109 d. lat. u. 110. d. d. Gr. immer, wie es mir scheint, einer Berichtigung
bedürftig.
Schlegel hat mir geschrieben. Er will nichts von unsrer Worttrennung hören u. vertheidigt sein System. Er führt aber gar keine neuen Gründe an, und meine Ueberzeugung befestigt sich dadurch nur noch mehr.
Da Sie mich so gütig mit einem neuen Exemplar Ihrer Episoden beschenkt haben, so lege ich Ihnen die 15 Bogen bei, die ich früher erhalten hatte. Ich habe in meinem neuen Exemplar die Sündflut mit Interpunktion versehen, u. finde, daß es sich viel besser so liest.
Leben Sie herzlich wohl! Mit innigster Freundschaftder Ihrige,
Humboldt.
Tegel, der 8. Junius, 1829.
|3*–4* vacat|
Über diesen Brief
Quellen
In diesem Brief
- Bopp, Franz (1824): Ausführliches Lehrgebäude der Sanskrita-Sprache, Berlin: Dümmler
- Bopp, Franz (1829): Die Sündflut nebst drei anderen der wichtigsten Episoden des Maha-Bharata, Berlin: Dümmler
- Bopp, Franz (1829): Grammatica critica linguae Sanscritae, Berlin: Dümmler
- Carey, William (1806): A Grammar of the Sungskrit language, composed from the works of the most esteemed Grammarians, to which are added examples for the exercise of the student, and a complete list of the Dhattoos or Roots, Serampore: Mission Press
- Grimm, Jacob (1819): Deutsche Grammatik, Göttingen: Dieterich
- Reuvens, Caspar Jacob Christiaan (1826): Verhandeling over drie groote steenen beelden in den jare 1819 uit Java naar de Nederlanden overgezonden. In: Gedenkschriften in de hedendaagsche talen van der derde klasse van het Koninklijk Nederlandsch Instituut van Wetenschappen, Letterkunde en Schone Kunsten, Deel III, i–vii, 1–223
- Rosen, Friedrich August (1827): Radices Sanscritae, Berlin: Dümmler
- Wilkins, Charles (1808): A Grammar of the Sanskrita Language, London: Bulmer, Black, Parry and Kingsbury
Zitierhinweis
Dieses Dokument als TEI-XML herunterladen Frühere Version des Dokuments in der archivierten Webansicht ansehenDownload
Versionsgeschichte