Wilhelm von Humboldt an Barthold Georg Niebuhr, 28.05.1827
|1r| Als ich, verehrungswürdigster Freund, Ihren Brief – ich bekenne es heute mit Schaam vom 21. Januar – erhielt, war es meine Absicht, ihn auf der Stelle zu beantworten. Er hatte uns allen wegen der guten Nachrichten von Ihnen und Ihrer Familie und mir insbesondre wegen so vieler interessanten Winke, die er enthielt, eine wahrhaft herzliche Freude gemacht. Allein zuerst las ich Ihre wirklich neue Römische Geschichte und so rückten wir im Februar vor, und ich sah mit Schrecken, daß ich am Ende Aprils zweimal in der Akademie lesen mußte. Ich hatte nicht das Mindeste vorräthig, und so mußte ich, und wirklich mit Anstrengung, zwei Monate gänzlich darauf verwenden. Ich gehöre weder zu denen, die schnell arbeiten, noch zu denen, bei welchen sich leicht etwas in ganz kleinem u. doch gehaltvollem Umfang gestaltet. Auch in diesem letzten Vorzug habe ich Ihre einzelnen Abhandlungen wahrhaft bewundert. Solche Aufsätze können nur aus einem langjährigen Studium, und einer großen Gelehrsamkeit, die ein weites Feld der Wissenschaft längst umfaßt und durchdrungen hat, hervorgehen, und sie gewinnen dadurch einen noch größeren Reiz, daß sie unmittelbar dies Gefühl im Lesen hervorbringen.
Die neue Ausgabe Ihres Werkes hat mir für Sie und für den Gegenstand einen unendlich schönen und beruhigenden Eindruck gemacht. In Forschungen leben Viele, und es gelingt ihnen auch darin in höherem oder geringerem Grade. Aber ein |1v| Werk, was wirklich diesen Namen verdient, wird sehr selten zu Stande gebracht, ja ich möchte sagen noch seltner in Deutschland, als in Frankreich und England. Die Deutschen haben meistentheils, schon in ihrer Intention, in ihrer Wahl zu Bearbeitung eines Stoffs Ideen, denen als incommensurablen Größen kein Werk gleich werden kann. So ist es namentlich Schillern meist, Göthen oft gegangen. Das mag aber noch zu ertragen seyn, wenn wirklich solche Ideen zum Grunde liegen. Aber diese Art zu arbeiten, dient auch zum Prätext, daß man sich bei allen Arbeiten wenig aus Vollendung macht, daß man zufrieden ist, Forschungen an einander zu reihen, Gewisses und Vermuthetes an einander zu reihen, und es dem Zufall zu überlassen, wie dies etwa möge berichtigt und vervollständigt werden. Was Sie mir also sagen, daß Sie gewiß sind, in allem Wesentlichen die Wahrheit gesagt zu haben, zeigt gerade das an, was ich eben als uns fehlend schilderte. Soweit Sie nun in der Römischen Geschichte gekommen sind, ist eine auf immer abgeschlossene, fertige Sache auf die man nicht zurückzukommen braucht, und auch nicht mehr zurückzukommen kann. Meiner innersten Ueberzeugung nach, macht aber auch Ihr Werk selbst diesen Eindruck. Es liegt, und das möchte ich das Kriterium der individuellen Behandlung desselben nennen, das Gepräge einer aus der Sache selbst hervorgehenden Gewißheit darin, die eben dadurch um so merkwürdiger wird, daß man sieht, daß diese Gewißheit von einem Forscher erreicht ist, der <in> dem gerade der untersuchende Scharfsinn überwiegend ist, der sich wesentlich |2r| zur Skepsis hinneigt und also[a] gerade schwer zu befriedigen ist. Wer solche Forschungen angestellt hat, weiß recht gut, daß kein Leser, er müßte denn lange von selbst denselben Weg gegangen seyn, dieselben eigentlich zu prüfen vermag, und am wenigsten hätte ich die Anmaßung mir das zuzutrauen. Aber das kann ich mit Wahrheit sagen, daß ich in allen einzelnen Punkten den Grad der Ueberzeugung in mir gewonnen habe, den jeder seiner Natur nach verträgt. Sehr überrascht hat mich um Eins anzuführen, die Bestetigung |sic| einer Ihrer Meinungen, die Ihnen schon der wieder aufgefundene Theil der Republik des Cicero gewährt hat.[b]
Wenn nun an einem so schönen Werke etwas zu wünschen übrig bleiben sollte, so beträfe es den Vortrag und die Form. Indeß werden die folgenden Theile wahrscheinlich von selbst wenigstens Einem dieser Wünsche entsprechen. Der erste verwickelte Sie, seinem Inhalte nach, in lauter an einander hängende Untersuchungen und gab der feinen Erzählung wenig Raum. Bei einer Geschichte aber, die, wie die Römische, einen so hinreißenden Charakter hat, und von einem Manne, der wie Sie, immer so schön die Gesinnung mit den Ideen verwebt, sehnt man sich nach mit einzelnen Auseinandersetzungen unvermischter im Zusammenhang fortfließender Erzählung. Dann habe ich einige Stellen etwas dunkel gefunden, doch ist das nur Sache einer freilich nicht anziehenden Durchsicht des zuerst hingeschriebenen. Aber ein solches Werk verdient doch, daß der Verfasser eine Liebe zu ihm faßt, welche ihm auch die letzte und kleinste Sorgfalt widmet.
Für Ihr gütiges Urtheil über meine Abhandlung |2v| sage ich Ihnen meinen wärmsten Dank. Das Religiöse in dieser Brahmanenphilosophie lasse ich dahingestellt. Aber was mich eigentlich daran angezogen hat, ist eigentlich das Handeln gleichsam als handelte man nicht. Das stimmt mit meiner Individualität wunderbar überein. Niemand[c] kann mir mit Recht Schuld geben, daß, solange ich habe handeln müssen, ich nicht ganz dabei gewesen wäre. Aber das muß ich bekennen, daß mir in allem meinem öffentlichen Handeln immer nur an der Form des Handelns gelegen hat, u. daß ich, was die Erfolge betrift, gleich so tief in der Nichtigkeit alles menschlichen Treibens liegende Vergleichungspunkte gewonnen habe, daß dadurch das Gefühl der Wichtigkeit des Handelns aufs mindeste ungemein geschwächt wird.
Stein war hier und sehr liebenswürdig. Ich habe ihn viel gesehen, u. die Kategorie unseres Zusammenseyns war die des schmerzhaften Gegensatzes. Wir waren immer in Streit u. gegenseitigen Vorwürfen. Aber ich ehre u. liebe ihn aus voller Seele, u. er ist gegen mich immer vorzugsweise gütig. Ich hoffe wir sehen uns im nächsten Winter wieder hier zusammen.
Daß Sie auch hier wären, kann ich nicht aufhören zu wünschen, sey es auch nicht gerade des Einflusses wegen, sicher doch wegen des Sprechens von der Ceder bis zum Ysop[d]. Auf den Einfluß bei andren zu dringen, habe ich freilich wenig Recht, da ich allem entsage.
Mit meiner Frau ist es wirklich vortreflich gegangen. Kein eigentlich leidender Tag seit sie von Gastein zurück ist. Nur freilich nicht die vorige Stärke, u. Au Ausdauer in weiterem Gehen. Im Julius gehe ich mit ihr nach Gastein u. da kommt vielleicht auch davon Vieles wieder. Sie grüßt Sie und die Ihrigen auf das freundschaftlichste u. das Gleiche thun meine Töchter. Daß Bülow einen Gesandtenposten angenommen hat, werden auch Sie gewiß billigen. Ich bin zufällig auf ein Paar Tage der Hoffeierlichkeiten wegen hier.
Mit der herzlichsten Hochachtung und Freundschaft der IhrigeHumboldt
Berlin, den 28. Mai, 1827.
Anmerkungen
- a |Editor| Anonymus 1894–1900, Bd. 1, S. 18 gibt: "diese". [FZ]
- b |Editor| Anonymus 1894–1900, Bd. 1, S. 19 Anm. 1: Angelo Mai hatte die von ihm gefundenen beträchtlichen Fragmente der Schrift Ciceros de re publica 1822 herausgegeben.
- c |Editor| Anonymus 1894–1900, Bd. 1, S. 20 gibt: "Keiner". [FZ]
- d |Editor| 1. Könige 4,33. [FZ]
Über diesen Brief
Quellen
In diesem Brief
- Humboldt, Wilhelm von (1828): Über die unter dem Namen Bhagavad-Gítá bekannte Episode des Mahá-Bhárata I–II. In: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin aus dem Jahre 1825, Historisch-Philologische Klasse, S. 1–64. – Vgl. GS V, S. 190–232; 325–344
- Mai, Angelo (Hrsg.) (1822): M. Tulli Ciceronis De re publica quae supersunt, edente Angelo Maio Vaticanae Bibliothecae praefecto, Rom: in Collegio urbano apud Burliaeum
- Niebuhr, Barthold Georg (1827): Römische Geschichte, Erster Theil, 2. völlig umgearbeitete Aufl., Berlin: Reimer
Zitierhinweis
Dieses Dokument als TEI-XML herunterladen Frühere Version des Dokuments in der archivierten Webansicht ansehenDownload
Versionsgeschichte