Wilhelm von Humboldt an Caroline von Humboldt, 30.04.–02.05.1801
Wir haben zwei unaussprechlich schöne Tage verlebt, liebe Li, ach! warum warst Du nicht mit uns. Du würdest einen großen, unglaublichen Genuß an den lieblichen Küsten, den göttlichen Meeresaussichten gehabt haben. Nachdem wir uns mit großer Mühe gestern früh aus Bayonne losgemacht hatten, ritten wir nach St. Jean de Luz und brachten den ganzen Tag dort zu. Wir haben unendlich viel von Dir gesprochen, ich habe die Stelle wieder besucht, wo wir zusammen saßen und der kleine Theodor sich so vor dem Meere fürchtete. Aber es waren schon wieder mehr Steine weggerissen, und man konnte nicht mehr so gut an der äußersten Spitze sitzen. Das Meer war ruhiger als jenesmal und vielleicht darum minder schön, aber die Aussicht bleibt immer einzig. Die kleine Bai ist so malerisch beschränkt, die Hügel um die Stadt sind so freundlich bewachsen, der Anblick der Gebirge ist so groß, und selbst ruhig drängt sich das Meer doch immer mit Toben in die enge Mündung. Wir kehrten noch im Mondschein dahin zurück, der Himmel war göttlich gestirnt, und das Mondlicht zitterte auf den schwarzen Wellen. Du erinnerst Dich noch, daß an der rechten Ecke der Bai das Fort de St. Verbo steht. Auch dahin ging ich diesmal, und die Aussicht ist unendlich groß. Das Meer ist auf der rechten Seite durch nichts beschränkt, denn die Ufer weichen mehr zurück; dicht an dem Fort ist eine Mauer ins Meer einige hundert Schritte hineingebaut, und die Wellen schlagen nun mit entsetzlichem Tosen an die Ecke des Felsens und diese Mauer, daß der Schaum sie von einem Ende zum andern bedeckt. Nirgend sieht man so lebendig ihre zerstörende Kraft. Sie schlagen in die Klüfte der Felsen, und man hört sie unter seinen Füßen brüllen. Haben sie den Felsen dann eine Zeitlang so untergraben, so stürzt er oben herab, und man sieht dort deutlich große Stücke, die durch die Wellen losgerissen sind. Der Mann, der mich da herumführte, sagte mir, daß er noch das Meer viel weiter zurück gesehen habe, er zeigte eine Stelle, wo ehemals Häuser standen, und die nun die Flut bedeckt. Du erinnerst Dich selbst anderer, die am Ufer verlassen standen, und er hat eine sehr alte Tante gehabt, die von ihrer Tante gehört hat, daß sie sich erinnerte, Gärten in der Bai gesehen zu haben. Es ist ein schauderhafter Gedanke, wenn man an der kleinen Bucht steht, zu denken, welche ungeheure Wassermasse auf diese kleine Küste andrängt. Keine andre befindet sich in gleichem Fall. Denn von Biskaya bis Terreneuve im äußersten Norden von Amerika ist kein Land, keine größere Insel, welche die Gewalt des Meeres unterbräche. Wie das Auge auf der grenzenlosen Fläche, so verliert sich der Geist in dieser Betrachtung, und nie ist mir die belebte Schöpfung so klein und ohnmächtig, nie die tote und rohe Masse so übergewaltig vorgekommen, als dort zwischen den Pyrenäen und dem Ozean. In den Gebirgen jene ungeheuren, von keinem mildernden Grün umkleideten Felsmassen, das Bild einer ewig untätigen Ruhe, eine Last, die, immer auf den Mittelpunkt ihrer Schwere drückend, nur zusammenzustürzen droht, um sich noch fester aneinander zu ballen. In dem Meer hingegen die fürchterliche, die Einbildungskraft bis zum Entsetzen anspannende, sich mit unglaublicher Geschwindigkeit nach allen Seiten zugleich fortpflanzende, von dem unbedeutendsten Stoß die ungeheuerste Tiefe aufwühlende, den ganzen Erdkreis bedrohende Beweglichkeit. In jener ewigen Ruhe, in diesem ewigen Rollen – beide in toten, ungeschiedenen und ungeheuren Massen –, in diesen wüsten Elementen des Chaos scheint eine dunkle und unverstandene Kraft zu walten, neben welcher jede geistige verstummt und verschwindet. Dennoch erhält sich, der Pflanze gleich, die, sich aus den Ritzen des Felsens hervorwindend, seine schroffen Ecken umklammert, mitten unter dieser Verwüstung der leblosen Natur die lebendige Organisation, und wie der im Stein verborgene Funke springt der Trieb der Bildung aus ihm selbst hervor. In diesem unauflöslichen Rätsel und in dem Gefühl der verschwindenden Ohnmacht des Menschen gegen die Macht der Elemente und der Bewunderung ihrer entsetzlichen Massen, die wild und ungebändigt wie sie sind, doch durch dasselbe Gesetz, durch das sie allem Zerstörung drohen, einem fremden Zuge zu folgen, sich in unaufhaltsamem Umschwunge fortzuwälzen und endlich in Gleichgewicht zu halten gezwungen werden, liegt, glaube ich, die Macht, mit der Meer und Gebirge immer die Einbildungskraft und das Gefühl an sich reißen. Es ist der Kampf des Leblosen mit dem Lebendigen, durch die inneren Kräfte beider, wie durch ein ewiges Schicksal, zu Harmonien und Eintracht verbunden.
Wir schliefen die Nacht in Luz und eilten am Morgen gegen vier Uhr an der Küste weiter fort. Es war ein unbegreiflicher, schöner Anblick, die Gegend, deren Du Dich noch erinnerst, zugleich im zwiefachen Lichte des Mondes und des Morgenrotes zu sehen. Mir ist nie etwas gleich Magisches an Beleuchtung vorgekommen. Die Sonne ging herrlich auf. Sie brach durch eine Menge dunkler Tauwolken hervor, und weit vor ihr her war der Himmel mit leichtem schimmernden Gewölk bedeckt, das wie goldene Flocken in der reinen Bläue schwebte. Wir blieben fast bis an die Bidassoa in der großen spanischen Straße, und ich erkannte ein paar Stellen wieder, wo wir ausgestiegen waren und ich mit Dir zu Fuß ging. Zuletzt ging der Weg rechts auf die Höhe nach dem Meere zu, und wir näherten uns jetzt der Gegend, wo vorzüglich der Schauplatz des letzten Krieges war. Der Anblick von Andaye[a] und Fuenterrabia[b] ist von dieser Höhe sehr schön. Beide Örter scheidet eine längliche Bucht, die durch die Mündung der Bidassoa und die einströmende Flut des Meeres gebildet wird. Andaye ist der letzte französische, Fuenterrabia der erste spanische Ort. Die Hügel um Andaye sind lachend, grün und üppig bewachsen, die Berge hinter Fuenterrabia, die miteiner schmalen Spitze ins Meer gehn, sind öde, baumlos und von traurigem Ansehen. Es ist die verbrannte Mittagsseite der Bucht. So ist Frankreich hier auf eine charakteristische Art von Spanien geschieden, die für uns noch durch den dumpfen Glockenton vermehrt wurde, der von Fuenterrabia herübertönte. So schlecht sich die Gegend von Fuenterrabia aus der Ferne ankündigt, so reizend ist sie in der Nähe.
Guetaria, 2. Mai
Ich hatte nicht Zeit, gestern weiter zu schreiben, meine gute Li. Wir sind indes an der Küste weiter vorgerückt und bleiben heute die Nacht hier. Ich kann Dir nicht beschreiben, wie die Natur, in der ich jetzt vom Morgen bis zum Abend lebe, die große und zum Teil so reizende Gegend in dem Augenblick auf mich wirkt, wo die Abwesenheit von allem, was ich liebe, mich an sich weicher und jedem tieferen Gefühl empfänglicher macht. Fast ist mir's manchmal, als wäre ich in die Fremde gegangen, um tiefer und inniger in mir zu leben. Ich freue mich meiner Reise, der Natur, die ich sehe, der Gefühle, denen ich mich überlasse, aber daß ich nicht mit meiner teuren, inniggeliebten Li bin, daß sie nicht mit mir ist, gerade da ich einen schönen und großen Genuß habe, das ist mir schmerzlich, und diese Wehmut ist mir süßer darum, weil sie aus dem einzigen Gefühl fließt, das mich durchs ganze Leben beglückt. Ich denke zurück an alle Jahre, die wir nun miteinander in getrennter und vereinter Liebe verlebten, ich denke Dich, wie ich Dich nie, auch nicht gegen Dich aussprechen kann, aber wie ich gewiß fühle, daß Du bist. Es ist mir besonders wieder so sehr aufgefallen, daß es schlechterdings kein menschliches Wesen gibt, an das der Gedanke sich so leicht, so freiwillig, so rein und voll an den Anblick der Natur anschließt. Die Verschmelzung der Menschlichkeit, die sich der Natur und dein Schicksal gleichsam hingibt und sie nun mit ihren Gefühlen begleitet, und des höheren Sinns, der sich immer ein freies und ein eignes Leben schafft, ist in niemand so zart und innig. Wer Dich nicht von dieser Seite faßt, begreift nie eigentlich Dich. Was man nur in Dir erblicken mag, selbst die kleinen Fehler, die jedem anhängen, entspringen immer daher, und gerade weil ich Dich immer so denke, immer so empfinde, weil Du selbst mich mit dem Gefühl, das unmittelbar aus dieser Stimmung hervorquillt, liebst, bist Du mir das Band, was in meiner Seele alle Empfindungen, woher sie auch stammen mögen, verbindet. Darum wirst Du noch sehr lange eine so reizende und blühende Jugend bewahren, darum hattest Du schon in früherem Alter eine Reife, die man sonst nicht antrifft. Der Wechsel im Alter ist nichts, wenn man, wie in der Natur, die Blume sich aus der Knospe, die Frucht aus der Blume entfalten sieht, wenn es nur derselbe, immer gleich rege Lebenstrieb ist, der sich in diese verschiedenen Hüllen kleidet. Daß es das ist, was mich schon im bloßen Gedanken an Dich so glücklich macht, weiß ich; sollte ich auch wissen wie, müßte ich die wunderbaren Verbindungen von Gefühlen, die neuen Sinne enträtseln können, die das innige Verstehen der Liebe gibt. Derselbe Geist, denk ich, soll auf unseren Kindern ruhen. Aus einer so vollen Liebe entsprungen, von Dir mit dieser Innigkeit gepflegt und genährt, können sie Dir nicht unähnlich sein. Die kleine Li ist mir selbst noch sehr rätselhaft, aber ihr verschlossenes Wesen birgt, hoffe ich, eine Tiefe des Gefühls, die sie Dir gleich machen wird.
Mit dem Griechischen quäle Dich ja nicht. Übersetze bloß mit den Kindern und frage sie die Wörter, die vorkommen und die sie wissen können. Alle Grammatik laß ja. Es ist genug, daß sie sich im Lesen üben, die Töne immerfort hören, ihre Wörter nicht vergessen und einige neue lernen. Es ist ja auch nicht nötig, daß Du die Übersetzungen aufschreibst. Mit den Basken geht es göttlich. Stell Dir nur vor. Ich habe ein Fragment eines alten Triumphliedes aufgefunden, das vermutlich gleich nach dem Cantabrischen[c] Krieg, also etwa 10 Jahre nach Christus, gedichtet ist. Es hat einen eignen Ton der Stärke und ist etwas durchaus Neues.
Dieser erste Tag, wo wir eigentlich in spanischen Posadas[d] waren, hat Bokelmann ganz in Verzweiflung gesetzt. Stell Dir nur vor, wie es ihm gegangen ist. Wir ritten um fünf Uhr aus ohne zu frühstücken und wollten nun in jedem Hause Milch finden. Aber Milch war nicht zu haben. Wir kamen endlich, so um zehn Uhr, nach Zaranz[e], wo ich einen Brief an einen gewissen Carrol[f] hatte. Im Wirtshause war nichts als Sardellen und Öl. Wir gingen also heißhungrig zu dem Carrol[g]. Wir fanden einen wahren spanischen Landedelsitz. Ein Haus, wie ein Kloster gebaut, das Wappen in Stein gehauen über der Tür. Der Mann war nicht gleich da, die Frau empfing uns, sie mochte 40 Jahr und mehr sein, war aber gewiß sehr hübsch gewesen, sie war ganz bürgerlich wie eine Haushälterin angezogen, nahm uns aber mit der Höflichkeit und so ohne alle Verlegenheit auf, wie Du es in Spanien kennst. Sie führte uns in einen großen, reinlichen Saal mit einer feinen estera[h] mit Bildern, Porträts aller Vorfahren, einige von Velasquez, aber weiße Wände mit Strohstühlen. Wir mußten uns an der Wand niedersetzen, wie Du es kennst. Ich war trotz des Hungers außer mir vor Zufriedenheit. Ich habe einmal eine Passion auf alte Landschlösser und war nie so in ein eigentlich spanisches gedrungen. Man bietet uns etwas an, ich bitte um Schokolade, man bringt uns zwei leere Teller, Bokelmann drehte seinen immer herum, und ich konnte das Lachen kaum lassen. Nun kommt gar Wasser mit Zucker, er sah mich ganz wehmütig an, und als er sah, daß er essen müßte, aß er den Zucker und würgte das Wasser hinein, und so ging es fort. Zu Mittag kamen wir in ein Wirtshaus. Die Leute boten uns die ganze spanische Küche mit allen Gewürzen Indiens an, und Bokelmann ließ sich aller meiner Deprekationen ungeachtet alles kommen. Ich hielt mich bloß an einige Eier, und er gab immer ein Gericht mit größerem Ekel als das andere zurück. Den Nachmittag versicherte er, es wäre ein fürchterliches Land. Endlich hat ihn das Meer und Milch, womit wir uns den Abend Tee gemacht, wieder etwas versöhnt. Damit aber der Tag recht spanisch schließe, so hat uns der Alkalde[i] einen Besuch abgestattet und uns von dem Ruhm seines Städtchens und aller berühmten Männer, die von hier gewesen waren, eine halbe Stunde vorgeschwatzt. Er verkennt wirklich sein Glück. Was hätte ich darum gegeben, wenn ich so am Anfang in alle spanischen Geheimnisse eingeweiht gewesen wäre. Es ist mir aber auffallend gewesen, wie sehr er an seiner Heimat hängt und wenig Interesse fürs Fremdartige, ja nur wenig Sinn fürs Individuelle hat. Er ist ganz in Idyllen und keine sentimentale Natur. Wie er ist, ist er aber sehr gut und vollkommen, und ich liebe ihn ungemein.
Lebe jetzt innig wohl, meine gute Li.Anmerkungen
- a |Editor| Sydow 1906–1916, Bd. 2, S. 87: Jetzt Hendaye.
- b |Editor| Heute: Hondarribia.
- c |Editor| Sydow 1906–1916, Bd. 2, S. 90: Die Cantabrer wurden 25–19 v. Chr. von Augustus besiegt.
- d |Editor| Sydow 1906–1916, Bd. 2, S. 90: Wirtshäuser.
- e |Editor| Korrekt muss es wohl heißen: Zarautz. [FZ]
- f |Editor| Humboldt 2010, S. 378: Corral.
- g |Editor| Siehe vorherige Anm.
- h |Editor| Sydow 1906–1916, Bd. 2, S. 90: Schilfmatte.
- i |Editor| Sydow 1906–1916, Bd. 2, S. 91: Bürgermeister.
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