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Wilhelm von Humboldt an Caroline von Humboldt, 16.05.1801

Bilbao, 16. Mai 1801

Endlich bin ich in Bilbao, liebe Li, an dem Ort, an dem meine Rückreise anfängt. Bokelmann hat mich gestern verlassen und wird nun schon nah an Madrid sein, und mir selbst kommt Paris jetzt nicht mehr fern vor. Ich bin sehr zufrieden mit meiner Reise. Ich reise übermorgen früh hier ab, mache noch einen neuen Weg an der Küste und durch das Land, denke mich aber gewiß so einzurichten, daß ich noch vor dem 15. Iunius in Paris bin.

Bilbao ist außerordentlich hübsch. An zierlicher Reinlichkeit kann man nur Cadix damit vergleichen, und von der reizenden Anmut der Gegend ist es nicht möglich, durch bloße Beschreibung einen Begriff zu geben. Es liegt zwischen Bergen in einen, engen Tale, das sich nur gegen das Meer hin erweitert, eingedrängt, an einem ziemlich breiten Fluß, von Äckern, Wiesen und Gebüschen aufs lieblichste umgeben. Von dem sehr schönen Spaziergang am Fluß, am Marktplatz, fast von jedem Fleck in der Stadt sieht man auf die schönbekränzten Hügel rund herum.

Gestern besuchte ich eine sogenannte Romeria[a] in der Nähe der Stadt. Man gibt nämlich diesen Namen den Festen, womit die Dörfer die Namenstage einiger Heiligen, besonders ihrer Schutzpatrone, begehn. Gestern war der Tag der heiligen Isidora. Die Dörfer sind, wie ich Dir schon neulich schrieb, hier nur zerstreute Häuser in einem Umkreis manchmal von ein paar Stunden, deren Mittelpunkt die Kirche, die immer, wie klein auch die Gemeinde sei, aus Stein und mit Aufwand gebaut ist, abgibt. Daneben haben die meisten Dörfer ein großes, gleichfalls aus Stein gebautes Gemeindehaus. Zwischen diesem und der Kirche war der Tanzplatz, und aus den Fenstern der Kirche hingen Fahnen heraus, die Feierlichkeit zu verkündigen. In einer Ecke des Tanzplatzes stand ein rotsamtenes Kanapee mit zwei in die Erde gestellten Lampen davor, und auf diesem sitzt der Fiel (dasselbe, was in Städten der Alkalde ist) mit seinem Stab. Er ist bei jedem feierlichen Tanz zugegen, von ihm hängt es ab, wann aufgehört werden soll; er hält Ordnung unter den Tänzern und Zuschauern, und wenn ein Junge sich zu weit vorwagt, so langt er ihn selbst in eigener Person mit seinem Stecken ab.

Der Tanz ist der natürlichste Ausbruch der Lustigkeit, den ich je gesehen habe, er hat nur im Anfang hierin etwas Feierliches. Eine Reihe von Tänzern gehen nach dem Takt angefaßt im Kreise herum, und nur der Vortänzer macht eine Art mit vielen Kapriolen untermischte Pas. Darauf holt er mit gleicher Langsamkeit und Feierlichkeit zwei Mädchen, eine für den ersten, die andre für den letzten Tänzer. Dann geht jeder und holt sich sein Mädchen nach Gefallen (denn nur jene beiden sind Ehrenplätze) und läuft damit in ausgelassener Lustigkeit zur Reihe zurück. Nun geht es geschwinder, die ganze Reihe zerrt und reißt sich herum, und jeder Tänzer und jede Tänzerin geben sich von Zeit zu Zeit Stöße mit dem Hintern. Diese sind so gewaltsam, daß die Tänzerinnen von ihren beiden Nachbarn manchmal so gestoßen werden, daß sie einen Schritt weit aus der Reihe herausfliegen. Darauf löst sich auf einmal die Reihe, und jeder Tänzer tanzt mit seiner Tänzerin einen Fandango, der aber schlechterdings nichts von der andalusischen Üppigkeit hat, eigentlich nur ein lustiges Springen der beiden Tänzer gegeneinander, aber mit allen Possen vermischt, die nur die wildeste Lustigkeit eingeben kann. Die Hauptsache aber sind immer beim ganzen Tanz die Culadas, die Stöße mit dem Hintern. Wenn die Lustigkeit lebhafter wird, so verbreitet sich dieser Geschmack auch unter die Zuschauer, und niemand ist mehr dieser Partie seines Leibes sicher. Mich haben ganz unbekannte Damen im Vorbeigehn mit solchen Stößen beehrt, es ist eine Art allgemeine Begeisterung, und noch den Abend in der Tertulia[b], wo ich war, machten die ausgeteilten Culadas einen Teil des Gesprächs aus.

Zu zweifeln, daß alle, Tänzer und Zuschauer, Vornehme und Geringe, zwischen denen so hier, zumal bei Tanz und Ballspiel, aller Unterschied wegfällt, von Herzen lustig sind und sich aus Grund der Seele amüsieren, ist unmöglich. Denn wo ich nur hinsehen mochte, unter das Gedränge oder auf den großen mit Bäumen bepflanzten Platz herum, sah ich überall tanzen, springen, lachen, schreien, und vor allen Dingen Culadas austeilen. Diese Lustigkeit ist um so auffallender, als die Geschlechter eigentlich dabei wenig gemischt sind. Man sieht ganze Reihen von Frauen und Mädchen allein gehen, und es ist hier Ton, daß der Mann seine Freunde, die Frau ihre Freundinnen aufsucht. Überhaupt sind die Frauen hier weit ausgelassener lustig als die Männer. Die Männer sind gar nicht galant.

Abends 12 Uhr

Ich bin gestört worden, meine liebe Li, man hat mich zum Spaziergang abgeholt, und nun ist es so spät geworden, daß ich nur noch einige Worte zu diesem Briefe hinzufügen kann. Es ist gerade um diese Stunde ein Jahr, daß Du schon in heftigen Schmerzen mit der kleinen Adelheid warst. Gutes, teures Wesen, wenn ich Dich da verloren hätte, ach! und Du warft doch sehr, sehr krank, wie wäre es dann anjetzt mit mir und den armen Kleinen. Mich schaudert noch, wenn ich nur daran denke. Ich kann es nicht glauben, daß ich Dich je, je verlieren werde. Denn recht ernstlich und ganz ruhig, ja ich möchte sagen, kalt überlegt, ich weiß nicht, was aus mir werden sollte, wie es mir möglich sein würde, nur meines Bewußtseins mächtig zu bleiben. Der Mensch muß etwas Festes haben, woran er sich halten kann, etwas, das ihm ein Maß und ein Ziel ist, sonst hat er für sein eigenes Dasein keinen Begriff, und es hat keine Art des Wertes für ihn. Im ganzen Reich der Gedanken ist nichts, nichts, was das sein kann. Man knüpft eins an das andre und wieder etwas andres an dies, und über der Menge verknüpfter Dinge glaubt man, sie können sich gegenseitig halten und tragen, aber was ist’s, die Augenblicke kommen, wo man fühlt, daß die ganze Kette an nichts hängt, daß der erste Grund, der sie trägt, nur aus dem Herzen hervorquillt. Ich empfinde das sehr oft. Wie dem physisch Schwindelnden ist es mir oft moralisch. Nichts hilft mir alsdann, wirklich nichts, liebe Li, als das Gefühl, das mich dann auf einmal wie mit einer fremden tröstenden Kraft ergreift, daß Du mich liebst, daß ich Dich liebe, und daß doch etwas ist, und wäre auch alles andre nichts. Wenn Du nun nicht mehr wärst? wenn mich dann nun auf der weiten Erde niemand mehr lieben wird? und ich von niemandem werde geliebt sein wollen? Erinnere mich hier nicht an die Kinder. Wie das Herz an ihnen hängt, wie sie uns lieben, es ist ein anderes Gefühl und erhöht nur die Wehmut, statt einen Ersatz zu gewähren. Die dunkle Empfindung, daß man nicht gemacht ist, miteinander durchs Leben zu gehn, gibt dem Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, ohne daß man es immer selbst merkt, eine eigene und wehmütige Stimmung. Solange sie Kinder sind, fühlt sich das nicht. Aber hernach sind es die Abschiedsstunden vor einer weiten Reise. Es ist etwas, das man sich gegenseitig verbergen will; die Wünsche des Herzens und die Bestimmung der Natur sind nicht mehr in Harmonie. Ich fühle wohl, daß man das nicht immer so empfinden kann. Aber es gibt Augenblicke, in denen man ganz Glück und Unglück empfindet, und das Dasein hat nur Wert, solange man ihrer fähig ist. Bei meinem Aufenthalt in Durango, wo ich oft in den Kirchen spazieren ging, ist es mir manchmal aufgeschossen, wenn ich die eifrig Betenden sah, daß es wohl seinen Wert hat, seine Seele an etwas zu hängen, was man nicht verlieren kann. Ich glaube, der Mensch muß und wird dahin kommen. Wenn es ihm geglückt ist, sein Dasein ganz und einzig in einem andern zu finden, so glaub ich, wird die Zeit kommen, wo er steht, daß es für ihn keine wirkliche Trennung gab, ich glaube, daß die Kraft der Liebe sich die Natur unterwerfen kann und das, was in sich Eins ist, auch ewig ungetrennt bleibt. Aber die Kraft des Glaubens schwindet vielleicht hin, wenn man seiner am meisten bedürfte, und dann bleibt nichts, nichts als eine schreckliche Öde und die Wehmut der Erinnerung im Andenken an die Vergangenheit. Ich sprach einmal unterwegs mit Bokelmann davon. Er konnte nicht begreifen, wie man je fürchten könnte, nicht mehr geliebt zu sein. Es machte mir einen sonderbaren Eindruck, eine solche Jugend und Unbefangenheit zu sehen, in der man noch nicht einmal fassen kann, wie man durch Eine Liebe auf einmal alle und unwiederbringlich aufgibt.

Sei Du recht heiter und froh, mein liebes, liebes Kind, und küsse die liebe Adelheid zu ihrem Geburtstag[c]. Lebe innigst wohl.

Anmerkungen

    1. a |Editor| Sydow 1906–1916, Bd. 2, S. 101: Pilgerschaft.
    2. b |Editor| Sydow 1906–1916, Bd. 2, S. 103: Gesellschaft.
    3. c |Editor| Adelheid von Humboldt wurde am 17. Mai 1800 geboren.

    Über diesen Brief

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    Quellen

    Handschrift
    • H (alt): Berlin, A.v.Sydow (laut Hurch verschollen)
    Druck
    • Grundlage der Edition: Sydow 1906–1916, Bd. 2, S. 101–105. – Humboldt 2010, S. 386–389 (B. Hurch)
    Nachweis
    • Mattson 1980, Nr. 663

    In diesem Brief

    Zitierhinweis

    Wilhelm von Humboldt an Caroline von Humboldt, 16.05.1801. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/588

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