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Wilhelm von Humboldt an Johann Wolfgang von Goethe, 15.05.1821

|115r| Erlauben Sie, theurer Freund, daß ich mich in Ihr Andenken bei Gelegenheit der Herausgabe einer Schrift zurückrufe, die Ihnen in den nächsten Wochen durch Buchhändlergelegenheit zukommen wird. Ich habe versucht, die Vaskische Sprache, mit der ich mich schon sonst beschäftigte, auf die Untersuchungen über die Urbewohner Spaniens und Portugals anzuwenden, u. obgleich Sie dieser Gegenstand nie sonderlich anziehen kann, so ist es Ihnen doch so sehr eigen, an Forschungen aller Art Antheil zu nehmen, daß Sie vielleicht auch diese Schrift nicht ungern durchblättern. Sie wird Ihnen zugleich ein anschaulicheres Bild meines jetzigen Lebens geben. Es ist ganz Forschungen dieser u. ähnlicher Art gewidmet, und belohnt mich auf das reichlichste für die lange Unterbrechung, die meine ruhigen Studien, wie ich sie in den glücklichen Jahren trieb, die ich in ihrer Nähe zubrachte, erfahren hatten. Die Verbindung historischer u. linguistischer Forschungen zieht mich am meisten an, u. vorzüglich insofern sie in das frühe u. dunkle Leben der Völker führt, wo sich keine individuellen Begebenheiten herausheben, aber das stille Ziehen und Wandern der Völker die spätren Jahrhunderte vorbereitete. |115v| Das Wirken des Menschengeschlechts ist da dem Wirken der Natur selbst ähnlicher; es ist der Uebergang zur Entwicklung zur Individualität, u. die Sprachen sind das Band, die beide Zustände mit einander verknüpfen, u. beide in sich erkenn das Medium, in dem sich beide erkennen lassen. Wenn man die Kunde der Vorzeit nach den Denkmalen mittheilen wollte, die sie hinterlassen hat, so finden wir, uns zunächst, die schriftliche u. mündliche Ueberlieferung, dann die von Ueberlieferung entblößten, aber in Werken u. Namen übrigen Spuren des Menschendaseyns, darauf die Sprachen, endlich dem Zustande, über den sich nichts mehr erkennen läßt, am nächsten, die Beschaffenheit des Erdbodens selbst. Indem ich die Sprachen in diesem Sinne u. zu diesem Zwecke durchforsche, suche ich mich nach u. nach mit einigen der ältesten bekannt zu machen, die mir bis jetzt fremd geblieben waren. So habe ich seit diesem Jahre mich mit dem Sanskrit beschäftigt, u. wenn ich auch noch wenige Fortschritte darin gemacht habe, so haben mich die wenigen doch schon reichlich belohnt. Bis jetzt stimme ich zwar noch ganz Ihrem Urtheil über die Indische Literatur u. Dichtung bei. Ich kann ihr keinen Geschmack abgewinnen, u. bleibe immer dabei, daß das Griechische u. Römische gerade die Höhe u. Tiefe, die Einfachheit u. die Mannigfaltigkeit, das Maß u. die Haltung besitzt, an die nichts andres je reichen wird, u. über die man nie muß |116r| hinausgehen wollen. Allein als Sprache, als Gefäß, in dem die Vorstellungsweise einer alten, weit verbreiteten, mannigfaltig gebildeten Nation niedergelegt ist, findet man im Sanskrit einen Schatz, der es wohl verdient von allen Seiten her, u. auf alle Weise bearbeitet zu werden. Diese flüchtigen Andeutungen werden Ihnen einen Begriff meiner Beschäftigungen geben.

Erhalten Sie denselben Ihre gütige Theilnahme, nehmen Sie, was ich jetzt Ihnen zur Prüfung vorzulegen wage, mit Güte u. Nachsicht auf, und erlauben Sie mir, Ihnen ferner mitzutheilen, was sich aus meinen eignen Arbeiten zur öffentlichen Mittheilung gestalten möchte. Meine Frau empfiehlt sich aufs herzlichste Ihrem Andenken. Mit der innigsten Verehrung u. Freundschaft
der Ihrige
Humboldt.
Berlin, den 15. Mai, 1821.
|116v vacat|

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Quellen

Handschrift
  • Grundlage der Edition: Weimar, GSA, Goethe, egg. Br. 439, Nr. L; Sign. GSA 28/439, Bl. 115–116
Druck
  • Bratranek 1876, S. 261ff.; Geiger 1909, S. 246ff.; Mandelkow 1965–1969, Bd. 2, S. 299f.
Nachweis
  • Mattson 1980, Nr. 7108
Zitierhinweis

Wilhelm von Humboldt an Johann Wolfgang von Goethe, 15.05.1821. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/605

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