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Wilhelm von Humboldt an Gottlob Johann Christian Kunth, 04.03.1799

Paris, 4. März, 1799.

… Jetzt nähere ich mich mit grossen Schritten meiner Abreise von hier; wenn nichts Neues vorfällt, gehen wir am 1. Apr. von hier ab. Ich habe viel mit Karten und Zahlen über meinen Reiseplan gearbeitet, und Aenderungen darin gemacht, die Ihnen angenehm seyn werden, weil sie meine Rückkunft zu Ihnen beschleunigen müssen. Ich habe für diese Reise ganz und gar auf England Verzicht gethan, und wahrscheinlich sehe ich auch nicht Lissabon, sondern gehe bloss über Madrid, Valencia und Barcellona. Bis zum Herbst bleibe ich in Spanien und dem mittäglichen Frankreich. Ist es möglich nach einem schönen Theile Italiens z.B. Florenz mit Sicherheit zu kommen, so reisen wir dorthin, und in diesem Fall, wenn Italien bereisbar ist, kommen wir erst im Herbst 1800. durch Tyrol nach Deutschland zurück. Ist das nicht, so können wir leicht über Lyon und Genf schon im Frühjahr in Ihrer Nähe seyn. Sie sehen also, daß ich auch hieher fürs erste zurückzukommen, nicht sehr rechne.

… Ich bin jetzt äusserst beschäftigt mit meiner Reise. Sie macht mir grosse Freude, und ich denke etwas darüber zu schreiben. Es sind weniger besuchte und wunderbar von der Natur begabte Gegenden, Katalonien, Valencia, dann die Provence. Vor allen ist diese letztere ein interessanter Punkt. Die Wiege fast aller neueren südwestlichen Sprachen, der neueren Cultur und Dichtkunst, der Sitz der alten Rittergalanterie, wo die ersten Keime einer feineren Liebe, von denen die Alten nichts kannten, einer höhern Achtung des schwächeren Geschlechts, und dadurch einer schöneren Sittlichkeit sprossten; dann der Schauplatz ungeheurer Unglücksfälle, Einfälle der Barbaren, erst der nordischen, dann der Saracenischen, Naturbegebenheiten, Erdbeben, Ueberschwemmungen und vor allen die Pest, dabei die ewigen Kriege zwischen Frankreich und Italien und neuerlich die Unglücksfälle der Revolution, die nirgend so schrecklich wütete. Alles dies verdankt das Land seiner Lage, an der Küste, dicht an der Scheidewand, wo die Barbaren und Römer sich immer den Boden streitig machten, dem Klima, das feurig wie das Italiänische und Spanische, doch wohl nicht so ermattend und entnervend ist. Dazu kommen die vielen zum Theil schönen Reste des Alterthums, und was mich vorzüglich interessirt, die Sprachen, in denen man allein einsehen kann, wie Französisch, Spanisch und Italiänisch entstand, und wie sie sich schieden und einzeln ausbildeten. Wie gross ist z. B. der Unterschied der ungleich lebhafteren poetischeren Provenzalischen und der Französischen Sprache, und beide doch nur durch die Loire (Langue d’oui und Langue d’oc) geschieden. Diese Sprachen machen mir jetzt viel zu schaffen. Ich weiss nun ziemlich gut Spanisch, zum Lesen vollkommen, und fange auch an es geläufiger zu reden, und dabei studire ich (freilich nur ihre Natur zu kennen, nicht eigentlich sie zu verstehen) Portugiesisch, Biscayisch, Provenzalisch und Gallizisch. Ich habe eben zwei Tage mit einer Biscayischen Grammatik zugebracht. Eine solche Sprache giebt es nicht mehr. Schlechterdings keiner andern ähnlich; was in andern Sprachen vorn steht, steht da hinten, aber sie ist voll von Dingen, die einem Fingerzeige auf den Ursprung der sonst unerklärlichsten Dinge geben können. – Sie sehen dass da genug Material ist, ein Paar interessante Bücher zu liefern, wenn es mir nemlich gelingt. Zu vielen nur gehörte guter Stil und Beredsamkeit. Ich weiss kaum etwas das mehr Eindruck machen müsste, als eine gute Schilderung der letzten grossen Marseiller Pest. – Sagen Sie mir doch, und erkundigen Sie Sich ein bischen danach, welche deutsche Reisebeschreibungen es vom mittäglichen Frankreich giebt. Ich kenne bloss Sulzers Reise aus sehr schwachen Reminiscenzen. Sie können mir nichts schaden, ich mache doch keine Reisebeschreibung, sondern bloss fragmentarische Untersuchungen auf einer Reise. Aber ich möchte sie doch kennen.

Für Ihr günstiges Urtheil über mein Buch danke ich Ihnen herzlich. Es hat mich gerade in einem Augenblick gefunden, wo ich dessen noch mehr bedurfte. Seitdem ich von Vieweg hörte (ich selbst habe es noch nicht) dass es 25 Bogen wären, wurde ich ganz muthlos und freute mich schon, dass meine Abwesenheit von Deutschland lang genug seyn würde, es wenn ich zurückkomme, nicht mehr im Andenken zu finden. Der Hauptfehler dieser Schrift ist nemlich grosse Weitschweifigkeit und da ich nun gar vernahm, dass es fast stärker geworden ist, als ich dachte, verlor ich ganz den Muth. Diesem Fehler abzuhelfen hätte ich es noch einmal umarbeiten müssen. Dazu, gestehe ich, hatte ich nicht Lust, auch jetzt nicht Zeit, und unterdrücken mochte ich es auch nicht, da es mehrere gute und einige, wie ich glaube, wichtige Ideen enthält. Für undeutlich halte ich es, einige Stellen, die nicht klar genug gemacht sind, ausgenommen, nicht. Nur die ersten Paragraphen können mehr Nachdenken des Lesers fodern, besonders wenn ihm die neueren Kantischen ästhetischen Ideen nicht geläufig sind. Ich hofte in der That kaum, dass Sie dies Buch einer ernsthaften Lectüre würdigen würden, und wollte Ihnen daher selbst nur einige Abschnitte zum Lesen vorschlagen: z. B. die Vergleichung Homers und Ariosts, die Schilderung des Charakters von Dorothea, die Resultate über Göthe’s Geist, die Entwicklung des Begriffs des Epischen Gedichts, und die Darstellung des eigentlichen Inhalts und Themas dieses Gedichts. Freilich aber ist es mir lieber, wenn Sie Sich an das Ganze machen. – Mit dem Stil haben Sie sehr Recht, und Ihre Bemerkungen werden mir, wenn Sie sie anzeichnen wollen, äusserst willkommen seyn. Der Grund, den Sie davon anführen, mag wohl zum Theil der richtige seyn. Indess ist auch wohl noch ein andrer. Alexander hat zum Theil dieselben Fehler, und die Ursach ist also wohl gemeinschaftlich. Sie, mein Theurer, sind nicht Schuld daran. Sie haben uns genug zum Schreiben angehalten. Allein Sie wissen, welche Noth es war, wenn der geringste Höflichkeitsbrief geschrieben werden sollte, Sie konnten uns zum blossen Schreiben fast nie bringen und seitdem wir etwas grösser waren, z.B. für mich seit Engels Collegium gewann die Aufmerksamkeit auf den Inhalt ein solches Uebergewicht über die auf den Stil, dass der letztere nothwendig verlor. Daher werden wir beide, und Alexander gewiss, einzelne Stellen, und gerade immer die schwereren, gut, will nicht sagen schön schreiben, aber viel seltner das Ganze leicht, gleich und rund. Ich bin nie in grösserer Verlegenheit, als dann, wo andre erst anfangen gut zu schreiben, wenn ich mit dem Gedanken völlig zur Klarheit gekommen bin. Ursprünglicher Mangel an natürlicher Darstellungsgabe durch Verwöhnung vergrössert ist da doch die eigentliche Quelle des Uebels. – Was indess den Inhalt betrift, so bin ich mit dieser Schrift mehr als mit andern zufrieden, wenn ich gleich fühle, wie wenig sie ein gutes, und wie noch weit weniger ein gut geschriebnes Buch heissen kann. Ich glaube nicht, dass eine der wesentlichen Ideen falsch ist, und sie sind mir alle klar und in einem lichtvollen und fruchtbaren Zusammenhange.

Reuss thut mir sehr leid. Wie nennt sich jetzt Mariane?[a] – Reuss Oncle, der Fürst Reuss Eberstein, der hier ist, und uns manchmal besucht, sagte uns neulich, des Verstorbnen Stiefmutter hätte einmal gesagt: je n’aime pas les mariages juifs.

Wie gefällt Ihnen Schillers Piccolomini[b]? – Von Ihrem Aufsatz über das Berlinische Carnaval darf man kaum hoffen, etwas vor unsrer Zurückkunft zu sehen. Die Biestersche Monatsschrift kommt nicht hieher, und leider gehe ja auch ich nun in die Ferne. Ich glaube aber nicht, dass Sie Sich über Mangel an Leichtigkeit im Stil zu beklagen haben. Sie besitzen gerade, dünkt mich, was dazu gehört, in recht hohem Grade, und es hinge sicherlich nur von Ihnen ab, Sich eine Materie zu wählen, die Sie gehörig studirt hätten, um vollkommen zu gelingen…

Anmerkungen

    1. a |Editor| Marianne von Eybenberg, geb. Meyer. Jüdischer Herkunft, heiratete sie 1797 in morganatischer Ehe den österreichischen Botschafter in Berlin, Fürst Heinrich XIV. von Reuß zu Greiz. Nach dessen Tod 1799 erhielt sie von Franz II. den Titel „Frau von Eybenberg“.
    2. b |Editor| D.h. der zweite Teil der Schillerschen Wallenstein-Trilogie. [FZ]

    Über diesen Brief

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    Quellen

    Handschrift
    • H (alt): Berlin, AST (laut Hurch verloren)
    Druck
    • Grundlage der Edition: Leitzmann 1940a, S. 8–10 (gekürzt)
    Nachweis
    • Mattson 1980, Nr. 581
    Zitierhinweis

    Wilhelm von Humboldt an Gottlob Johann Christian Kunth, 04.03.1799. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/611

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