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  3. Nr. 632

Wilhelm von Humboldt an Johann Wolfgang von Goethe, 15.11.1812

|1*| Wien, den 15. November, 1812.

Sie haben vermuthlich verzweifelt, daß ich Wort hielte, mein theurer Freund, und Ihnen die versprochene Arbeit schickte. Allein der inliegende Aufsatz[a] war schon seit mehreren Wochen fertig, da er natürlich nur das Werk weniger Tage war, u. seine Absendung verzögerte sich nun bis jetzt. Ich theilte ihn nemlich einem hiesigen, in den Slavischen Sprachen sehr bewanderten Manne mit, seine Bemerkungen veranlaßten mich, einige Bücher nachzulesen, die ich mir nicht gleich verschaffen konnte; dann lag der Aufsatz bei meinem Abschreiber, der gerade mit andrer Arbeit überhäuft war, u. zuletzt wartete ich die Gelegenheit eines Reisenden ab, um Ihnen nicht für eine unbedeutende Sache zu viel Postgeld zu verursachen. – Ich wünsche, daß Sie mit der Einrichtung des Aufsatzes zufrieden seyn mögen. Sie schien mir, wie ich mir Ihren Zweck dachte, die bequemste. Sie zeigt wenigstens vollkommen, welches Gebiet jeder Sprachstamm einnimmt, u. welche Sprachen in jedem Lande (nach den gewöhnlichen Abtheilungen) zusammenkommen. Nach beiden läßt sich nun leicht eine Karte verfertigen. Ich habe dies letztere auch versucht, allein da ich niemanden im Hause habe, der die mechanische Arbeit dabei gut verrichten könnte, so hab’ ich es wieder liegen lassen. – Was die in dem Aufsatz enthaltenen Daten betrift, sind sie zwar größtentheils, doch bei weitem nicht ganz aus Adelungs Mithridates genommen. Der Artikel über die Slavischen Sprachen namentlich ist gewiß vollständiger u. richtiger, als dieser Gegenstand in irgend einem andren Buche abgehandelt ist. Einzelne Versehen, Auslassungen u.s.f. können vielleicht noch irgendwo stecken. Doch ist mir bei wiederholter aufmerksamer Durchsicht nichts |2*| von dieser Art aufgestoßen. – Ich werde nun unmittelbar Asien ebenso bearbeiten, aber Ihnen die Arbeit nicht eher schicken, als bis ich von Ihnen höre, ob sie Ihnen auf diese Weise genehm ist, oder Sie etwas daran abgeändert wünschen. – Ich habe außerdem ruhig u. fleißig fortgelebt, u. meine Woche verstreicht wirklich sehr sonderbar. Drei bis vier Tage muß ich mich mit den lärmenden u. beunruhigenden Tagesereignissen herumschlagen; die übrigen verbringe ich in zurückgezogenen Studien. Freilich rücke ich bei dieser abgebrochenen Manier nur langsam vorwärts, allein dies läßt sich nun einmal in meiner jetzigen Lage, die ich doch noch Grund beizubehalten habe, nicht ändern, und W jede Woche fügt wenigstens dem schon Gemachten etwas hinzu. In der Ueberarbeitung des Agamemnon bin ich bis zur vorletzten Scene gekommen. Mit dem Ende des Jahres, spätestens im Januar hoffe ich fertig zu seyn. Die Chöre, die ich ganz in den Silbenmaßen des Originals, nur diese, innerhalb ihrer gesetzlichen Schranken, u. dem Bedürfniß unserer Sprache nach hier u. da abändernd, übersetze, halten mich am meisten auf. Im Trimeter hoffe ich, sollen Sie mich viel vollkommener geworden finden. Nur äußerst wenige Verse bleiben, wie sie waren. Ueberall suche ich mehr auf Reinheit der Längen und Kürzen, auf bessere Abschnitte, u. auf mehrsilbige, recht volltönende Schlußwörter zu setzen. Die Schwierigkeit wächst dadurch ungemein, allein der Rhythmus wird auch bei weitem schöner u. volltönender. – In den Sprachen arbeite ich, außerdem daß ich eifrig Böhmisch lerne, an einer Vergleichung der Grammatik aller Slavischen Sprachen, erst untereinander, u. dann mit der Lettischen, die ich in Königsberg, schon getrieben habe, u. finde hierin hier einen sehr braven Gehülfen. An die raisonnirende Schrift über das Sprachstudium kann ich erst ernsthaft dann gehen, wenn ich mit dem Agamemnon fertig bin, dem ich jetzt meine besten Stunden widmen muß. – Sehr unangenehm kommt mir seit schon beinahe 14. Tagen eine häusliche |3*| Störung. Meine Frau wurde um diese Zeit gar nicht wohl, u. ist noch nicht ganz hergestellt, u. seit 8 Tagen hat mein jüngster, noch nicht vierjähriger Sohn ein nervöses Fieber, das zwar bis jetzt keine Gefahr droht, allein doch immer sehr ernsthaft ist. Ich hoffe jedoch, daß es nicht von Folgen seyn soll. – Den zweiten Theil Ihres Lebens[b] habe ich noch nicht lesen können; ich habe ihn verschrieben, aber alle neuen Bücher kommen unglaublich langsam hierher. – Diesen Brief nimmt ein Berlinischer OberStabs-Chirurgus Prozenius mit sich. Ich weiß nicht, ob er selbst durch Weimar kommt. Allein er wird den Brief, da wo er Ihnen am nächsten ist, auf die Post geben. Käme er selbst zu Ihnen, so gewähren Sie ihm wohl eine gütige Aufnahme. –

Meine Frau grüßt Sie herzlich u. innigst, empfehlen Sie mich der Ihrigen u. leben Sie herzlich wohl! Ewig ganz der Ihrige
Humboldt.

Anmerkungen

    1. a |Editor| Beigefügt war das Manuskript der "Anleitung zur Entwerfung einer allgemeinen Sprachkarte" (heute in Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, Nachlass Friedrich Wilhelm Riemer, Stiftung Weimarer Klassik, Nr. 300). Siehe Jürgen Trabant (2020): Wilhelm von Humboldts "Anleitung zu Entwerfung einer allgemeinen Sprach Karte" von 1812. In: Goethe-Jahrbuch 137, S. 149–167. [FZ]
    2. b |Editor| Die drei Bände von Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit erschienen 1811, 1812 und 1814. [FZ]
    Zitierhinweis

    Wilhelm von Humboldt an Johann Wolfgang von Goethe, 15.11.1812. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/632

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