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Wilhelm von Humboldt an Friedrich August Wolf, 16.06.1804

|171r| Rom, den 16. Junius, 1804.

Der einzige Auftrag, der mir noch für Sie jetzt übrig bleibt, betrift den Lagomarsinischen Cicero u. über diesen gebe ich Ihnen heute Rechenschaft. Ich habe mir die Sammlung genau angesehen, u. überlegt ob es möglich sey, Ihrem Wunsch, Ihnen die Varianten über eine Schrift des Cicero zu schicken zu genügen, aber die völlige Unmöglichkeit, dies, ohne fernere Anfrage bei Ihnen zu thun, ist mir gleich in die Augen gesprungen. Bedenken Sie nur, daß die Lagomarsinische Sammlung aus einigen 80 Bänden besteht, lauter Varianten, meist enge geschrieben.[a] Selbst die kürzesten Schriften, paradoxa, Somnium Scipionis sind noch ungeheuer lang, u. was ist Ihnen auch gerade mit diesen gedient? Sie indeß bloß hiermit, wenn der Ausdruck erlaubt ist, abzuspeisen, schien mir noch schlimmer. Sie müssen wenigstens im Stande seyn, selbst zu sehen, u. zu überlegen, ich habe daher die 3 ersten Kapitel der Tusculanischen Quaestionen[b] in allen Bänden, (denn dasselbe Buch des Cicero kommt öfter vor u. nicht alle Varianten über eins sind in Ein Corpus di redigirt) abschreiben lassen, u. diese schicke ich Ihnen zu. Die Handschrift werden Sie leserlich finden, und der Preis ist, wie es mir scheint, nicht hoch. Ich habe nemlich pro Bogen 15. Baj. (etwa 5 g: 4 pf.) u. mithin für Gegenwärtiges 1 Scudo, 35 Baj. (die wir künftig berechnen) gezahlt. Wenn Sie bedenken, daß der Abschreiber dafür auf die Bibliothek in den Stunden, wo sie offen ist, deren wenige sind, gehen muß, so glaube ich, wird es Ihnen billig scheinen. Die Tusculanischen Quaestionen sind in 3 Bänden zerstreut, füllen 1 FolioBand ganz, u. mit den Academischen zusammen 2 andre Quartbände. Die Zahlen beziehen sich auf einen Index der Mscpte welchen Lagomarsini gemacht hatte, u. über den Sie inliegend eine Notiz von De Rossi finden.

|171v| Ich bitte Sie nun die Sache zu überlegen, u. wenn Sie etwas Weiteres verlangen, es mir anzuzeigen. Auch nach dem Index in Genua könnte ich Nachfrage anstellen. Daß Lagomarsini die Sachen nicht selbst geschrieben hat, u. daß er vielmehr schon selbst Ausbesserungen u. Fehler seiner Schreiber bemerkte, glaube ich Ihnen schon gesagt zu haben.

Jetzt muß ich Sie auch um eine Gefälligkeit für De Rossi bitten. Er hat nemlich erfahren, daß sein Diogenes Laertius in der Jen. Allg. Lit. Zeit. vor Zeiten recensirt worden ist, u. wünschte die Recension gar sehr zu sehen. Da Sie jetzt an der Quelle wohnen, so erzeigen Sie mir wohl den Gefallen, Schütz um das Blatt oder eine Abschrift zu bitten. Die Verdollmetschung will ich schon übernehmen.

Grüßen Sie bei dieser Gelegenheit, mein Bester, den guten Schütz, sagen ihm aber nicht dabei, daß ich seine Lit. Zeit. sehr schwach finde. Ich habe jetzt Jan. u. Febr. von ihr u. der Nebenbuhlerin hier, u. kann mich nicht genug über die Erbärmlichkeit der ersteren wundern. Meinem Urtheil nach auch nicht Eine gute Recension. Gegen die andre läßt sich auch allerlei einwenden. Aber einiges hat mich ungemein interessirt. Vossens Rec. der Grammatischen Gespräche ist sehr unterhaltend u. wenn Sie <sie> auch für mich eben nichts Neues enthielt, so ist es ein angenehmes Geschwätz, dem man gern folgt. Nur habe ich wieder bedauert, wie in den Uebersetzungen, bei den sonst so bewundernswürdigen Fertigkeiten Geschmack fehlt. Die breit lyrischen Wörter: wie Meerschwall (aequor) u. andre in dem urbanen Horaz wären mir ungeheuer anstößig. Dann in seiner eignen Prosa die poetischen Stellen, die alle Augenblicke durch die schlichtesten Wendungen durchpoltern. Ich wollte fast f wetten, Voß hätte nie mit großem Antheil u. Studium die Attiker gelesen, u. die Nothwendigkeit davon fällt mir recht bei ihm in die Augen. Er ist in den Ioniern sitzen geblieben, u. hat oft dann noch Ionien mit Hollstein verwechselt. Ich meyne das wirklich nicht hart, denn ich ehre Voß unglaublich. Aber es seine Art zu schreiben macht mir |172r| nun einmal diesen Eindruck.

Ich treibe seit einigen Monaten ein sehr genußreiches Studium, u. schwärme in alten u. neuern, meist Dichtern herum. Ich habe auch wieder ein Paar Pindarische Oden übersetzt[c], u. bin noch nicht abgeneigt, wieder ganz ernstlich daran zu gehn. Nur ganz überarbeiten, was ich einmal gemacht habe, kann ich nicht. Ich glaube mit Wahrheit behaupten zu können, daß meine Arbeit den Vorzug hat, Pindars ächten Ton nicht verfehlt zu haben. Nur die schon gemachten Stücke, die mir hierin nicht Genüge leisten, werfe ich weg. In der metrischen Behandlung komme ich nach u. nach zu einer befriedigenden[d] Gesetzmäßigkeit. Aber in dieser Rücksicht kann ich das Frühere nicht ändern. Meine Uebersetzung, wenn sie je gedruckt erscheinen sollte, kann nur dazu dienen, bis eine eigentlich gute kommt, einen Begriff von Pindar zu geben. Denn mir fehlt das eigentlich Technische des Dichtens zu sehr, u. das läßt sich nicht einbringen. Auch behandle ich sie nicht als eine Arbeit, oder vielmehr ich behandle sie als eine unnütze Arbeit, u. mache mich nur daran, wenn ich der Lust nicht widerstehen kann. Seit einigen Monaten ist sie groß in mir gewesen. Vielleicht schläft sie bald wieder ein u. dann desto besser.

Im Grunde ist alles was ich treibe, auch der Pindar, Sprachstudium. Ich glaube die Kunst entdeckt zu haben, die Sprache als ein Vehikel zu brauchen, um das Höchste u. Tiefste, u. die Mannigfaltigkeit der ganzen Welt zu durchfahren, u. ich vertiefe mich immer mehr u. mehr in dieser Ansicht. Aber genug von Dingen über die sich nur sprechen läßt, lieber Freund.

Wie ist es? Sie haben meine Frau, denke ich, gesehn, hat Sie <sie> Ihnen nicht Lust gemacht zu uns zu kommen? Der künftige Winter wäre eine schöne Zeit dazu. Lassen Sie einmal Ihre Musensöhne sich selbst unterrichten, und schenken Sie Sich und uns einige Monate. Rom wird Ihnen gewiß gefallen, u. wir würden hier wie in Auleben schwatzen. Denn die übrigen Bewohner Roms sind ungefähr wie der Adel in Auleben, u. meine Bücher wieder die Tafelbibliothek; denn die öffentlichen Bibliotheken sind ver-|172v|schloßne Schätze, zu denen man immer selbst laufen muß. Zoëga lebt von lauter auf diese Weise gemachten Excerpten, u. ich kann schlechterdings keinen Scholiasten des Pindar bekommen. Aber dafür hat man schönen Himmel, göttliche Aussichten, u. himmlische Ruinen auf allen 7 Hügeln.

Jetzt aber will ich noch einen Spatziergang ins Coliseum machen. Es ist ein herrlicher Mondschein u. dann ist das Coliseum von einer unglaublichen Schönheit. Also kommen Sie mit u. genießen. Seyn Sie nur erst einige Wochen hier, u. der Lotos wird bald gegessen seyn. Auch die mühevollen Ideen von Arbeit werden verschwinden. Sie werden nur genießen wollen u. sich im Genuß mehr als in der Arbeit gefallen.

Von inniger Seele Ihr
Humboldt.

Anmerkungen

    1. a |Editor| Siehe zur Cicero-Sammlung Lagomarsinis die Notiz in den Wöchentlichen Nachrichten von gelehrten Sachen auf das Jahr 1741, 46. Stück, S. 280. [FZ]
    2. b |Editor| D.h. die Tusculanae disputationes.
    3. c |Editor| Zu Humboldts Pindar-Übersetzungen siehe GS VIII, S. 1–105 (mit Leitzmanns Komentaren auf den S. 106–116. [FZ]
    4. d |Editor| Mattson 1990, S. 250 Z. 67: „befriedigenderen“.
    Zitierhinweis

    Wilhelm von Humboldt an Friedrich August Wolf, 16.06.1804. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/640

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