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Johann Wolfgang von Goethe an Wilhelm von Humboldt, 31.08.1812

|29/7, Bl. 179v|
An Herrn Gesandten Baron von Humboldt nach Wien.[a]

Töplitz, verehrter Freund, behauptet sich also bey seiner Eigenschaft, unsern Zusammenkünften ungünstig zu seyn, und sie ist mir dießmal doppelt verdrüßlich, weil ich nach Ihrer Abreise von Carlsbad den Werth Ihrer Gegenwart recht mit Bewußtseyn recapitulirte und so manches Gespräch wieder anzuknüpfen und fortzuführen wünschte; besonders war mir peinlich, daß ich Ihre schöne Darstellung, wie die Sprachen über die Welt verbreitet seyen, nicht gleich <vollständig> aufgezeichnet, ob mir gleich davon das meiste <Meiste> davon geblieben ist. Wollten Sie mir etwas recht Freundliches erzeigen, so schrieben Sie mir eine solche Uebersicht gefällig auf und ich würde mir eine HemisphärenCharte darnach illuminiren und sie zu dem Atlas des Lesage hinzufügen; wie ich denn überhaupt, da ich mich des Jahrs so lange auswärts aufhalte, immer mehr an eine compendiarische tabellarische Reisebibliothek gedenken muß. So wird jetzt mit Beyhülfe des Hofrath Meyer die Geschichte der |29/564,II, Bl. 13r| Plastik und Malerey an den Rand der Bredowischen Tabellen hinzugeschrieben <und so würde mir Ihre Sprachcharte in gar vielen Fällen zu Auffrischung des Gedächtnisses und zum Leitfaden bey mancher Lectüre dienen>.

Ueber Berlin und über das, was sich dort, nach Ihren früheren Anstalten und Anregungen, bewegt, hätte ich gern umständlich mit Ihnen gesprochen. Große Städte enthalten immer das Bild ganzer Reiche in sich und wenn sie auch gewisse frazzenhafte Uebertriebenheiten zu eigen haben mögen, so stellen sie doch die Nation concentrirt vor Augen.

Staatsrath Langermann, dessen guter Wille und Thätigkeit <so> schön im Gleichgewichte stehn, erfreut mich schon seit vierzehn Tagen durch seinen lehrreichen Umgang und macht mir, sowohl durch seine Rede als sein Beyspiel zu manchen Dingen wieder Muth, die ich schon aufzugeben bereit bin. Es ist gar zu belebend, die Welt wieder einmal durch das Organ eines wahrhaft thätigen Mannes anzusehn: denn zu beleben verstehn die Deutschen weder im Einzelnen noch im Ganzen. <im Einzelnen selten und im Ganzen niemals.>

|29/564,II, 13v| Hier finde ich einen ganz natürlichen Uebergang zu der Notiz, die Sie mir geben, daß unser Wolf mit dem Niebuhrschen Werke nicht zufrieden ist, er, der vorzügliches Recht hätte es zu seyn. Ich bin jedoch hierüber ganz beruhigt, ich schätze Wolfen unendlich wenn er wirkt und thut, aber theilnehmend habe ich ihn nie gekannt, besonders am Gleichzeitigen, und hierinn ist er ein wahrer Deutscher. Sodann weiß er viel zu viel, um sich noch belehren zu mögen und um nicht die Lücken in dem Wissen anderer zu entdecken. Er hat seine eigne Denkweise, wie sollte er fremden Ansichten etwas abgewinnen? und gerade die großen Vorzüge die er hat, sind recht geeignet, den Geist des Widerspruchs und des Ablehnens zu erregen und zu erhalten.

Was mich Layen betrift, so bin ich Niebuhrs erstem Bande sehr viel schuldig geworden, und ich hoffe, der zweyte soll meine Dankbarkeit gegen ihn vermehren. Ich bin sehr |29/564,II, Bl. 14r| neugierig auf seine Entwickelung der lex agraria. Man hat von Jugend auf davon gehört, ohne daß man einen bestimmten Begriff davon hätte. Wie angenehm ist es, einen unterrichteten und geistreichen Mann über einen solchen Gegenstand zu hören und zwar in diesen Zeiten, wo man Staats- und Völkerrecht, sowie alle bürgerrechtlichen Verhältnisse mit größerer Freyheit und Unbefangenheit zu betrachten aufgefordert ist. Man sieht, welcher Vortheil es sey, wenig zu wissen und von dem Wenigen sehr viel vergessen zu haben. Niemals mischte ich mich gern in die Händel des Tags, kann mir aber nicht versagen, in der Stille mein Schnippchen dazu zu schlagen. Möge Ihnen beyliegendes Blättchen ein Lächeln abgewinnen.

Ihrer Frau Gemahlinn wünsche ich bestens empfohlen zu seyn. Körners[b] grüßen Sie mir zum Schönsten. Wenn der junge Mann wieder etwas fertig hat, bitte ich mir es gleich zu schicken. Ein größeres Stück zum 30t Januar, dem Geburtstage der Herzoginn wäre mir dießmal sehr willkommen.

Tausend Lebewohl.
Carlsbad den 31t August 1812.

Anmerkungen

    1. a |Editor| Unter der Angabe des Adressaten in der linken Spalte der Vermerk „31. Aug. 1812.“ mit Namenskürzel (?).
    2. b |Editor| Christian Gottfried Körner und seine Frau Minna waren Anfang August in Wien angekommen, um ihre Sohn Theodor zu besuchen. Vgl. die Briefe Theodors an seine Eltern vom 24. Juli und 12. September 1812: Karl Streckfuß (1838): Theodor Körner’s sämmtliche Werke, Berlin: Nicolai, S. 359. [FZ]

    Über diesen Brief

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    Quellen

    Handschrift
    • Grundlage der Edition: Weimar, GSA: Bestand: 29 Goethe Ausgegangene Briefe, Sig: 29/7, Bl. 179v (Konzept Anfang, 1 Seite); Bestand: 29 Goethe Ausgegangene Briefe, Sig: 29/564,II, Bl. 13r–14r (Konzept Ende, 3 Seiten)
    Druck
    • Bratranek 1876, S. 241 (Ausz.); Goethe 1887–1919, Abt. IV/Bd. 23, S. 84ff.; Gräf 1901–1914, Th. 3/ Bd.1, S. 565f.; von der Hellen 1901–1918, Bd. 5, S. 132ff.; Geiger 1909, S.221ff.; Gräf 1927, Bd. 2, S. 138ff.; Bab 1929–1930, Bd. 2, S. 251f.; Beutler 1948–1964, Bd. 19, S. 668ff.; Grumach 1949, Bd. 1, S. 46f.; Mandelkow 1962–1967, Bd. 3, S. 197ff.; Holtzhauer 1970, Bd. 2, S. 239ff.
    Nachweis
    • Mattson 1980, Nr. 9531
    Zitierhinweis

    Johann Wolfgang von Goethe an Wilhelm von Humboldt, 31.08.1812. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/656

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