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  3. Nr. 705

Wilhelm von Humboldt an Karl Gustav Brinckmann, 20.09.1799

Langon, zwischen Bordeaux und Agen.
4. jour complém. an 7.[a]

Ich wollte Ihnen von Bordeaux aus schreiben, liebster Freund. Aber die wenigen Tage, die ich dort zubrachte, waren so besetzt, daß mir schlechterdings kein Augenblick übrigblieb. Indeß erhalten Sie diese Zeilen nur um einen einzigen Tag später, da wir erst heute früh aus Bordeaux gereist sind, und jetzt in einem ganz angenehmen Oertchen, in einem Wirthshaus dicht am Ufer der Garonne übernachten.

Unsre Reise bis Bordeaux ist ganz ruhig und glücklich von Statten gegangen. Die Ermüdung abgerechnet haben wir nichts zu leiden gehabt, und doch mancherlei genossen. Zwar sind die Gegenden meist schlecht und nirgend auf dem Wege, den wir nahmen, schön, und die Städte haben nichts Merkwürdiges. Aber das ist ja auch der eigentliche Zweck des Reisens, daß man schlechtere Dinge sieht, als man an dem Orte hätte, den man verläßt, und somit haben wir unsre Pflicht prächtig erfüllt, indem wir uns aus den schönen Straßen von Paris in die engen Gassen von Limoges und Perigueux versetzt haben, und aus unserm angenehmen Theecirkel in einsame und schlechte Wirthshäuser. Das Limousin ist indeß doch ein interessantes Ländchen. Die Gegenden und die Menschen haben viel Eigenthümliches und ich habe Gelegenheit genug gefunden, doch alle Abend etwas für mein Tagebuch zu sammlen. Ich denke recht ernsthaft an meine Reisebeschreibung und freue mich ordentlich darauf. Ich werde die Menschen schwerlich so schildern, wie sie sind, aber ich hoffe dafür alles desto consequenter in einander zu flechten, und soviel will ich ihnen doch schon absehen, daß mir niemand leicht, was wahr und was falsch ist, sondern soll. Man braucht die Erscheinungen nur zu subtilisiren, und man gelangt bald in ein Gebiet, was weder mehr der Wahrheit noch der Fabel angehört, und gerade dazu besitze ich vielleicht einiges Talent. Nationen und Menschen vertragen überdies eigentlich keine andre Schilderung. Man muß ihnen erst Einheit und Konsequenz geben, wenn sie Haltung erlangen sollen. Schade ist es nur, daß ich mich jetzt gerade an einem so dürren Gegenstand üben muß. Denn die Spanier möchten wohl ebenso einer kleinen Nachhülfe bedürfen, als, unter uns gesprochen, gewisse Hexameter.

In B. haben wir eigentlich nur mit Hessens gelebt[b]. Sie sind unendlich freundschaftlich gegen uns gewesen, und machen in B. ein prächtiges Haus, das sich für jede Art des Genusses empfiehlt. Für die Frau hatte ich schon in Berlin, wie Sie Sich vielleicht erinnern, immer einige Schwachheit und auch jetzt hat sie mir, ihrer Häßlichkeit und Ihres Berlinischen Sprechens ungeachtet, sehr gefallen. Die älteste Tochter ist äußerst hübsch und angenehm, aber, was Ihnen ein Gräuel seyn wird, so französisch, daß sie fast kein Deutsch mehr kann, und der Mann ist mir in mancher Rücksicht interessant gewesen. Das Mädchen ist gewiß interessant. Sie dürfen Sich nichts Manirirtes, nichts Affectirtes, nichts à la Cr. darunter denken. Wenn sie Deutschland, Deutsche Sitten, und selbst Deutsche Speisen haßt, so hat ihr Deutschland selbst noch die Kraft des Hasses dazu gegeben, und man sieht ihr ihr Vaterland vom Kopf bis auf die Zehspitze an. Aber sie scheint von sehr selbstständigem Charakter, und ich möchte in ihr eine Tiefe vermuthen, die sich nur in diesen Umgebungen nicht entwickeln und ausbilden kann. H. grüßen Sie sehr, die Frau hat lange auf einen Brief von Ihnen gehoft, fängt aber nun zu verzweiflen an. Wenn Sie ihr schreiben, so sagen Sie ihr doch, wie sehr wir mit unsrer Aufnahme bei ihnen zufrieden gewesen sind. Denn das ist reine Wahrheit. Sonst ist in B. soviel ich es habe kennen lernen, nichts Interessantes von Menschen. Wenigstens sind es die Professoren nicht die ich nach deutscher Handwerkssitte alle begrüßt habe. Einen Metaphysiker habe ich gefunden, der mir ein Paar Stunden von der necessité de rectifier les signes, der Vortreflichkeit der analytischen Methode und dem intéret bien entendu vorgeschwatzt hat. Sie werden meine Geduld bewundern, mit der ich überall diese Dinge aufsuche. Aber es ist immer merkwürdig zu wissen, ob unser Thémetaphysiker wirklich der erste Frankreichs ist. Ich halte es noch immer dafür.

Mit der provenzalischen Sprache habe ich mich auch wieder viel abgegeben. Ich habe unterwegs viel darin gelesen, und verstehe jetzt ziemlich geläufig. Sie hat einige sehr hübsche Sachen und vorzüglich ist die Aussprache lieblicher und voller, als bei der Französischen.

Aber was machen Sie? was Slabrendorff? R. und alle die wir sonst sahen? Erst in B. sind mir eigentlich Zeitungen zu Gesichte gekommen, und ich habe gesehen, daß es ziemlich hitzig in den Räthen zugeht. Wo ich gereist bin, scheint alles Politische wenig Sensation zu machen. Man hört nur kaum davon reden, und die Menschen arbeiten und belustigen sich so ruhig, daß man gar nicht denken sollte, daß man, um Sie an Ihre Baronne zu erinnern, auf einem Volcane lebte. Daß ich diese unpolitische Stimmung gern theile, können Sie denken. Ich fühle sogar an mir, daß die Entfernung von Paris, je größer sie wird, desto mehr die Theilnahme an diesen Ereignissen schwächt, dort wird man im Sturm mitfortgerissen. Hier kann man sich mehr nach eigner Neigung halten.

Widriges ist mir bis hieher nicht das Mindeste begegnet. Ich befürchte auch ferner nichts, es ist, wie ich Ihnen sage, wenn nichts Neues vorfällt, alles ruhig und sicher. Ich reise jetzt noch auf 8 Tage etwa in die Pyrenaeen, und dann nach Bayonne, wo ich vermuthlich in den ersten Tagen des Oktobers ankomme.

In Ihrer Lebensart hat unsre Abreise unstreitig einige Aenderung hervorgebracht. Vielleicht amalgamiren Sie Sich jetzt mehr mit den Franzosen; vielleicht aber leben Sie auch nun mehr zu Hause und arbeiten für Sich. In diesem Fall vergessen Sie nicht das Projekt Ihrer Briefe über Paris. Da Sie die letzten Jahre von der Revolution genau studirt und nun den Schauplatz selbst gesehen haben können Sie mehr, als irgend einer, etwas Neues und Interessantes liefern. Im nächsten Herbst sind Sie auch hoffentlich wieder in Berlin. Dann lassen wir beide die Früchte unsrer Reise drucken oder sind Sie unglücklicherweise nicht dort, so übernehme ich gern die Besorgung für Sie. Gebe nur der Himmel, daß Sie fürs erste noch in Paris bleiben. Käme ich aus Spanien zurück und fände Sie nicht mehr, würde es mit äußerst leer vorkommen. Sie haben so treulich alle Abende bei uns verbracht, wir haben so viele Dinge mit einander anfangen sehen, und sollten nun nicht ebenso ihre fernere Entwicklung erleben? Wo Sie aber auch hingerathen möchten, schreiben Sie mir ja fleißig; Sie können von mir sicherlich auf einen Brief alle 14 Tage rechnen. Wenn Sie diesen erhalten haben, schreiben Sie unmittelbar nach Madrid. Meinen nächsten bekommen Sie aus Bayonne.

Meine Frau grüßt Sie herzlich. Sie ist nicht so wohl, als wir wünschten, doch hoffe ich sollen ihr die Pyrenaeen viel Freude machen. Grüßen Sie recht sehr von mir Spr. Sl. R. und M. und wen Sie sonst sehn, mit dem wir sonst gewöhnlich lebten. Schreiben Sie mir bald und viel. Von Herzen adieu! Ihr
H.

Anmerkungen

    1. a |Editor| D.i.: 20. September 1799.
    2. b |Editor| Es handelt sich um die Familie des aus Berlin stammenden Bankiers und Kaufmanns Karl Dietrich Hesse, der 1792 mit seiner Familie nach Bordeaux ausreiste und der zwischen 1808 und 1810 einen Rechtsstreit vor dem Kammergericht in Berlin über die Erhebung der Emigrationssteuer ausfocht. (s. GStA III. HA MdA, III Nr. 4981. 4987. 4995). Vgl. den Tagebucheintrag vom 21. März 1798 aus Humboldts Pariser Zeit: "Besuch des Bordeauxer Hess aus Berlin. – Er kam eben daher, und war über Hamburg gereist." (GS XIV, S. 433). Siehe auch das Verzeichnis von Humboldts Kontakten während der Reise durch das Baskenland; dort werden für Bordeaux "Hesse", "Md. Hesse" und "Me. Van Hernert geb. Hesse" genannt (Berlin, AST, Archivmappe 75, Bl. 303r: Humboldt 2010, S. 364). Hesse ist ebenfalls im Adressverzeichnis Alexander von Humboldts in seinem Reisetagebuch II/VI, Bl. 99r genannt ("Dietrich Hesse Agent commercial de Prusse au Chartron"). [FZ]

    Über diesen Brief

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    Quellen

    Handschrift
    • Trolle-Ljungby (Fjälkinge, Schweden), Graf v. Trolle-Wachtmeister
    Druck
    • Grundlage der Edition: Leitzmann 1939, S. 109–112. – Freese 1955, S. 363f.
    Nachweis
    • Mattson 1980, Nr. 601
    Zitierhinweis

    Wilhelm von Humboldt an Karl Gustav Brinckmann, 20.09.1799. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/705

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