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  3. Nr. 1074

August Wilhelm von Schlegel an Wilhelm von Humboldt, 01.12.1822

|245|[a] Bonn d. 1sten Decbr. 22.

Ew. Excellenz haben mir durch Ihre reichhaltige Sendung vom 18ten Oct. eine große und seltene Freude gewährt. Ich hätte früher meine lebhafteste Dankbarkeit bezeugt, aber ich wollte nicht gerne schreiben, bis ich Ihre vortreffliche Abhandlung mit Ruhe gelesen hätte, und die Ankunft fiel gerade in den Zeitpunkt der Eröffnung meiner Vorlesungen, wo mir keine Stunde freyer Muße übrig blieb. Ich habe die Abhandlung nun gelesen, aber erst Einmal, und das ist wenig für eine so gründliche und meisterhafte Arbeit. Ew. Excellenz legen zuerst Hand an eine schwere und wissenschaftliche Aufgabe: die Syntaxis des Sanskrit; denn die paar Blätter bei Carey und Wilkins, welche diese Überschrift führen, sind ja kaum der Rede werth. Sind die Indischen Grammatiker eben so karglaut? Haben sie ihren Scharfsinn so ganz an der Wortbildung erschöpft, daß ihnen für die Wortfügung gar nichts übrig bleib? |sic| Ich weiß es nicht, aber auf jeden Fall wird es viel Kopfbrechen kosten, was sie enthalten, gehörig ans Licht zu ziehn; und ich glaube, wir thun wohl |246| unterdessen auf dem praktischen Wege durch Beobachtung des Sprachgebrauchs fortzugehn. Allein dazu gehören zuverlässige Texte, womit wir leider noch sehr schlecht bestellt sind. Doch hierüber nachher. Zuerst wünsche ich Ew. Excellenz Befehle über einige Bestimmungen bey dem Druck des Aufsatzes zu erfahren, welcher der Indischen Bibliothek zur erwünschten Auszeichnung gereichen wird. Der Gebrauch der kleineren Schrift würde einen Übelstand verursachen, indem meine Devanagari-Lettern weit größer sind, und daher jede Zeile, worin dergleichen vorkommen, einen doppelten Durchschuß erfodert. Kaum läßt es sich mit der gewöhnlichen Schrift leidlich einrichten, wie Ew. Excellenz an dem Aufsatz über Wilsons Wörterbuch gesehn haben werden. Ich habe noch nicht genau berechnet, wieviel Seite Manuscrip |sic| sich zu einer gedruckten verhält. Jedoch wünsche ich die Abhandlung in zwey Hefte bringen zu können, es wäre Schade, sie allzu sehr zu zerstückeln. Ein Unterhaltungsblatt kann die Indische Bibliothek nun einmal nicht seyn, und das etwas leichtsinnig gegebene Versprechen, die nicht eigentlich Gelehrten, |sic| sondern bloß gebildeten Leser sollten in jedem Heft nur wenige Blätter zu über-|247|schlagen finden, habe ich doch schon brechen müssen. Übrigens ist der Absatz für eine wissenschaftliche Zeitschrift nicht ganz übel: es sind ungefähr 400 Ex. abgesetzt, und es finden sich fortwährend neue Käufer, für welche, sobald das 4te Heft fertig seyn wird, das Ganze als Ein Band ausgegeben werden soll. Ich arbeite eben an diesen |sic| vierten Heft, und es kann um so früher erscheinen, wenn ein Theil Ihrer Abhandlung darin abgedruckt wird. Allein es würde daraus der Nachtheil entstehn, daß sie in zwey Bände auseinander gerissen wäre. Im ersten und zweiten Heft des 2ten Bandes hingegen könnte sogar die Seitenzahl ununterbrochen fortlaufen. Ich bitte um ein Wort der Entscheidung hierüber. Je früher es in Deutschland und im Auslande bekannt wird, daß ein Denker und Sprachkenner wie Sie dem Studium des Sanskrit seine Neygung zugewendet hat, desto willkommner ist es mir.

Von der Vollmacht, welche Ew. Ex. mir ertheilen, kleine Versehn nach eigner Einsicht zu berichtigen, möchte ich nicht wagen, Gebrauch zu machen, weil ich sehr gut weiß, wie viel mir in der Auslegung und Kritik dieser Sprache zu lernen übrig bleibt. |248| Die Bemerkungen, welche ich so frey bin, auf einem beyliegenden Blatte[b] dem Urtheile Ew. Excellenz zu unterwerfen, betreffen auch gar nicht die Behandlung, sondern den Stoff, den Sie verarbeitet haben. Es sind Zweifel über die Richtigkeit einiger Lesearten. Nach meiner freylich noch beschränkten Erfahrung, urtheilen Ew. Excellenz zu günstig von den Indischen Abschreibern, wenn Sie annehmen, sie würden nicht leicht den ungewöhnlichern Sprachgebrauch aus ihren |sic| eignen Kopf an die Stelle des üblichern gesetzt haben. Sie haben nur allzu oft an gar keinen Sprachgebrauch gedacht, sondern das Unzusammenhängende und verwirrte mit gedankenloser Nachläßigkeit hingeschrieben. Allerdings kann das Gewerbe eines Abschreibers nicht ohne grammatische Kenntniß des Sanskrit ausgeübt werden, aber diese Kenntniß mag oft sehr oberflächlich gewesen seyn; und ich glaube, wir dürfen im ganzen genommen den heutigen Indischen Abschreibern nicht so viel Einsicht in ihre classische Sprache und Litteratur zutrauen, als den Griechischen des funfzehnten Jahrhunderts. Vor allen Dingen fehlt es ihnen aber an Gewissenhaftigkeit. |249| Colebrooke, der darin eine große Erfahrung besitzt, ist noch weit mistraurischer<mistrauischer> als ich, und gab mir den Rath, bey dem Ankauf von Handschriften ja nicht auf Kalligraphie und Eleganz zu achten; die abgenutzen, |sic| wo gelehrte Leser ihre Verbesserungen an den Rand geschrieben, seyen die eigentlichen schätzbaren.[c]

Ew. Excellenz haben die Beyspiele aus dem Hitôpadêsa, dem Ramayana und dem Nalas gewählt.

Die am meisten authentischen Texte sind für die, für welche ein commentarius perpetuus mit Wiederholung aller Worte Gewähr leistet. Solche Commentaren |sic| giebt es theils von heilig geachteten Büchern der patriarchalischen Vorzeit, theils von Bewunderten |sic| des gelehrten Zeitalters. Der Styl der letzen |sic| dürfte meistens zu künstlich und verwickelt seyn, um zu grammatischen Beyspielen bequem gebraucht werden zu können. Zu der ersten Classe gehört der Bhagavad-Gîtâ; ich habe gefunden, daß es darin gar keine Varianten giebt. Wenn ein S solches Buch auch ohne den Commentar <ab>geschrieben wird, so darf sich der Abschreiber doch keine Willkühr |250| mit Auslassungen, Versetzungen u. s. w. erlauben, weil jedermann es so zu sagen auswendig weiß. Die Gesetze des Manus sind, als Privat-Unternehmung eines Indischen Gelehrten mit dem Commentar gedruckt; ich habe mir die mögliche Mühe gegeben, aber keines Exemplars habhaft werden können. Sonst würde ich glauben, durch den Abdruck des Textes allein dem Studium einen wesentlichen Dienst zu leisten, und sogleich dazu schreiten.

Der Hitopadesa gehört nicht zu dieser Classe: als ein populares und vielgelesenes Buch ist er immer sehr willkührlichen Behandlungen ausgesetzt gewesen. |Vermuthlich|[d] hat eine Abschrift ungefähr ihren laufenden Preis: um geschwinder mit ihrem Tagewerk fertig zu werden, haben die Abschreiber viele Sprüche ausgelassen, und die prosaische Erzählung abgekürzt. Ich glaube daß die gedruckten Ausgaben in Absicht auf die Vollständigkeit des versifizirten Theils wenig zu wünschen übrig lassen, ja ich würde hier und da eine überlästige und unpassende Sentenz ohne Bedenken herauswerfen. Die Sprüche stehn durch |251| ihre Form und die symmetrischen Wendungen ziemlich fest: doch habe ich auch hier in einer einzigen Handschrift bedeutende Varianten gefunden, zuweilen durchaus verschiedene Hemistichien und ganze Verse. In der Prosa schwankt nun aber alles wegen der unbestimmten Form: ich glaube von dieser Seite kann das Buch durch fortgesetzte Vergleichung der Handschriften noch sehr gewinnen.

Die Herausgeber in Serampora waren damals noch ganz unfähig über den Werth der Lesearten zu entscheiden: allein sie hatten Handschriften und Indische Gelehrte zur Seite. Wilkins hat manche Fehler der Seramporer Ausgabe verbessert, andre hineingebracht. Glauben Ew. Excellenz doch ja nicht, daß alles was in der Londner Ausgabe steht, in irgend einer Handschrift gelesen worden sey. Es sind eben Druckfehler. Ich wäre ein gemachter Mann, wenn ich für jeden nachgewiesenen Druckfehler im Hitopadesa, in Wilkins Grammatik, in Wilsons Wörterbuch, im Ramayana u. s. w. nur eine Guinee bekäme.

|252| Man sollte vermuthen, man wäre besser daran mit den inländischen Herausgebern; aber diese scheinen nun vollends das Correcturen-Geschäft beym Druck gar nicht zu verstehn. Denken Ew. Excellenz, daß ich im Bhagavad-gitâ, einem Gedicht von ungefähr 1600 Versen, in der Ausgabe von Calcutta 69 Druckfehler entdeckt habe. Ich fand rathsam, diese am Schluß meines jetzt beendigten Abdrucks aufzuführen, damit jedermann sehe, wie es mit den bisherigen Ausgaben bewandt ist. In meiner ersten Schülerzeit habe ich mir oft um diese verwünschten Druckfehler Stundenlang den Kopf zerbrochen; jetzt glaube ich so weit zu seyn, daß ich bestimmt weiß, wenn ich etwas nicht verstehe, ob die Schuld an mir liegt, oder an dem fehlerhaften Text.

Wie sehr der Ramayana von Serampora im Argen liegt, ist gar nicht zu sagen. Es ist aber mit den epischen Gedichten überhaupt eine eigne Sache. Die Laxität und Überfülle des Styls öffnete den Abänderungen Thür und Thor; und die starken Abweichungen der Handschriften rühren wohl nicht bloß von den Abschreibern her sondern von den Rhapoden, |sic| wie bey den Homerischen |253| Gesängen vor der Alexandrinischen Periode |sic| daß es Rhapsoden in Indien gab, sieht man bestimmt aus dem Eingange des Mara Mahabharata. – Am wenigsten möchte ich die Inhaltsanzeige des Ramayana als eine Auctorität bey grammatischen Fragen anführen. Sie ist ja offenbar später hinzugefügt, und wahrlich ein schlechtes Meisterstück mit ihren holperichten Versen, athemlosen Wortfügungen und ewiger Wiederhohlung derselben Wörter.

Unmöglich kann ich mir denken, daß es im Nalas nicht mehr Varianten geben sollte, als Bopp angeführt hat. Indessen kann es seyn, daß der Text dieser Episode als eines Lieblingsstückes frühzeitig durch die Bemühungen Indischer Kritiker gereinigt, und nachher besser bewahrt worden. Vielleicht verhält es sich ebenso mit dem Durgâmahâtmyam. So viel Bopp auch im Vergleich mit seinen Vorgängern geleistet hat, so finde ich bey oft wiederholtem Lesen doch noch manche verdächtige Lesearten im Nalas.

So drehen wir uns für jetzt noch in einem fehlerhaften Kreise herum: |254| nur durch Kritik können die Texte gereinigt werden; und wie kann die Kritik mit Sicherheit zu Werke gehn, bevor nicht durch eine Masse gereinigter Texte der Sprachgebrauch ausgemittelt ist?

Der Lesearten, welche ich entschieden verwerfe, sind nur wenige. Wenn Ew. Excellenz meiner Meynung oder vielmehr der Auctorität einer Handschrift beytreten, so wird die Classification der Fälle dadurch vereinfacht werden, und es wird nichts weiter nöthig seyn, als die darauf sich beziehenden Zeilen wegzulaßen.

Zugleich nehme ich mir die Freyheit, eine in etwas b abweichende Auslegung einiger Stellen Ihrer Prüfung anheim zu stellen.[e]

Die Zuthaten zum Bhagavâd-gitâ, Vorrede, kritische Anmerkungen und Lateinische Übersetzung sind noch nicht fertig. Wenn es Ew. Excellenz aber angenehm seyn kann, den bloßen Text bequemer als in der Calcuttaschen Ausgabe, mit möglichster Sonderung der Wörter und vereinfachter Schreibung gedruckt zu haben, so werde ich Ihnen selben mit dem größten Vergnügen zusenden.[f]

|257| Ich bin immer so mit dem Praktischen beschäftigt gewesen, daß ich mit vielen Puncten Punkten der allgemeinen Grammatischen Theorie noch gar nicht im klaren bin. Ew. Excellenz so tief eingehende Erörterungen werden mich veranlassen, an die Griechischen Grammatiker zu gehn, wovor ich immer eine gewisse Furcht gehabt. Ich bin noch nicht weit über den Priscian hinaus gekommen, wo mir denn der Mangel an Grundsätzen und das empirische Herumtappen sehr widrig aufgefallen ist. Bey dem Grundirrthum, die 1. pers. praes. und der nominatif |sic| sey das Wort selbst, konnten sie ohnehin in der Lehre von den Flexionen auf keinen grünen Zweig kommen. Bey allem dem müssen wir dennoch die Lateinische Kunstsprache beybehalten; nur denke ich mit dem Vorbehalt passendere Benennungen, nach derselben Analogie gebildet, an die Stelle der Alten |sic| zu setzen, und wo eine Sprache etwas eigenthümliches hat, ganz neue zu erfinden. Könnte man nicht das  Sankskrit {tvā} und  Sankskrit {ya} den Absolutivus nennen? Doch ich muß erst reiflich durchdacht und |258| wiederholt gelesen haben, ehe ich mir irgend eine Bemerkung erlauben darf.

Was Ew. Excellenz in Ihrem Briefe über die Nothwendigkeit sagen, das Einzelne zuvörderst genau zu ergründen, möchte ich bey jedem Worte unterschreiben, und bin überzeugt, daß wir nur auf diesem Wege, den Sie eingeschlagen haben, sichre Schritte sowohl in der vergleichenden Sprachkunde als in der allgemeinen Theorie vorwärts thun können. Man kann sich, denke ich, die Mühe sparen, die etymologische Willkühr, die fast eine unheilbare Krankheit des menschlichen Geistes zu seyn scheint, ausdrücklich zu widerlegen. Sobald die wissenschaftliche Forschung eintritt, muß dieß alles von selbst in sein Nichts versinken. So hat z. B. der sonst schätzbare Dr. Schwenck in seinen mythologischen Andeutungen jetzt eben wieder Etymologien vorgebracht, wobey mir ordentlich die Haare zu Berge stehn.

Haben Ew. Excellenz schon die neue chinesische Grammatik von Remusat gesehn? und wie urtheilen Sie über Grimms Deutsche Grammatik?

|259| Ich wünsche von ganzem Herzen, daß Ew. Excellenz der vollkommensten Gesundheit und Heiterkeit bey diesen mühseligen Arbeiten genießen mögen, welche der Wissenschaft so große Resultate versprechen, und verbleibe mit unbegränzter Verehrung
Ew. Excellenz
unterthänig gehorsamster
A.W.v.Schlegel.

Bey der Abschrift der Abhandlung ist der Name des Verfassers weggelassen. Ich bin doch bevollmächtigt, ihn hinzuzufügen, und mit welchen Bestimmungen?
|260 vacat|

Anmerkungen

    1. a |Editor| Oben links die Anmerkung Schlegels: abgesendet d. 5ten Dec.
    2. b |Editor| Dieses Blatt ist nicht erhalten, Humboldt bezieht sich im Brief vom 13.12.1822 auf die von Schlegel besprochenen Stellen.
    3. c |Editor| Zu dieser Einschätzung der Arbeitsmaterialien vgl. den Brief Colebrookes an Schlegel vom 31. Januar 1821: Rosane Rocher / Ludo Rocher (2013): Founders of Western Indology. August Wilhelm von Schlegel and Henry Thomas Colebrooke in Correspondence 1820–1837, Wiesbaden: Harrassowitz, S. 43; ebenda Anm. 86 zitiert diese Stelle des Schlegel-Briefes an Humboldt. [FZ]
    4. d |Editor| Ergänzt nach Leitzmann 1908, S. 89. In der Abschrift befindet sich hier eine kleine Lücke am Ende der Zeile.
    5. e |Editor| Leitzmann 1908, S. 86: anheimzugeben.
    6. f |Editor| S. 255/256 vacat.

    Über diesen Brief

    Eigenhändige Abschrift
    Schreibort
    Antwort auf
    Folgebrief

    Quellen

    Handschrift
    • Grundlage der Edition: Abschrift: Dresden, SLB, Mscr. Dresd. e 90, XIX, Bd. 11, S. 245–260, Nr. 59. – Ausfertigung: ehem. Berlin, AST
    Druck
    • Leitzmann 1908, S. 86–93
    Nachweis
    • Mattson 1980, Nr. 11714

    In diesem Brief

    Werke
    Zitierhinweis

    August Wilhelm von Schlegel an Wilhelm von Humboldt, 01.12.1822. In: Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der Sprachwissenschaftlichen Korrespondenz. Berlin. Version vom 15.03.2023. URL: https://wvh-briefe.bbaw.de/1074

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