Wilhelm von Humboldt an Carl Ritter, 01.07.1826<idno type="BBAW">1068</idno> Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der sprachwissenschaftlichen Korrespondenz Frank Zimmer Editor Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY-NC-SA 4.0) Unbekannt Schlözer, August Ludwig von Schlözer, August Ludwig (1771): Übersetzung der Algemeinen Welthistorie, die in Engeland durch eine Geselschaft von Gelehrten ausgefertiget worden ... : nebst den Anmerkungen der holländischen Übersetzung auch vielen neuen Kupfern und Karten / genau durchges. und mit häufigen Anm. vermeret von Siegmund Jacob Baumgarten. Theil 31: Historie der neuern Zeiten, Halle: Gebauer Ew. Wohlgeboren haben mir durch Ihr gütiges Schreiben von heute einen überaus schmeichelhaften Beweis Ihres Vertrauens gegeben … Humboldt, Wilhelm von Tegel Ritter, Carl 01.07.1826 Eigenhändig FZ 9. November 2021 in Bearbeitung

Ew. Wohlgeboren haben mir durch Ihr gütiges Schreiben von heuteDer Brief ist nicht nachzuweisen. [FZ] einen überaus schmeichelhaften Beweis Ihres Vertrauens gegeben, für den ich Ihnen wahrhaft verbunden bin. Ich würde diesem Vertrauen nicht zu entsprechen glauben, wenn ich, da zum Nachdenken und Nachschlagen keine Zeit übrig ist, mich der Besorgniß hingeben wollte, in der Eil u. ohne nun eine gehörige Karte vor Augen zu haben, etwas zu sagen, daß das weder des Gegenstandes, noch Ihrer gütigen Einladung würdig ist. Ich glaube vielmehr es auf diese allerdings sehr drohende Gefahr hin wagen zu müssen, Ew. Wohlgeboren meine Meinung über die von Ihnen aufgestellte Preisaufgabe freimüthig und frei von allen kleinlich egoistischen Bedenklichkeiten zu sagen.Zu dieser Preisaufgabe siehe das Protokoll zur Leibniz-Sitzung der Berliner Akademie der Wissenschaften vom 3. Juli 1826 (Archiv der BBAW, II-V, 182, 12v): "Als neue Preisaufgabe war von der historischphilologischen Classe die Untersuchung aufgegeben: Eine, neben der Benutzung der Geschichtsschreiber und Geographen, besonders auf Sprach- Kunst- und andere historische Denkmale gegründete Musterung der jetzt lebenden europäischen Völker Gebirgsvölker, von der obern Wolga, Duna, Dnepr an, zwischen dem schwarzen und baltischen Meere, gegen Südwest bis zum Adriatischen, und von diesem längs des nördlichen Po-Ufers, zu den Ost-Ufern der Rhone und des Mittel-Rheins; zum Behuf einer Grundlage der Ethnographie und Sprachen-Karte Europas. Der Einsendungs-Termin ist der 31. März 1828. Die Ertheilung des Preises von 50 Dukaten geschieht in der öffentlichen Sitzung am Jahrestage von Leibnitz, den 3. Julius desselben Jahres." [FZ]

Ich halte es für einen vortreflichen Gedanken, die ethnographischen Verhältnisse Europas zum Gegenstande einer akademischen Aufgabe zu machen, und stimme vollkommen in alles dasjenige ein, was Sie über diesen Vorwurf neuer Forschungen in Ihrer Einleitung zur neuen Preisaufgabe sagen. Das Bedürfniß ist, wie Ew. Wohlgeboren es vorstellen, dringend, und der Moment ist gekommen, wo Sprach- und Völkerstudium die Lücke auszufüllen erlauben.

Worin ich eben nicht mit Ihnen, wie ich offenherzig gestehen muß, übereinstimmen kann, ist, daß Sie in der Aufgabe eine Musterung der Gebirgsvölker verlangen.

Zuerst ist dieser Ausdruck zu wenig bestimmt, und wird es noch weniger dadurch, daß Sie zu den Gebirgen doch auch die niedrigeren Waldstriche mitnehmen. Wie weit sollte sich nun z.B. die Aufgabe über das platte Land von Schlesien erstrecken? So soll jedes auch kleinre Gebirge, wie der Harz, die kleinen Bergrücken in Westphalen mit aufgenommen werden, oder hat man nur die großen, das Riesengebirge, die Schweiz, die Karpathen u.s.f. gemeint?

Dann sieht man wenigstens aus der jetzigen Fassung nicht recht, warum man gerade bei den Gebirgsvölkern stehen bleiben will. Die Einleitung entwickelt diese Idee gerade nicht, oder wenigstens nicht genug, u. mir wenigstens ist es so gegangen, daß ich diese Bestimmung nicht erwartete. Es heißt gar bei Gelegenheit der Albwiesen: in dieses u. jenes, außerhalb großer Heerstraßen u.s.f. und hiermit scheint wohl ausgedrückt zu seyn, daß man die Untersuchung der Gebirgsvölker gerade noch vernachlässigt hält, daß man glaubt, daß es in den Gebirgen gerade noch Sprach- u. andre Denkmäler giebt, welche Licht auf den Ueberrest des Landes verbreiten können. Ist das Ew. Wohlgeboren Meinung gewesen, so wage ich wirklich nicht, jetzt aus dem Stegreif weder zu behaupten, noch zu bestreiten, daß dieser Weg zu wichtigen Resultaten führen könne, allein so würde ich doch achten, dieser Idee in der Einleitung zur Preisaufgabe mehr Raum zu vergönnen. Dadurch würde denn auch die Aufgabe von selbst im Ausdruck Gebirge bestimmter werden. Denn es würde sich nun bald zeigen, bei welchen Gebirgen die Untersuchung gar nichts Neues anspräche, u. diese sonderte sich dann von selbst ab. Die Bewerber würden denn auch gleich auf das erst neu zu leistende geführt, was immer gut ist, da man doch nicht in einer Preisaufgabe alles schon Bekannte über einen so weitläuftigen Gegenstand wieder vortragen soll, noch kann.

Hat aber Ew. Wohlgeboren, ohne daß Sie die Aufgabe so beschränken sollten, vorgeschwebt, daß der Völkerzug oft u. meistens auf den Gebirgen fortgeht, u. sich von den Gebirgen aus verbreitet, so würde ich in der Aufgabe lieber sagen: „die jetztlebenden Europäischen Völkerstämme mit besondrer Rücksicht auf die Wege, die sie über die Gebirge genommen u. die Spur, die sie in diesen, sowohl in den heutigen Gebirgsvölkern, als in todten Denkmalen hinterlassen haben.“ Denn in der Voraussetzung, von der ich jetzt rede, wollte man doch die Untersuchung nicht auf die Gebirgsvölker beschränken, sondern die Preisbewerber nun gleich dahin weisen, wo sie die tiefsten und ergiebigsten Forschungen zu machen hätten.

Wenn ich meine Meinung hier sagen darf, so scheint es mir, müßte die Preisaufgabe sich entweder insofern ganz auf die Gebirgsvölker beschränken, das man in diesen das noch vorzüglich Unbekannte zu finden meint, u. dann dadurch normirt u. eingeführt werde; oder sie müßte sich auf eine ethnographische Musterung Europas beziehen, wie wenn man z.B. das darüber von Schlözer im 31. Th. der allgemeinen Weltgeschichte Gesagte jetzt prüfen u. nach dem jetzigen Zustande der Wissenschaft berichtigen wollte. Die Gränze zwischen Europa u. Asien muß eben alsdann festgestellt werden nach ethnographischen Ansichten, u. dies scheint mir in Ew. Wohlgeboren Aufsatz sehr richtig geschehen zu seyn.

Nähme man die Aufgabe auf die letzte Weise, so ist sie überaus weitläuftig u. es scheint mir denn nothwendig, entweder ihr ihren ganzen Umfang zu lassen, ohne neu eine summarische Ausführung zu verlangen, oder ihren Umfang zu theilen.

Thäte man das Erstere so müßte die beantwortete Aufgabe nun die verschiednen Völkerstämme vollständig u. richtig angeben, sich aber über deren einzelne Verzweigungen nur im Allgemeinen einlassen. Sie wäre gelungen, wenn kein Völkerstamm fehlte, wenn keiner hineingelangen wäre, der nicht vorhanden ist, wenn nicht verschiedene Stämme als derselbe, oder derselbe, als verschieden genannt, u. wenn nicht wesentliche Irrthümer in ihrer Vertheilung begangen wären.

Theilte man die Aufgabe, so könnte dies entweder nach den Völkerstämmen, oder nach den Länderstrichen geschehen.

In der ersteren Rücksicht könnte man die genaue Nachweisung aller Slawischen Völkerstämme u. ihre Spuren in Sprache, Namen, Sitten u. Denkmalen verlangen, und dies würde ich für eine höchst angemessene Fassung der Aufgabe halten. Die Preisbewerber müßten alsdann den slawischen Stamm nicht bloß von den offenbar von ihm verschiednen, wie es der sogenannte Thrakische ist, bestimmt scheiden, sondern auch von den Stämmen, die obgleich entweder selbst slawisch, oder viel Slawisches in sich tragend, dennoch nicht rein, oder bloß slawisch sind, wie die Litthauer u. die alten Preußen. Dann würde ich aber alle Bezeichnung des Landstriches weglassen.

In der zweiten der genannten Rücksichten glaube ich müßte der Länderstrich, wenn diese Fassung Nutzen greifen sollte, so bestimmt werden, daß er wenigstens Einen Völkerstamm ganz in sich faßte, u. dies ist wirklich in Ew. Wohlgeboren Bestimmung der Fall, die auf den Slawischen vorzugsweise paßt. Nur vermisse ich darin wieder einige Bestimmtheit. So vermisse ich z.B. wie weit zwischen dem Ausfluß der Donau z.B. u. dem Adriatischen Meere der Strich südlich genommen werden soll, ob nun bis an die Donau, oder tiefer u. durch ganz Ungarn, Griechenland u.s.f. Auf keine Weise aber kann ich in Europa selbst eine geographische Bestimmung sehr nützlich halten. Sie wird immer wieder die ethnographischen Verhältnisse zerschneiden u. stören, wie bei der Gränzbestimmung in Ew. Wohlgeboren Aufgabe der Deutsche Stamm vom Skandinavischen wirklich getrennt ist.

Ich fühle beim Durchlesen dieses Blattes, wie sehr es der Nachsicht Ew. Wohlgeboren bedarf. Ich bitte Sie aber nur zu glauben, daß ich geschrieben habe, weil Sie es so gütig wünschten, nicht aber in der Anmaßung etwas, worin Ew. Wohlgeboren so sehr Meister sind, bessern zu wollen.

Nichts würde so sehr der großen u. innigen Achtung entgegen seyn, die ich für Ew. Wohlgeboren hege, u. wenn ich Sie bitte, die erneuerte Versicherung anzunehmen. Humboldt Tegel, den 1. Jul. 1826.