Jacob Grimm an Wilhelm von Humboldt, 08.08.1824<idno type="BBAW">11</idno> Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der sprachwissenschaftlichen Korrespondenz Frank Zimmer Editor Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY-NC-SA 4.0) Grundlage der Edition: Berlin, SBBPK, Nachlass Grimm, 1165, (3), Bl. 9–10 (Entwurf). – Ausfertigung: Ehem. Preußische Staatsbibliothek zu Berlin, gegenwärtig in der Jagiellonen-Bibliothek Krakau, Berliner Depot, Autogr. (Gr.) Leitzmann 1906, S. 150–152 (Ausfertigung) Mattson 11807 (Ausfertigung) Tooke, Andrew Walker, William Grimm, Jacob (1822–1837): Deutsche Grammatik, 2. Aufl., 4 Bände, Göttingen: Dieterich Humboldt, Wilhelm von (1825): Über das Entstehen der grammatischen Formen und ihren Einfluß auf die Ideenentwicklung. Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 17. Januar 1822. In: Abhandlungen der historisch-philologischen Klasse der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin aus den Jahren 1822 und 1823, S. 401–430 (Separatdruck 1823). – Vgl. GS IV, S. 285–313 Walker, William / Tooke, Andrew (1720): A Treatise of English Particles. The Fiftheenth Edition, Corrected and Amended by A. Tooke, London: John Baskett Eurer Excellenz gütige Zuschrift vom 28 Juni hat mich erfreulich überrascht. … Grimm, Jacob Kassel Humboldt, Wilhelm von 28.06.1824 Eigenhändiger Entwurf in Kleinschreibung Altgriechisch Deutsch Englisch FZ 19. März 2020 in Bearbeitung

Eurer excellenz gütige zuschrift vom 28 juni hat mich erfreulich überrascht.Datum und Schreibort dieses Entwurfes ergeben sich aus den Angaben der Briefausfertigung in Krakau. [FZ] Es ist mir von großem werthe, mit einem mann, dessen tiefe einsichten auch das fach, wovon ich einen kleinen theil bearbeite, erleuchten, in berührung gekommen zu sein; eine berührung, die ich mir lange wünschte, selbst anzuknüpfen. aber nicht wagte, selbst anzuknüpfen.

Auch Die vorlesung über das entstehen der grammatischen formen neueste abh. , für deren zusendung ich herzlichen dank erstatte, über das entst. der gramm. formen, habe ich zu meiner vielfachen belehrung und erweckung durchlesen. Allen darin enthaltenen geistreichen behauptungen beizupflichten oder sie zu bestreiten fühle ich mich noch nicht gewachsen. Ew. Exc. schweben in der höhe, das weite feld überschauend; ich weiß noch nicht, ob ich einmahl von meinem boden werde auffliegen dürfen. Jetzt klebe ich sogar mehr daran, als zu der zeit, wo ich die vorredeGemeint ist die Vorrede der zweiten Auflage seiner Deutschen Grammatik , S. V–XIX, erschienen im Jahr 1822. [FZ] niederschrieb, deren Sie auf eine für mich mir unvergeßlich nachsichtige weise erwähnen und die ich beinahe bitten muß, nicht niemahls wiederzulesen, weil es sonst um den guten, für mich günstigen eindruck gethan sein würde. Ich spürte bald nachher, daß noch reichlich gelernt werden müsse und könne, ehe wir gleichsam den thatbestand unserer sprache vor augen haben; durch dieses forschen und durch die täglichen entdeckungen, die es zur folge hatte, wuchs mir die eine gewisse scheu, nach den letzten gründen zu fragen; ich arbeite fort, ohne zu sorgen, wohin es führen, was es anstoßen oder bestätigen wird. Genug ermunterung für mich, daß wenn ich einzelnes zur antwort auf höhere fragen diensam, geahnt oder blindlings gefunden habe. Die nachfolgenden äußerungen über den inhalt Ihrer abhandlung sind daher schüchtern gemeint, mehr als ich es im augenblick zeigen kann.

Die herrlichkeit geistiger sprachbildung haben Sie Den hohen Werth geistiger Sprachbildung finde ich in der abh. habe ich noch nie so schön und klar auseinander gesetzt gesehen; die mittel, deren er gerade bedarf, nimmt sich der geist der geist nimmt sich die mittel, deren er gerade bedarf, und führt damit einen bewunderungswürdigen haushalt. Dies Ähnliches ist mir auch vorgeschwebt, als ich mich über das verhältnis der schriftsprache zu den volksmundarten zu erklären hatte, welche letztere von ihren sammlern gewöhnlich zu hoch sehr auf unkosten der gebildeten sprache erhoben werden. Das gemeine volk führt noch einzelne leiblich-schöne flexionen und formen fort, aber die seele ist daraus gewichen und es weiß sie nicht harmonisch anzuwenden; die schriftsprache hat ihnen aus höheren zwecken entsagt, und vermag sie selten aufzunehmen. wie vermöchte sie wieder sich damit zu befaßen?

Den grammatischen formen ursprüngl. bedeutsamkeit zuzugeben bin ich immer geneigt gewesen, ja an den gebrauch bedeutungsloser elemente, den Sie zwar für eine in a: spr. D.h.: in allen Sprachen seltne erscheinung in allen sprachen erklären, doch aber in gewissen fällen annehmen, glaube ich [nicht recht] schwer nicht recht . Allein ich gestehe auch, dass es mir außerordentlich schwer vorkommt, die wahre bedeutung der flexionen nachzuweisen ins licht zu setzen , kaum kenne ich beispiele, die befriedigen. Mit der d bedeutung der partikeln f verhält es sich nicht viel anders. Tooke weiß mehr, als er beweisen kann, seine erklärungen, sobald man sie historisch prüft, erliegen fast alleDamit ist wohl die von Andrew Tooke herausgegebene 15. Auflage von William Walkers A Treatise of English Particles gemeint. [FZ]. Dies mislingen macht aber nicht, daß man den der grundsatz der bedeutsamkeit aufzugeben aufgegeben zu werden braucht.

Ich freue mich darauf Vortrefflich wäre es wenn , wie Sie einmahl inskünftige den gegensatz des auf steigens zur bildung und den des herabsinkens von derselben entwickeln werden. Mehr als einmahl zeigt gewährt uns die geschichte den gang des versinkens, aber fast nie den aufsteigenden fast nie. Die deutsche sprache bei ihrer ersten erscheinung zeigt mehr wahre grammatische formen, als je nachher, und mehr fein gebildete praep.D.h.: Präpositionen und conj.D.h.: Conjunctionen als späterhin. Sie ist offenbar schon damahls im zustande des sinkens von einer höhe herab, die sich unsern blicken völlig entrückt hat. Da nun die denkkraft der deutschen völker vom in dieser Zeit, ich will sagen vom vierten bis zum achten jahrh. sich wenig hervorleuchtet so muß die tref grammatische trefflichkeit ihrer sprache entweder aus einer älteren auf eine ältere periode geistiger bildung herrühren hinweisen, oder weniger abhängen noch von etwas anderm abhängen. Darf ich nun gestehen bekennen, daß ich auch einer stoffartigen Herrlichkeit der sprache, die mir mit jenem <<fast> undurchdringlichen und doch nicht wegzuleugnenden> geheimnis der wahren flexion innig verwandt scheint, vieles einräume? Sie tritt der geistigen Ihr tritt die geistige in gewissem sinne entgegen, störend und unterbrechend manches von dem, was der andern gemäß war. Wir bauen auf Unser geschlecht baut immer auf eine zerdrückte ältere schöpfung mit ihren steinen und bäumen. Wir werfen Nicht alles was wir wegwerfen, wäre überflüßig gewesen, wir sollen auch in einigem darben. Selbst die glücklichsten sprachen haben aber auch eine menge einen guten theil stoffs in sich behalten, wel der der denkkraft, wenn sie allein walten könnte waltete , widerstreben müste. Um ein beispiel zu geben, der unterschied der geschlechter des geschlechts und dessen anwendung auf ganz abstracte begriffe läßt sich aus der griech. sprache gar nicht nehmen. Gleichwohl leugne ich nicht, daß die englische durch seine entfernung in einigen rücksichten gewonnen haben mag.

Den Satz (S. 18) daß jemehr sich eine sprache von ihrem ursprung entferne, sie desto mehr gewinne sie an form kann ich daher nicht unbedingt zugestehen. Sie scheint mir an poetischer form einzubüßen, wie sie an philosophischer zunimmt. Ich behaupte auch zweierlei sich entgegenstehende gesetze des wohllauts, das eins prosodisch, das andere vom accent abhängig. Nur muß man auch hier, wie Ew. E. mit recht einen strengen unterschied zwischen flexions und agglut. sprachenD.h.: Flexions- und Agglutinations-Sprachen verwerfen, auch hier zugeben, daß beide richtungen ineinander greifen.

Ich bitte Ew. Excellenz nicht zu zweifeln, daß ich es an diese meine ansichten sind weit schüchterner gemeint sind, als ich hier es sie auszudrücken vermag vermochte und die

Mit wahrer verehrung habe ich die ehre zu sein