Wir haben uns in unendlich langer Zeit nicht gesehn, liebster Freund, und ich
mache mir oft Vorwürfe, daß ich Sie nicht öfter aufgesucht habe. Allein ich
bringe, in meiner jetzigen Lebensweise, den Sommer unter vielen Zerstreuungen u.
entfernt von Büchern zu, u. so heftet mich der Winter dermaßen an meinen
Schreibtisch, daß ich ihn wirklich, ein Paar Abendstunden ausgenommen, niemals
verlasse.
Heute habe ich eine große Bitte an Sie. Meine Arbeit über die
Urbevölkerung Spaniens
ist seit einigen
Wochen vollendet. Da ich aber früher einmal ausführlich mit
Ritter
davon gesprochen
hatte, so theilte ich ihm die Handschrift mit. Er meint, daß die bisher sehr
dunkle Materie der Urbevölkerung des Westlichen Europas,
u. die Fragen über die Celtische Sprache, u. den Zusammenhang einiger neuern
mit ihr, dadurch sehr aufgeräumt seyen, daß der Weg gezeigt sey, wie man den von
mir nur von Einer Seite her behandelten Stoff erschöpfen könne, u. daß die
vorsichtige Methode, die ich gewählt, sich auch zur Nachahmung bei andren
Untersuchungen gleicher Art empfehle. Er rathet mir also sehr zur öffentlichen
Bekanntmachung.
Ehe ich aber zum Druck schreite, oder ihn auch nur fest beschließe, wünschte ich
unendlich, daß Sie die Handschrift eines Blickes würdigten. Ich bin weit
entfernt, Ihnen die Mühe einer eigentlichen Durchsicht zuzumuthen. Allein ein
Urtheil im Ganzen werden Sie fällen können, wenn Sie einige §phen aufmerksam
lesen, u. in andre hineinblicken. Daß Sie dies thun u. mir Ihr Urtheil
freimüthig sagen mögen, ist Alles was ich wünsche u. worum ich Sie mit
Vertrauen auf Ihre alte Freundschaft bitte. Das Inhaltsverzeichniß wird Ihnen
eine Hülfe seyn, das auszuwählen, was Sie füglich überschlagen können.
Leben Sie herzlich wohl! Mit alter u. unveränderter Freundschaft
der Ihrige
Humboldt.
27.Mattson 1990, S. 575 im Kommentar zu Brief 140 datiert diesen Brief
aufgrund des oben genannten, lediglich durch ein kurzes Regest bekannten
Brief an Carl Ritter vom 16. Januar 1821 (Wolfgang von Wurzbach
(1954): Katalog meiner Autographen-Sammlung,
Wien: W. Krieg, S. 53 Nr. 469) auf den 27.
Januar 1821. Der Verbleib des Briefes an Ritter ist
unbekannt. [FZ]