2. October 1823.
Ich habe mich sehr gefreut, von dem Minister von
Stein zu hören, dass Ew. Excellenz Ihre
Frau Schwiegertochter einen Enkel geschenkt hat und dass diese Erfüllung eines langen
Wunsches ein neues Glück in Ihrer Familie vorbereitet hat. Ich wünsche dem
Kleinen, dass er recht frisch und stark aufwachsen und in seiner aufblühenden
Jugend von dem Einfluss der Grosseltern recht viel aufnehmen möge. Auch seinen
Eltern bitte ich meine herzlichen Glückwünsche zu sagen.
Den Herrn von Stein hatte ich im Anfang Sept.
in Cappenberg besucht. Ich trennte mich
von meiner emsigen Arbeit, welche in der ungewohnten Musse der Ferien mich mit
doppelter Anziehung fest hält, weil ich den Vortheil einer gelegentlichen
Einladung von ihm nicht aus den Händen lassen wollte, in der Absicht und
Erwartung einen so merkwürdigen Mann in der Nähe zu sehen. Die kleine Reise ist
mir aber zu einer der erfreulichsten Ereignisse ausgeschlagen, weil er so gar
nicht zu denen gehört, die sich nur sehen lassen, sondern Charakter und Gemüth
so klar und offen zu erkennen giebt, und weil fast alle seine Reden mir
einnehmend und bedeutend waren. Ein so bescheidner Sinn bey soviel Stolz und
Kraftgefühl, die Vereinigung altväterlicher Einfachheit mit dem Geist und Ton
neuerer Welt, und die durchgängige Richtung aufs Grosse und Bedeutende, wodurch
der Gedanke an alles, was ein einzelner Charakter oder Standpunkt im Leben
ausschliessen kann, entfernt wird, übt einen wahren Zauber.
Seitdem habe ich mehrere Wochen auf dem Lande bey meinen Eltern in angenehmer
Ruhe und Einförmigkeit gelebt. Es ist hier mein Tegel, nur ohne Eigenthum, und
ohne vieles andre; aber meine Eltern sind noch gesund und sehr empfänglich. Mein
jüngster Bruder lebt verheirathet im Haus, hat ein allerliebstes Kind von Einem
Jahr und zieht viel Musik in das Haus. Ich unterdessen habe einen Aufsatz über
die Trilogie im Allgemeinen geschrieben, nachdem ich neulich die einzelnen
Trilogieen herauskonstruirt hatte, und habe mich dabey noch fester überzeugt,
dass wirklich das Aeschylische Drama eine Gattung für sich war, mit welcher die
neuere Tragödie des Sophokles und Euripides in vieler Hinsicht auf ganz andere Art
verglichen werden muss, als bisher geschehen ist Merkwürdig war mir dabey zu
sehen, wie dem Aristoteles die ganze
idealische Kunstanschauung, worauf auch die grossen Compositionen der bildenden
Kunst in der besten Zeit beruhen, so sehr abgeht, und wie Aeschylus nach nicht viel mehr als hundert Jahren
ihm gewissermassen veraltet gewesen ist. Demohngeachtet glaube ich auch
Beziehungen auf die Trilogie in der Poetik zu finden, welche meiner Behauptung
seht zu Statten kommen. Wenn ich irre, dann wird Herrmann grosses Recht haben mich zu tadeln. Denn ein grösserer
Contrast der Ansichten hinsichtlich der Haupt- und Nebensachen als in meiner
kleinen Schrift mit seinem Programm über Aeschylus liegt, ist kaum möglich: nur diess setzt mich in
einige Verlegenheit. Aber Ew. Excellenz werden müde seyn, von einer im Werden
begriffenen Schrift zu hören, welche Sie wenn es Ihnen dann gefällt, bald
gedruckt lesen können. Fort muss ich sie haben, weil ich es sonst nicht lassen
kann, mich auf die Geschichte des Dramas immer weiter einzulassen, was doch
darum verkehrt ist weil ich erst das andere über die epische Poesie ausgeführt
haben müsste, um alles unter den vielleicht entstehenden Beziehungen und in
übereinstimmender Ordnung zu behandeln.
Niebuhr zu sprechen habe ich bey seiner neulichen Anwesenheit in Bonn nicht das Glück gehabt, ein einziges mal, dass
ich ihn besuchte und einen andern antraf, der ihn beschäftigte. Er hat sich nur
mit wenigen eingelassen und soll verstimmt gewesen seyn. Es war auf Veranlassung
eines eifrigen Anhängers von ihm ein Plan, von Seite der Professoren seine
Anstellung in Bonn nach Ablauf der fünf Jahre zu
sollicitiren, und diess ist so wenig geheim geblieben, dass mir auf meiner
Hinreise Graf Beust (?),Das Fragezeichen steht so bereits bei Harnack. Eventuell
handelt es sich um den preußischen Geologen und Berghauptmann Ernst August
Graf von Beust, der seit 1817 erster Berghauptmann des Oberbergamtes Bonn
war. [FZ] der aus der Schweiz zurückkehrte, in Coblenz davon erzählte. Mir ist es auffallend gewesen, manches
zu hören, woraus ich schliessen muss, dass der Aufenthalt in Rom gar nicht dazu beigetragen hat Niebuhr’n die Poesie und Kunst des Alterthums
lieber zu machen. Palimpseste, wie sie bis jetzt sie gefunden haben, sind
anziehende Sachen, besonders in Rom, wo einem
selbst diejenigen, welche sich im Mauerwerk finden, angenehm beschäftigen. Aber
zu bedauern wäre es doch, wenn viel solche Männer wie Niebuhr in unserer Zeit, welche auf das historische Wissen und
die Antiquitäten aller Art versessen genug ist, das Ansehen historischer und
grammatischer Subtilität zum Nachtheil einer lebendigen Erkenntniss des
Alterthums bey dem grossen Haufen der Jugend zu ausschliessend beförderte;
Herder, Göthe, die Schlegel haben neben dem Grossen und Guten ihrer
Wirkung freylich auch ein oberflächliches Raisonniren unter den Mittelmässigen
und Schwachen erzogen. Man wird noch viel unerträglicheres mitpflanzen, wenn man
zu einseitig die Richtung der blossen Schule nimmt. Doch hätten wir nur
Niebuhr zum Curator! Die Schätze seines
Wissens würden der Universität nicht blos Glanz,
sondern auch vielfache Anregung mittheilen.
Ich hoffe, dass Ew. Excellenz bald wieder eine Vorlesung geben; es ist nur fatal,
dass der Abdruck so sehr hinausgeschoben zu werden pflegt. Herr von Stein sagte mir von einem Vorschlag, den
er Ihnen gethan, in Bezug auf die Urgeschichte der deutschen Stämme aus der
Etymologie. Ich habe ihm aber so viel von Ihren Studien im Remayana und Baghvat Gita erzählt, dass
seine Hoffnung für die deutsche Geschichte noch kleiner geworden ist. Ich bitte
recht viele Empfehlungen.
Mit grösster Verehrung
Ew. Excellenz
treu ergebenster F.
G. Welcker.