Pempelfort den 9ten Sept. 1790.
— — — Den Dank, den ich wegen Ihrer trefflichen Anmerkungen zu der Jenaer
Beurtheilung meiner neuen Ausgabe für Sie auf dem Herzen habe, kann ich Ihnen
nicht eher bringen, bis ich Ihnen zugleich meine Abhandlung, über da legislative
und executive Vermögen der alleinigen Vernunft, überreiche. Ich habe sie heute,
so weit sie fertig ist, wieder druchgelesen, und neuen Muth zur Vollendung
gefaßt. —
Wahrlich, ich brenne vor Verlangen, mich über die Kantische Philosophie einmal ganz ausführlich zu erklären.
Dieses aber wüßte ich nicht anders anzufangen, als indem ich ihr Verhältniß zu
den frühern Philosophieen Anderen in das Licht meiner Augen stellte, welches
viele und große Anstalten erfordern würde. Das Glück der Kantischen Philosophie ist mir ebenso begreiflich, als der
allgemeine Eindruck und die große, noch fortdauernde Wirkung des Buches
de l’Esprit
vor dreißig Jahren.
Deßwegen kann ich mich auch nicht einmal darüber wundern, daß eine so grobe
Täuschung, als diejenige, worauf die Kantische
Moralphilosophie und Theologie beruht, noch von niemand entdeckt worden ist.
Auch diese Täuschung ist älter als Kant. Man
kann auf diesen merkwürdigen und von mehrern Seiten wirklich großen Mann ein
treffliches Wort von Turgot anwenden: "Il a perfectionné les abus." Wirklich hat er den
Mißbrauch der Speculation als Gebrauch im allerhöchsten Grade vervollkommnet,
ihn wirklich zu Vollendung gebracht, und so eine unausbleibliche Revolution
herbeigeführt, worin er Epoche macht. Seine positiven Verdienste um die Logik, folglich um die Anthropologie
überhaupt, werden seinen Ruhm erhalten, so lange das Räderwerk unserer Urtheile
seine Zähne behält.
— Können Sie mir nicht sagen, mein Liebster, in welchem Jahrgange und
Monat-Stücke des Museums die in Kleins Gesprächen über Freiheit
und Eigenthum S. 95 angezogene Abhandlung
steht? Ich habe diese Gespräche wegen der vielen scharfsinnigen, oft tief
geschöpften Bemerkungen, richtigen Urtheile und trefflichen Gedanken, die sie
enthalten, mit großem Vergnügen gelesen, ungeachtet der unglücklichen Form von
Gesprächen zwischen lauter Gespenstern, (von wirklichen Menschen, wie in der Vorrede versichert wird) die sich
unaufhörlich sperren, um nicht in einander zu fließen, und es gleichwohl,
wenigstens nach dem Augenschein des Lesers, nicht vermeiden können.
Künftigen Monat, den 31sten, werden es zwei Jahre,
daß ich Sie, mein Freund, zum erstenmal sah, und gleich von ganzem Herzen
liebte. Mann, wo sehen wir uns einmal wieder? In Wahrheit, ich dachte nicht, daß
Sie eine so gute Meinung von mir gefaßt hätten. Jetzt weiß ich, daß Sie eine zu
gute von mir haben. Aber so wohl thut es mir, daß ich selbst die Gefahr eines
solchen Irrthums wohl laufen mag. Von gewissen Seiten, weiß ich, daß ich bei
Ihnen nie verlieren kann, sondern, immer mehr gewinnen muß, und so wird sich das
Gleichgewicht beständig wieder finden, sowohl zum Vortheile der Wahrheit als der
Freundschaft. Was ich unaussprechlich bedaure, ist, daß bürgerliche und
politische Geschäfte Sie allmählig ganz verschlingen werden. Werden Sie, ich
bitte Sie flehentlich darum, der Philosophie doch nicht ganz ungetreu. Die
Bemühungen eines freien und markigen Denkers, sey es auch blos in Nebenstunden,
sind fruchtbarer als die Schweißströme der Leute vom Handwerk. Ja wohl Handwerk! Mir ist bei diesen Leuten, als sähe ich
einen Lyoner Modell-Punctirer oder Zugwerk-Knüpfer mit Verachtung auf die
ungefähren Pinseleien eines Le Sueur oder
Poußin herabsehen. Freilich kann man mit
den Händen die Baumwolle nicht so fein spinnen, als sie die Spinnmaschine
liefert; mit dem bloßen Auge nicht so weit sehen, als mit Herschel’s Seh-Rohr; aber ich denke, wir
behalten dennoch unsere Hände, unsere Augen — unsere Spontaneität.