Pempelfort, den 31ten Jan. 1794.
Vie de malingre! vie insupportable, mort continuelle, avec des
momens de résurrection! Diese Klage Voltaire’s gegen d’Alembert
habe ich schon oft bei meinen Freunden angebracht, und wahrlich mein liebster H.
ich bin würdiger sie zu führen, als der Mann, dem ich sie nachspreche. Zu meinen
vielen Uebeln kam im Mai 1792 noch eine Augenschwäche, welche so bedenklich
wurde, daß ich den gänzlichen Verlust meines Gesichts besorgen mußte. Stellen
Sie sich meine Angst, meine Traurigkeit vor! Um mich zu zerstreuen wollte ich
nach Frankfurt auf die Krönung,
von da nach Carlsruhe zu den
Schlosserischen
Johann Georg Schlosser und seine Frau
Johanna, die Halbschwester von
Jacobis Mutter. In erster Ehe war Schlosser bis zu ihrem frühen Tod im Jahr
1777 mit Cornelia Goethe, der
jüngeren Schwester Goethes, verheiratet. reisen. Daraus wurde nichts,
weil Schlosser einen Einfall der
Franzosen befürchtete. Nun ging ich im Juli nach
Achen
. Dort fand ich Herder mit seiner Frau. Die
Freude des Wiedersehens verschlang alle Erinnerung des zwischen uns gewesenen
Haders, und wir brachten vier sehr glückliche Wochen miteinander zu. Nun
unternahm ich doch noch die Reise nach Carlsruh, weil Göthe mich
dringend zu einer Zusammenkunft mit ihm in Mainz einlud; er wollte mir auch bis Coblenz entgegenkommen. Ehe ich fertig werden konnte, mußte
Göthe zum Herzog ins Lager. Ich war aber nun reisefertig und reiste. Vier
selige Wochen brachte ich dort zu, und hatte noch vierzehn Tage vor mir, als die
Franzosen durch die Einnahme von Speier
dieser Herrlichkeit ein schreckliches Ende machten. Es war nicht leicht
auszumachen, auf welchem Wege ich sicher wieder nach Hause gelangen könnte.
Zurück mußte ich, wenn auch nur zum Einpacken und Flüchten. Meine
SchwesternJacobis Halbschwester
Charlotte ("Lottchen") und
Helene ("Lenchen"). waren mit
mir gereist, und meine Tochter, die
anderthalb Jahre im Schlosserischen Hause zugebracht hatte, wollte ich jetzt
mitnehmen. Wir zogen nach Stuttgart; von
dort unter tausend Besorgnissen über Heidelberg nach Frankfurt, und erreichten endlich glücklich unser Pempelfort. Gleich darauf wurde Mainz eingenommen und wir verlebten wieder vierzehn
angstvolle Tage. Damals lag ich eines Abends wegen Kopfweh hingestreckt auf
einem Canape, und Lene las mir vor. Ein
geschwätziger Kriegsrath R., den ich auf meiner Rückreise von Carlsruh bei Dohm kennen gelernt hatte, wollte mir über den Hals. Er kam mit
seinem Registerschiff von Wesel zurück. Ich
hatte ihm sagen lassen, daß ich todkrank, – wenn es seyn müßte – gestorben,
begraben wäre. Das war geschehen, schon vor zwey Stunden, und ich glaubte mich
gerettet. Da klingelte es und ich höre Geräusch; ein Bedienter kommt
hereingeschlichen – "ein fremder Herr" – doch der verdammte R., sagte ich
verzweiflungsvoll; ich sehe … ich spreche ihn nicht! Lene ging hinunter, und zu sehen wie sie dem Uebel abhülfe; der
Fremde war schon an der Treppe, das hörte ich, sprang auf –
Göthe!
rief ich aus;
gewiß Göthe! – Er war es, liebster H., er
selbst! Er war nur auf acht Tage gekommen, blieb vierzehn Tage, blieb drei
Wochen, und wäre wahrscheinlich bis zum Frühjahre, wenigstens noch eine gute
Zeit geblieben, wenn nicht Dumouriez mit
Riesenschritten herangerückt wäre. Da die Franzosen in Aachen einrückten, brach Göthe auf. Nach dieser Trennung ging es uns übel. Traurig und
kummervoll brachten wir den Rest des Winters zu, doch nicht unerheitert durch
mancherlei Genuß und Hoffnung. Am Neujahrstage 1793 kam mein Sohn Georg von seiner mit Stolberg nach Italien gemachten Reise zurück. Ich hatte große
Freude, und Freude gibt Muth. Die Sorge mein Gesicht zu verlieren hatte schon im
Herbst abgenommen. Da mich dieses Uebel heimsuchte, war ich mitten in der Arbeit
an Woldemar. Ich suchte nun meine Papiere wieder
hervor und griff das Werk von neuem an. Es wollte doch nicht recht damit voran
so lange die Franzosen noch diesseits der Maaß standen. Hierauf ging es, und ich
ließ nicht mehr ab, obgleich mein Befinden oft sehr schlecht war. Ich war so gut
als fertig, als mich im September die SchlosserischenSiehe die Anmerkung oben. und mein Bruder aus Freyburg besuchten. Dohms
Christian und Anna Henriette Elisabeth von Dohm. und
mehrere meiner Freunde versammelten sich zu ihnen in Pempelfort. Des Guten wurde in der That zu viel; man konnte
nicht alles genießen, und dieses Nichtkönnen schien Entbehrung. Zu Cöln in Dohm’s
Hause schieden wir den 21ten October auseinander.
Ich kehrte zurück nach Pempelfort und
arbeitete ohne Unterlaß an der Vollendung meines
Werkes. Hier ist es, liebster H. — —