Wilhelm von Humboldt an Karl Gustav Brinckmann, 05.12.1799<idno type="BBAW">624</idno> Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der sprachwissenschaftlichen Korrespondenz Frank Zimmer Editor Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY-NC-SA 4.0) Trolle-Ljungby (Fjälkinge, Schweden), Graf v. Trolle-Wachtmeister Grundlage der Edition: Leitzmann 1939, S. 115–120 Mattson 608 Gentz, Friedrich von Goethe, Johann Wolfgang von Humboldt, Caroline von Pindar Reinhard, Christine, geb. Reimarus Villoison, Jean-Baptiste-Gaspard d’Ansse de Voltaire, François-Marie Arouet, gen. Voss, Johann Heinrich Goethe, Johann Wolfgang von (1802): Mahomet. Trauerspiel in fünf Aufzügen nach Voltaire von Goethe, Tübingen: J. G. Cotta Voltaire (1743): Le fantasme, ou Mahomet le Prophète. Tragédie, Amsterdam: Etienne Ledet & Compagnie Was machen Sie, liebster Freund, daß Sie uns gerade in der merkwürdigsten Epoche der Französischen Revolution ganz und gar nicht schreiben? … Humboldt, Wilhelm von Madrid Brinckmann, Karl Gustav Deutsch Englisch Französisch Schwedisch Spanisch FZ 13. September 2021 in Bearbeitung
Madrid, 5. Dec. 99.

Was machen Sie, liebster Freund, daß Sie uns gerade in der merkwürdigsten Epoche der Französischen Revolution ganz und gar nicht schreiben? Es wäre mir sehr lieb, gerade jetzt etwas von Ihnen zu hören, da ich hier so wenig Zeit und selbst Gelegenheit habe, diese neue Begebenheit zu studiren. Mich freut sie, das kann ich nicht läugnen. Einige Leute behaupten zwar hier, daß es mit der Freiheit dabei nicht gut stehe. Aber da mir die lebenden Menschen und ihre Ruhe immer lieber sind, als die bloß metaphysischen Wesen, so ist meine Parthei genommen. Ich freue mich einmal und will mich freuen. Es sind doch endlich Leute von Kopf und Talent in den Aemtern, man wird Ordnung und Ruhe wollen, und Macht haben, sie herzustellen. Sehr gern wäre ich um diese Zeit in Paris gewesen. Es muß äußerst interessant gewesen seyn, und es ist sehr ungeschickt, gerade jetzt nach Spanien zu gehen. Doch bin ich noch immer mit meiner Reise nicht unzufrieden; ich habe erst neulich zwei Menschen kennen gelernt, die mich sehr interessiren. Es sind zwei Dichter, mit denen sich aufs mindeste so gut, als mit einem Pariser raisonniren läßt (man wird bescheiden auf Reisen) und die anspruchloser und zuvorkommender sind. Ich studire soviel ich kann die Spanische Sprache und Literatur, und versäume auch hier unsre gemeinschaftlichen Beschäftigungen nicht. Ich meyne die Prosodie. Ich komme aber immer mehr dahin, daß nur wir Deutsche eigentlich eine haben. Ich nehme allenfalls die Engländer aus, die ich nicht persönlich kenne, und wirklich persönlich muß man eine Nation kennen, über die man in diesem Punkt urtheilen will, man muß sie declamiren hören, sonst ist nichts zu machen. Alles kommt nemlich, dünkt mich, auf die Deklamationsgrundsätze an. Diese allein können die Prosodie begründen. Darum ist es, dünkt mich, unmöglich, daß die Franzosen je eine Prosodie bekommen sollten. Wer, wie sie, fast alle Silben mit gleicher Währung und Geltung ausspricht, oder sich im Gewicht, das er giebt, nach Grundsätzen richtet, die, wie ich glaube, keine Regel erlauben, weder dem Sinn ganz und gar, noch bestimmten Abschnitten des Verses folgt, wer jedes häufige Inflectiren der Stimme singen nennt, der kann keine regelmäßige Geltung einzelner Silben annehmen. Die Spanier haben nicht diese Eigentümlichkeit, sie singen unstreitig für die Ohren eines Franzosen, aber sie singen auch für unser Ohr, sie folgen in der Declamation nicht allein dem Sinn, sondern dem Numerus, den sie sehr stark bemerken, sie haben in ihrer Declamation nicht bloß Rhythmus, sondern wirkliche Melodie. Die Sache, in ihren Gründen untersucht, scheint mir eigentlich daran zu liegen. Es giebt hier nur zwei Manieren. Man muß die Worte und die Rede entweder bloß als Schall, oder bloß als Hieroglyphe betrachten. Die Alten thaten das erste; der Sinn betraf bei ihnen nur den Accent, und der Accent ging die Poesie nur insofern an, als er nicht störend seyn durfte, und als er in einzelnen Fällen nachhalf. Die Alten waren ganz Ohr. Wir haben uns Kopf über, Kopf unter in den Verstand geworfen, und uns dadurch gerettet. Wir achten den Schall (z.B. die Position u.s.w.) nur insofern er stören oder adminiculiren könnte. Die mittäglichen Nationen haben noch für die Regelmäßigkeit des Rhythmus zuviel Musik in ihrer Deklamation. Das klingt paradox, ist aber doch ganz natürlich. Kann man nicht das ganz Musikalische der Alten durchaus erhalten, so stört es nur die Deklamation, statt ihr aufzuhelfen. Was mir indeß dabei immer dunkel bleibt, ist das wunderbare Phänomen, daß die Alten allein etwas gehabt haben sollen, was jetzt kein Sterblicher auch nur mehr irgend geläufig nachmachen kann, nemlich die gleichzeitige Beibehaltung des Accents und der Quantität. Es scheint mir so wunderbar, daß ich nicht weiß, was ich dazu sagen soll. Ich glaube immer, man glaubt Wunder, wo keine waren. Vermuthlich vernachlässigten sie in der Prose so gut die Quantität, als in der Poesie den Accent, und sprachen also, nur durch die Uebung vollkommner, wie wir, die wir auch immer in einzelnen Fällen beides unterscheiden. Der wahre Unterschied hat, glaube ich, ursprünglich im Reim gelegen. Ohne Reim mußte man feste Bestimmungen der Silbenlänge haben, und so kamen nach und nach die Regeln der Alten zu Stande. Die neuern Nationen hatten den Reim und für sie waren also lange Silben nur solche, die nicht leicht kurz seyn konnten ihrer Aussprache nach, und so ist es auch in der That. Damit aber giebt es natürlich keine feste Regel, wenigstens nicht für alle Fälle, und das Organ gewöhnte sich nun auch nicht an eine so sorgfältige Bewahrung der Längen. Unsre Manier ist ganz unnatürlich und kann nie Volksmanier werden. Die Epoche, wo unser Volk einen Hexameter begriffe, wäre gerade die, wo es aufhörte Volk zu seyn. Diese Manier konnte nur in späten Zeiten entstehen, und nur in einer Nation, die wenig sinnlich ist. Der Verstand und das Ohr haben offenbar wenig mit einander zu thun, und wir müssen schwer auszusprechende Silben kurz zusammenziehen und eine leicht auszusprechende lang machen, weil sie die Stamm oder Hauptsilbe ist. Die natürliche Folge dieses Systems muß eine vollkommne Unterjochung der Sprachorgane seyn, und wirklich sind die Deutschen darin weit gekommen. Denn die schlechtgemachtesten Verse liest ein Deutscher (vorzüglich wenn es seine eignen sind) nach jedem Silbenmaaß, was er sich darüber schreibt. Daß dieser Misbrauch auch nur möglich ist, liegt doch am System. Der sanfte und melodische Dichter wird freilich die Fälle, wo Verstand und Ohr in Streit sind, vermeiden, wie z.E. Sie und Sie vielleicht allein unter allen Deutschen Dichtern thun. Aber alsdann muß man eine Menge Wörter ausmerzen, und den Kreis seiner Gegenstände in der Sprache verengen. Voß nimmt darauf, dünkt mich, sehr wenig Rücksicht. In keiner Sprache, als der Deutschen, wäre es möglich, daß ein Dichter, wie Göthe, so entsetzlich schlechte Verse machte, als er manchmal und häufig thut. Aber wie soll es nicht seyn? Natürliche Regeln des Ohrs giebt es nicht, und die künstlichen gehört es beständige Aufmerksamkeit dazu zu bewahren. Demungeachtet bin ich natürlich allein für unser System. Aber ich werde es nie für etwas anders erkennen, als für einen salto mortale, durch den man sich durch Kunst giebt, was die Natur versagt hat. Doch thut dies nichts, denn da dieser salto mortale uns, die wir immer auf den Verstand sehen und Regeln suchen, leicht wird, so wird sich das Ohr gewöhnen und der ganze Schaden wird der seyn, daß wir an natürlichem Wohlklang (d.i. an dem natürlich richtigen Verhältniß der Leichtigkeit die Buchstaben und Silben auszusprechen zur wirklichen Aussprache) verlieren werden. Da wir aber auch dadurch zugleich auf der andern Seite die einzige Nation werden, die einen vollkommen regelmäßigen Rhythmus hat, so ist das eine reiche Entschädigung und so gewinnen wir an Wohlklang im Ganzen. Nur werden andre Nationen uns dies Kunststück schwerlich nachmachen; die mittäglichen nicht, weil ihnen die Natur einmal zuviel Ohr und zu viel Wohllaut gegeben hat; die Franzosen nicht, weil sie gar keinen Sinn für numerösen Rhythmus, gar keinen Abscheu gegen klappernde Einförmigkeit haben. Selbst an den Engländern zweifle ich, denn es fehlt ihnen an ruhig geduldigem Kunstsinn. Für die Schweden müssen Sie eine Ausnahme machen. Aber Schwedisch lerne ich sicher, sobald ich in Deutschland bin. Denn seit ich Spanisch kann, schäme ich mich, nicht auch Schwedisch zu wissen, was doch im Norden gewiß eben so merkwürdig ist, als Spanisch im Süden.

Meine meiste Zeit bringe ich also mit Besuchen, auf Bibliotheken, nur wenig im Theater, das entsetzlich ist, zu. Zu beschreiben werde ich wenig haben, die Gemälde sind das einzig Wichtige und das habe ich meiner Frau überlassenDagmar von Gersdorff (2011): Caroline von Humboldt. Eine Biographie, Berlin: Insel, S. 81: "Carolines »Beschreibendes Verzeichnis der in Spanien gesehenen Gemälde« gelangte zu Goethe, der das Manuskript in Leder binden und einen Teil daraus in der »Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung« veröffentlichen ließ." Leitzmann in: GS XV, S. 355: "Karoline von Humboldt hatte ein grosses beschreibendes Verzeichniss aller in Spanien gesehenen Gemälde […] speziell für Goethe verfasst […]. Leider ist dieses Manuskript, wie es scheint in Goethes Nachlass, wenn nicht in dem Humboldts, spurlos verschwunden. Goethe hatte die Absicht, es stückweise mit der Zeit drucken zu lassen: es erschien nur der Aufsatz "Über die antike Gruppe Kastor und Pollux in der königlichen Sammlung zu St. Ildefonso in Spanien" und ein Artikel über "Rafaels Gemälde in Spanien" [ohne Namensnennung, FZ] in Programmen der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung von 1808 und [180]9." [FZ]. Kommt es also je zu einer Reisebeschreibung, so wird sie vorzüglich an dem reich seyn, was ich an jedem Ort hätte thun können. Dennoch ist mir die Reise nicht unnütz. Ich fühle vielmehr, daß sie meine Menschenansicht sehr erweitern wird, und es schon gethan hat. Da ich in Paris noch 4 Monate nach meiner Rückkunft von hier bleiben werde, so werde ich Zeit haben einige hier angefangene Studien fortzusetzen, und über einige Dinge gelange ich dann unstreitig zu Resultaten. – Schreiben Sie mir bald, mein lieber Freund, und auch vorzüglich über den Inhalt dieses Briefs. Schreiben Sie mir überhaupt öfter und lassen Sie uns beide in enger und fortgesetzter Verbindung bleiben. Ich rede nicht gern von Gefühlen, aber Sie müssen es wissen, daß die Empfindungen, die uns seit Jahren verbunden haben, in mir nie aufhören werden. Schreiben Sie mir immer unter derselben Adresse, man schickt mir die Briefe wenn ich nicht mehr hier bin nach. Aber wie in aller Welt kommt es, daß Ihr letzter Brief 21 Tage unterwegs gewesen war? Gewöhnlich bleibt ein Brief es nur 9 bis 11 Tage. – Von Göthe habe ich wieder einen Brief gehabt. Er schreibt mir, daß er Voltaire’s Mahomet übersetze und umarbeiteGoethes Mahomet-Bearbeitung sollte 1802 erscheinen. [FZ]. Das ist ein eigner Versuch, und ich zweifle fast am Gelingen. Der Umarbeiter und Verfasser scheinen mir zu heterogen. – Villoisons Collegium möchte ich allerdings hören, es muß immer interessant seyn. Ich glaube nicht, daß man den Pindar gut verstehn lernt, denn Villoison ist dazu nicht gründlich genug. Aber er ist ungeheuer belesen, und das wäre mir und ist auch Ihnen gewiß mehr werth. Denn den Pindar verstehen Sie auch schon durch eignes Studium. Haben Sie keine Nachricht von Berlin, nichts (versteht sich indirecte) von und über Gentz? Was mag er treiben und arbeiten? – Ich habe heute der Reinhard geschrieben. Fragen Sie sie, ob sie den Brief empfangen hat. Ich habe sehr ausführlich geschrieben.

Leben Sie herzlich wohl und erhalten Sie uns Ihr freundschaftliches Andenken. Von ganzer SeeleIhr Humboldt.