Madrid, 5. Dec. 99.
Was machen Sie, liebster Freund, daß Sie uns gerade in der merkwürdigsten Epoche
der Französischen Revolution ganz und gar nicht schreiben? Es wäre mir sehr
lieb, gerade jetzt etwas von Ihnen zu hören, da ich hier so wenig Zeit und
selbst Gelegenheit habe, diese neue Begebenheit zu studiren. Mich freut sie, das
kann ich nicht läugnen. Einige Leute behaupten zwar hier, daß es mit der
Freiheit dabei nicht gut stehe. Aber da mir die lebenden Menschen und ihre Ruhe
immer lieber sind, als die bloß metaphysischen Wesen, so ist meine Parthei
genommen. Ich freue mich einmal und will mich freuen. Es sind doch endlich Leute
von Kopf und Talent in den Aemtern, man wird Ordnung und Ruhe wollen, und Macht
haben, sie herzustellen. Sehr gern wäre ich um diese Zeit in Paris gewesen. Es muß äußerst interessant gewesen
seyn, und es ist sehr ungeschickt, gerade jetzt nach Spanien zu gehen. Doch bin
ich noch immer mit meiner Reise nicht unzufrieden; ich habe erst neulich zwei
Menschen kennen gelernt, die mich sehr interessiren. Es sind zwei Dichter, mit
denen sich aufs mindeste so gut, als mit einem Pariser raisonniren läßt (man
wird bescheiden auf Reisen) und die anspruchloser und zuvorkommender sind. Ich
studire soviel ich kann die Spanische Sprache und Literatur, und versäume auch
hier unsre gemeinschaftlichen Beschäftigungen nicht. Ich meyne die Prosodie. Ich
komme aber immer mehr dahin, daß nur wir Deutsche eigentlich eine haben. Ich
nehme allenfalls die Engländer aus, die ich nicht persönlich kenne, und wirklich
persönlich muß man eine Nation kennen, über die man in diesem Punkt urtheilen
will, man muß sie declamiren hören, sonst ist nichts zu machen. Alles kommt
nemlich, dünkt mich, auf die Deklamationsgrundsätze an. Diese allein können die
Prosodie begründen. Darum ist es, dünkt mich, unmöglich, daß die Franzosen je
eine Prosodie bekommen sollten. Wer, wie sie, fast alle Silben mit gleicher
Währung und Geltung ausspricht, oder sich im Gewicht, das er giebt, nach
Grundsätzen richtet, die, wie ich glaube, keine Regel erlauben, weder dem Sinn
ganz und gar, noch bestimmten Abschnitten des Verses folgt, wer jedes häufige
Inflectiren der Stimme singen nennt, der kann keine regelmäßige Geltung
einzelner Silben annehmen. Die Spanier haben nicht diese Eigentümlichkeit, sie
singen unstreitig für die Ohren eines Franzosen, aber sie singen auch für unser
Ohr, sie folgen in der Declamation nicht allein dem Sinn, sondern dem Numerus,
den sie sehr stark bemerken, sie haben in ihrer Declamation nicht bloß Rhythmus,
sondern wirkliche Melodie. Die Sache, in ihren Gründen untersucht, scheint mir
eigentlich daran zu liegen. Es giebt hier nur zwei Manieren. Man muß die Worte
und die Rede entweder bloß als Schall, oder bloß als Hieroglyphe betrachten. Die
Alten thaten das erste; der Sinn betraf bei ihnen nur den Accent, und der Accent
ging die Poesie nur insofern an, als er nicht störend seyn durfte, und als er in
einzelnen Fällen nachhalf. Die Alten waren ganz Ohr. Wir haben uns Kopf über,
Kopf unter in den Verstand geworfen, und uns dadurch gerettet. Wir achten den
Schall (z.B. die Position u.s.w.) nur insofern er stören oder adminiculiren
könnte. Die mittäglichen Nationen haben noch für die Regelmäßigkeit des Rhythmus
zuviel Musik in ihrer Deklamation. Das klingt paradox, ist aber doch ganz
natürlich. Kann man nicht das ganz Musikalische der Alten durchaus erhalten, so
stört es nur die Deklamation, statt ihr aufzuhelfen. Was mir indeß dabei immer
dunkel bleibt, ist das wunderbare Phänomen, daß die Alten allein etwas gehabt
haben sollen, was jetzt kein Sterblicher auch nur mehr irgend geläufig
nachmachen kann, nemlich die gleichzeitige Beibehaltung des Accents und der
Quantität. Es scheint mir so wunderbar, daß ich nicht weiß, was ich dazu sagen
soll. Ich glaube immer, man glaubt Wunder, wo keine waren. Vermuthlich
vernachlässigten sie in der Prose so gut die Quantität, als in der Poesie den
Accent, und sprachen also, nur durch die Uebung vollkommner, wie wir, die wir
auch immer in einzelnen Fällen beides unterscheiden. Der wahre Unterschied hat,
glaube ich, ursprünglich im Reim gelegen. Ohne Reim mußte man feste Bestimmungen
der Silbenlänge haben, und so kamen nach und nach die Regeln der Alten zu
Stande. Die neuern Nationen hatten den Reim und für sie waren also lange Silben
nur solche, die nicht leicht kurz seyn konnten ihrer Aussprache nach, und so ist
es auch in der That. Damit aber giebt es natürlich keine feste Regel, wenigstens
nicht für alle Fälle, und das Organ gewöhnte sich nun auch nicht an eine so
sorgfältige Bewahrung der Längen. Unsre Manier ist ganz unnatürlich und kann nie
Volksmanier werden. Die Epoche, wo unser Volk einen Hexameter begriffe, wäre
gerade die, wo es aufhörte Volk zu seyn. Diese Manier konnte nur in späten
Zeiten entstehen, und nur in einer Nation, die wenig sinnlich ist. Der Verstand
und das Ohr haben offenbar wenig mit einander zu thun, und wir müssen schwer
auszusprechende Silben kurz zusammenziehen und eine leicht auszusprechende lang
machen, weil sie die Stamm oder Hauptsilbe ist. Die natürliche Folge dieses
Systems muß eine vollkommne Unterjochung der Sprachorgane seyn, und wirklich
sind die Deutschen darin weit gekommen. Denn die schlechtgemachtesten Verse
liest ein Deutscher (vorzüglich wenn es seine eignen sind) nach jedem
Silbenmaaß, was er sich darüber schreibt. Daß dieser Misbrauch auch nur möglich
ist, liegt doch am System. Der sanfte und melodische Dichter wird freilich die
Fälle, wo Verstand und Ohr in Streit sind, vermeiden, wie z.E. Sie und Sie
vielleicht allein unter allen Deutschen Dichtern thun. Aber alsdann muß man eine
Menge Wörter ausmerzen, und den Kreis seiner Gegenstände in der Sprache
verengen. Voß nimmt darauf, dünkt mich, sehr
wenig Rücksicht. In keiner Sprache, als der Deutschen, wäre es möglich, daß ein
Dichter, wie Göthe, so entsetzlich schlechte
Verse machte, als er manchmal und häufig thut. Aber wie soll es nicht seyn?
Natürliche Regeln des Ohrs giebt es nicht, und die künstlichen gehört es
beständige Aufmerksamkeit dazu zu bewahren. Demungeachtet bin ich natürlich
allein für unser System. Aber ich werde es nie für etwas anders erkennen, als
für einen salto mortale, durch den man sich durch Kunst
giebt, was die Natur versagt hat. Doch thut dies nichts, denn da dieser salto mortale uns, die wir immer auf den Verstand sehen
und Regeln suchen, leicht wird, so wird sich das Ohr gewöhnen und der ganze
Schaden wird der seyn, daß wir an natürlichem Wohlklang (d.i. an dem natürlich
richtigen Verhältniß der Leichtigkeit die Buchstaben und Silben auszusprechen
zur wirklichen Aussprache) verlieren werden. Da wir aber auch dadurch zugleich
auf der andern Seite die einzige Nation werden, die einen vollkommen
regelmäßigen Rhythmus hat, so ist das eine reiche Entschädigung und so gewinnen
wir an Wohlklang im Ganzen. Nur werden andre Nationen uns dies Kunststück
schwerlich nachmachen; die mittäglichen nicht, weil ihnen die Natur einmal
zuviel Ohr und zu viel Wohllaut gegeben hat; die Franzosen nicht, weil sie gar
keinen Sinn für numerösen Rhythmus, gar keinen Abscheu gegen klappernde
Einförmigkeit haben. Selbst an den Engländern zweifle ich, denn es fehlt ihnen
an ruhig geduldigem Kunstsinn. Für die Schweden müssen Sie eine Ausnahme machen.
Aber Schwedisch lerne ich sicher, sobald ich in Deutschland bin. Denn seit ich
Spanisch kann, schäme ich mich, nicht auch Schwedisch zu wissen, was doch im
Norden gewiß eben so merkwürdig ist, als Spanisch im Süden.
Meine meiste Zeit bringe ich also mit Besuchen, auf Bibliotheken, nur wenig im
Theater, das entsetzlich ist, zu. Zu beschreiben werde ich wenig haben, die
Gemälde sind das einzig Wichtige und das habe ich meiner
Frau überlassenDagmar von
Gersdorff (2011): Caroline von Humboldt. Eine
Biographie, Berlin: Insel, S. 81: "Carolines »Beschreibendes
Verzeichnis der in Spanien gesehenen Gemälde« gelangte zu Goethe, der das
Manuskript in Leder binden und einen Teil daraus in der »Jenaischen
Allgemeinen Literaturzeitung« veröffentlichen ließ." Leitzmann in: GS XV, S.
355: "Karoline von Humboldt hatte ein grosses beschreibendes Verzeichniss
aller in Spanien gesehenen Gemälde […] speziell für Goethe verfasst […]. Leider
ist dieses Manuskript, wie es scheint in Goethes Nachlass, wenn nicht in dem
Humboldts, spurlos verschwunden. Goethe hatte die Absicht, es stückweise mit
der Zeit drucken zu lassen: es erschien nur der Aufsatz "Über die antike
Gruppe Kastor und Pollux in der königlichen Sammlung zu St. Ildefonso in
Spanien" und ein Artikel über "Rafaels Gemälde in Spanien" [ohne Namensnennung, FZ] in Programmen der
Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung von 1808 und [180]9." [FZ].
Kommt es also je zu einer Reisebeschreibung, so wird sie vorzüglich an dem reich
seyn, was ich an jedem Ort hätte thun können. Dennoch ist mir die Reise nicht
unnütz. Ich fühle vielmehr, daß sie meine Menschenansicht sehr erweitern wird,
und es schon gethan hat. Da ich in Paris noch
4 Monate nach meiner Rückkunft von hier bleiben werde, so werde ich Zeit haben
einige hier angefangene Studien fortzusetzen, und über einige Dinge gelange ich
dann unstreitig zu Resultaten. – Schreiben Sie mir bald, mein lieber Freund, und
auch vorzüglich über den Inhalt dieses Briefs. Schreiben Sie mir überhaupt öfter
und lassen Sie uns beide in enger und fortgesetzter Verbindung bleiben. Ich rede
nicht gern von Gefühlen, aber Sie müssen es wissen, daß die Empfindungen, die
uns seit Jahren verbunden haben, in mir nie aufhören werden. Schreiben Sie mir
immer unter derselben Adresse, man schickt mir die Briefe wenn ich nicht mehr
hier bin nach. Aber wie in aller Welt kommt es, daß Ihr letzter Brief 21 Tage
unterwegs gewesen war? Gewöhnlich bleibt ein Brief es nur 9 bis 11 Tage. – Von
Göthe habe ich wieder einen Brief
gehabt. Er schreibt mir, daß er Voltaire’s
Mahomet übersetze und umarbeiteGoethes Mahomet-Bearbeitung sollte
1802 erscheinen. [FZ]. Das ist ein eigner Versuch, und ich zweifle
fast am Gelingen. Der Umarbeiter und Verfasser scheinen mir zu heterogen. –
Villoisons Collegium möchte ich
allerdings hören, es muß immer interessant seyn. Ich glaube nicht, daß man den
Pindar gut verstehn lernt, denn Villoison ist dazu nicht gründlich genug. Aber
er ist ungeheuer belesen, und das wäre mir und ist auch Ihnen gewiß mehr werth.
Denn den Pindar verstehen Sie auch schon durch
eignes Studium. Haben Sie keine Nachricht von Berlin, nichts (versteht sich indirecte)
von und über Gentz? Was mag er treiben und
arbeiten? – Ich habe heute der Reinhard
geschrieben. Fragen Sie sie, ob sie den Brief empfangen hat. Ich habe sehr
ausführlich geschrieben.
Leben Sie herzlich wohl und erhalten Sie uns Ihr freundschaftliches
Andenken. Von ganzer
Seele
Ihr
Humboldt.