Wilhelm von Humboldt an Johann Georg Forster, 01.06.1792<idno type="BBAW">629</idno> Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der sprachwissenschaftlichen Korrespondenz Frank Zimmer Editor Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY-NC-SA 4.0) Ausfertigung: verschollen. – Abschrift: Ehem. Wernigerode, NL Th. Huber Grundlage der Edition: Leitzmann 1936, S. 85–93. – Mattson 2015, S. 56–60 Nr. 218 Mattson 214 Dalberg, Karl Theodor Maria Reichsfreiherr von Forster, Therese Humboldt, Caroline von Humboldt, Caroline von, Tochter von Wilhelm von Humboldt Müller, Johannes von Soemmerring, Samuel Theodor Humboldt, Wilhelm von (1792): Ideen über Staatsverfassung, durch die neue Französische Konstituzion veranlaßt. In: Berlinische Monatsschrift 19, Januarheft, S. 84–98 (= GS I, S. 77–85) Humboldt, Wilhelm von (1792/1851): Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, hrsg. von Eduard Cauer, Breslau: Verlag von Eduard Trewendt (= GS I, S. 97–254) Was müssen Sie von mir denken, theurer Freund, daß ich einen so lieben Brief, als Ihr lezter war, so lange unbeantwortet ließ … Humboldt, Wilhelm von Erfurt Forster, Johann Georg FZ 06. November 2018 in Bearbeitung
Erfurth, den 1. Junius 1792.

Was müssen Sie von mir denken, theurer Freund, daß ich einen so lieben gütigen Brief, als Ihr lezter war, so lange unbeantwortet ließ, und Ihnen in nun mehr als 4 Monaten kein Wort von mir sagte? Ich bin allen Entschuldigungen ein abgesagter Feind, ohne alle also lassen Sie mich Sie herzlich bitten, mir wegen dieses überlangen Stillschweigens nicht zu zürnen, und zu glauben, daß ich mich unendlich oft indeß mit Ihnen im Geiste beschäftigte, und nur der so oft gefaßte Vorsaz, Ihnen zu schreiben, immer durch tausend kleine Hindernisse vereitelt wurde.

Zuerst, mein Lieber, muß ich Ihnen eine Nachricht geben, die Ihrem freundschaftlich theilnehmenden Herzen gewiß Freude gewährt. Meine Frau ist vor noch nicht 14 Tagen mit einem Mädchen glüklich niedergekommen. Mutter und Kind sind vollkommen gesund. Das kleine Mädchen ist ein allerliebstes Geschöpf, so groß und stark, wie selten ein Kind von so wenig Tagen, so voll Leben und Munterkeit und mit wundergroßen, blauen Augen, die sie unaufhörlich im Kopfe herumrollt. Meine Frau stillt das Kind selbst; ich, bei meiner gänzlichen Geschäftslosigkeit, bin so gut als den ganzen Tag bei ihr, und so kommt das Kind kaum eine Minute in andre Hände als die unsrigen. Nur Sie, lieber Freund, dessen eignes Herz so überaus empfänglich für diese Freuden ist, und der Sie mich genauer kennen, vermögen ganz mit mir zu empfinden, wie unendlich süß mir diese kleinen Beschäftigungen sind, und welche reiche Fülle neuer Freuden mir jezt wiederum in meiner schon beneidenswert glücklichen Lage geworden ist. Wahrlich empfinde ich dieß auch doppelt, indem ich Ihnen es sage, und ich möchte Ihnen im Voraus für das Vergnügen so herzlich danken, das mir Ihre Theilnahme gewährt. Grüßen Sie Ihre liebe Frau herzlich von mir, und sagen Sie ihr die häusliche Begebenheit, die mich und meine Frau so froh macht. Sobald ich mehr Ruhe und Muße habe, schreib ich ihr selbst.

Die ganze Zeit, seit welcher Sie ohne Nachricht von mir sind, habe ich hier ununterbrochen zugebracht. Sogar Gotha und Weimar, so nah sie auch sind, habe ich nicht besucht. Indeß ist mein Aufenthalt hier auch von meinem vorigen ländlichen nicht sonderlich verschieden gewesen. Der Gesellschaften sind hier wenige, und so bin ich die meiste Zeit auf meinem Zimmer, im Kreise meiner gewöhnlichen Beschäftigungen gewesen. Der Koadjutor ist hier der einzige Mensch, den man interessant nennen kann, und den habe ich, soviel es überhaupt seinen Geschäften und seiner Lebensart nach möglich ist, genossen. Sein Umgang ist mir um so angenehmer gewesen, als unsre Gespräche meist wissenschaftlich, aus dem Fache der praktischen, vorzüglich politischen Philosophie, worin er unstreitig am meisten bewandert ist, hergenommen sind, und als reine auch bloß theoretische Prinzipien doch noch mehr reizen, wo ihre Anwendung so nah liegt. Ich weiß nicht, lieber Freund, ob Ihnen ein kleiner Aufsaz von mir in der Berlinischen Monatsschrift, Januar: Ideen über Staatsverfassung u.s.f. zu Gesicht gekommen ist. Es war ein wirklicher, ohne alle Hinsicht auf den Druk geschriebner Brief, der hernach zufällig, und zum Theil dieser Zufälligkeit wegen, mit schändlichen, allen Sinn entstellenden Drukfehlern ans Licht gekommen ist. Aus diesem Aufsaz hatte Dalberg gesehen, daß ich mich mit Ideen dieser Art beschäftige, und wenig Tage nach meiner Ankunft hier, bat er mich, meine Ideen über die eigentlichen Grenzen der Wirksamkeit des Staats aufzusezen. Ich fühlte wohl, daß der Gegenstand zu wichtig war, um so schnell bearbeitet zu werden, als ein solcher Auftrag, wenn die Idee nicht wieder alt werden sollte, forderte. Indeß hatte ich einiges vorgearbeitet, noch mehr Materialien hatte ich im Kopf, und so fieng ich an. Unter den Händen wuchs das Werkchen, und es ist jezt, da es seit mehreren Wochen fertig ist, ein mäßiges Bändchen geworden. Sie stimmten sonst, als wir noch von Göttingen aus über diese Gegenstände korrespondirten, mit meinen Ideen überein. Ich habe seitdem, so viel ich auch nachzudenken und zu forschen gesucht habe, fast keine Veranlassung gefunden, sie eigentlich abzuändern, aber ich darf behaupten, ihnen bei weitem mehr Vollständigkeit, Ordnung und Präcision gegeben zu haben. Noch jezt also, schmeichle ich mir, würden Sie im Ganzen mit meinen Behauptungen einverstanden sein. Ich habe nemlich – und ich hielt dieß der nächsten Veranlassung wegen, die mich zum Schreiben bewog, für um so nöthiger – der Sucht zu regieren entgegenzuarbeiten versucht, und überall die Grenzen der Wirksamkeit enger geschlossen. Ja ich bin soweit gegangen, sie allein auf die Beförderung der Sicherheit einzuschränken. Ich hatte die Frage, die ich beantworten sollte, völlig rein theoretisch in ihrem ganzen Umfange abgeschnitten. Ich glaubte also auch kein andres Prinzip zum Grunde meines ganzen Raisonnements legen zu dürfen, als das, welches allein auf den Menschen – auf den doch am Ende alles hinauskommt – Bezug nimmt, und zwar auf das an dem Menschen, was eigentlich seiner Natur den wahren Adel gewährt. Die höchste und proportionirlichste Ausbildung aller menschlichen Kräfte zu einem Ganzen ist daher das Ziel gewesen, das ich überall vor Augen gehabt, und der einzige Gesichtspunkt, aus dem ich die ganze Materie behandelt habe. Immer bleibt es doch wahr, daß eigentlich diese innre Kraft des Menschen es allein ist, um die es sich zu leben verlohnt, daß sie nicht nur das Prinzip, wie der Zwek aller Thätigkeit, sondern auch der einzige Stof alles wahren Genusses ist, und daß daher alle Resultate ihr allemal untergeordnet bleiben müssen. Auf der andren Seite ist es aber auch eben so wahr, daß in der Wirklichkeit und fast überall, wo auf den Menschen gewirkt wird, bei der Erziehung, bei der Gesezgebung, im Umgange, fast nur die Resultate beachtet werden, wovon sich viele Gründe aufzählen ließen, die ich nur hier, um Sie nicht zu ermüden, übergehe, und unläugbar freilich macht auch die Erhaltung der Kraft selbst große Sorgfalt auf die Resultate, als das Mittel dazu, oft nothwendig. Desto mehr also muß, dünkt mich, die Theorie das, was in der Ausübung so leicht das lezte Ziel scheint, wieder an seine rechte Stelle sezen und das wahre lezte Ziel, die innre Kraft des Menschen, in ein helles Licht zu stellen versuchen. Wenn also die Staatskunst sich meistens dahin beschränkt, volkreiche, wohlhabende, wie man zu sagen pflegt, blühende Länder hervorzubringen, so muß ihr die reine Theorie laut zurufen, daß freilich diese Dinge sehr schön und wünschenswerth sind, daß sie aber von selbst entstehn, wenn man die Kraft und Energie der Menschen, und zwar durch Freiheit, erhöht, da hingegen, wenn man sie unmittelbar hervorbringen will, gerade das leiden kann, um dessentwillen sie selbst nur wünschenswerth sind, indem wenigstens in vielen Fällen ein Land freilich schneller bevölkert, wohlhabend, ja sogar in gewissem Grade aufgeklärt werden kann, wenn die Regierung alles selbst thut, den Bürgern das von ihr anerkannte Gute aufdringt, als wenn sie dieselben den freilich langsamern aber auch sichrern Weg der eignen Ausbildung gehen läßt. Wenn die Statistik aufzählt, wieviel Menschen, welche Produkte, welche Mittel, sie zu verarbeiten, welche Wege sie auszuführen u.s.f. ein Land hat; so muß die reine Theorie sie anweisen, daß man darum nun den Menschen und seinen eigentlichen Zustand fast um noch nichts besser kennt, und daß sie also das Verhältniß aller dieser Dinge, als Mittel zu dem wahren Endzwek anzugeben hat. Gieng ich einmal von diesem Gesichtspunkte aus, so konnte ich nicht leicht auf etwas anders als auf die Nothwendigkeit der Begünstigung der höchsten Freiheit und der Entstehung der mannigfaltigsten Situationen für den Menschen kommen, und so schien mir die vortheilhafteste Lage für den Bürger im Staat die, in welcher er zwar durch so viele Bande als möglich mit seinen Mitbürgern verschlungen, aber durch so wenige als möglich von der Regierung gefesselt wäre. Denn der isolirte Mensch vermag sich eben so wenig zu bilden, als der in seiner Freiheit gewaltsam gehemmte. Dieß führte mich nun unmittelbar auf das Prinzip, daß die Wirksamkeit des Staats nie anders an die Stelle der Wirksamkeit der Bürger treten darf, als da, wo es auf die Verschaffung solcher nothwendigen Dinge ankommt, welche diese allein und durch sich sich nicht zu erwerben vermag, und als ein solches zeichnet sich, meines Bedünkens, allein die Sicherheit aus. Alles übrige schaft sich der Mensch allein, jedes Gut erwirbt er allein, jedes Uebel wehrt er ab, entweder einzeln, oder in freiwilliger Gesellschaft vereint. Nur die Erhaltung der Sicherheit, da hier aus jedem Kampf immer neue entstehn würden, fordert eine lezte widerspruchlose Macht, und da dieß der eigentliche Charakter eines Staats ist, nur diese eine Staatseinrichtung. Dehnt man die Wirksamkeit des Staats weiter aus; so schränkt man die Selbstthätigkeit auf eine nachtheilige Weise ein, bringt Einförmigkeit hervor, und schadet mit Einem Wort der innren Ausbildung des Menschen. Dieß ist ohngefähr der Gang der Ideen, den ich gewählt habe, obgleich ich in dem Vortrage selbst einer völlig verschiednen Ordnung gefolgt bin. Dann bin ich aber auch in ein größeres Detail eingegangen, und habe die Nachtheile einzeln zu schildern versucht, welche nothwendig entstehn müssen, oder wenigstens nicht leicht vermieden werden können, wenn der Staat, statt sich auf die Sicherheit zu beschränken, auch für das physische, oder gar moralische Wohl sorgen will. Bei der Sicherheit selbst habe ich mich noch auf die Mittel, sie zu befördern, ausgebreitet, alle die zu entfernen versucht, welche zu sehr auf den Charakter wirken, wie öffentliche Erziehung, Religion (wobei ich den Aufsaz, den Sie kennen, umgearbeitet gebraucht habe), Sittengeseze, und endlich die angegeben, deren Gebrauch mir unschädlich und nothwendig zugleich scheint, wobei ich denn, jedoch kurz und immer allein in Rüksicht auf den gewählten Gesichtspunkt, Polizei, Civil und Criminalgeseze durchgegangen bin. Am Schluß habe ich einiges über die Anwendung hinzugefügt und vorzüglich die Schädlichkeit nicht genug vorbereiteter Anwendungen auch richtiger Theorien zu zeigen versucht. Verzeihen Sie, mein Theurer, diese ausführliche, und dennoch so unvollständig und flüchtig hingeworfne Auseinandersezung meiner eignen Ideen. Allein der Antheil, den Sie immer an diesen Gegenständen, und an meiner Beschäftigung damit nahmen, verführte mich von Periode zu Periode.

Diesen Aufsaz nun ist Dalberg, nachdem er ihn für sich gelesen hatte, Abschnitt für Abschnitt mit mir durchgegangen, und wir haben Gründe und Gegengründe durchgesprochen. Seine Ideen stimmen nicht gerade mit den meinigen überein, er berechtigt vielmehr den Staat zu einer weit ausgebreitetern Wirksamkeit. Indeß will er doch, wo es nicht auf Erhaltung der Sicherheit ankommt, eigentlichen Zwang entfernen, und um auf irgend einen Gegenstand die Sorgfalt des Staates auszudehnen, den Wunsch der Nation abwarten. So schwankend auch, vorzüglich in der Ausübung, diese leztere Bestimmung werden muß, so werden Sie doch gewiß mit mir gestehn, daß diese Achtung für die wahre Souverainität in dem Munde eines künftigen Regenten in hohem Grade ehrwürdig ist, und daß die erstere Einschränkung einen großen Theil des Schadens entfernt, welchen das zu viele Regieren sonst unausbleiblich bringt.

Je länger ich überhaupt Gelegenheit habe, mit dem Koadjutor umzugehn, desto mehr überzeuge ich mich von der Reinheit seiner Absichten, und der Vortreflichkeit seines moralischen Charakters. In der That ist die ununterbrochne Aufmerksamkeit, die er auf diesen wendet, so charakteristisch an ihm, daß sie unter so manchen hervorstechenden Seiten, welche auch beim ersten Anblik auffallen müssen, dennoch keinem entgehn kann. Von Ihnen, lieber Freund, spricht er mir sehr oft, und immer mit einer Wärme, die mir innige Freude gewährt. Er fühlt nicht nur in ihrem ganzen Umfange die Achtung, welche Sie jedem einflößen müssen, der auch nur überhaupt mit Deutscher Literatur vertraut ist, sondern er schäzt und liebt Sie auch so sehr von den Seiten, die nur ihren Freunden erscheinen können, und die er, glaube ich, durch Müller und Sömmerring kennt.

Was haben Sie denn in dieser Zeit gemacht, theurer Freund, was ihre liebe Frau, was ihre Kinder? Wie sehr sehnte ich mich das recht bald von Ihnen zu hören. Zu bitten wage ich freilich nicht darum. Sehr schön wäre es aber doch, wenn Sie nicht Gleiches mit Gleichem vergälten.

Leben Sie jezt recht wohl, theurer lieber Freund, erhalten Sie mir Ihre Freundschaft, und sein Sie meiner herzlichsten, wärmsten, unwandelbarsten Liebe versichert!Ewig Ihr Humboldt.