Erfurth, den 1. Junius 1792.
Was müssen Sie von mir denken, theurer Freund, daß ich einen so lieben gütigen
Brief, als Ihr lezter war, so lange unbeantwortet ließ, und Ihnen in nun mehr
als 4 Monaten kein Wort von mir sagte? Ich bin allen Entschuldigungen ein
abgesagter Feind, ohne alle also lassen Sie mich Sie herzlich bitten, mir wegen
dieses überlangen Stillschweigens nicht zu zürnen, und zu glauben, daß ich mich
unendlich oft indeß mit Ihnen im Geiste beschäftigte, und nur der so oft gefaßte
Vorsaz, Ihnen zu schreiben, immer durch tausend kleine Hindernisse vereitelt
wurde.
Zuerst, mein Lieber, muß ich Ihnen eine Nachricht geben, die Ihrem
freundschaftlich theilnehmenden Herzen gewiß Freude gewährt. Meine Frau ist vor noch nicht 14 Tagen mit einem Mädchen glüklich niedergekommen. Mutter und Kind
sind vollkommen gesund. Das kleine Mädchen ist ein allerliebstes Geschöpf, so
groß und stark, wie selten ein Kind von so wenig Tagen, so voll Leben und
Munterkeit und mit wundergroßen, blauen Augen, die sie unaufhörlich im Kopfe
herumrollt. Meine Frau stillt das Kind selbst;
ich, bei meiner gänzlichen Geschäftslosigkeit, bin so gut als den ganzen Tag bei
ihr, und so kommt das Kind kaum eine Minute in andre Hände als die unsrigen. Nur
Sie, lieber Freund, dessen eignes Herz so überaus empfänglich für diese Freuden
ist, und der Sie mich genauer kennen, vermögen ganz mit mir zu empfinden, wie
unendlich süß mir diese kleinen Beschäftigungen sind, und welche reiche Fülle
neuer Freuden mir jezt wiederum in meiner schon beneidenswert glücklichen Lage
geworden ist. Wahrlich empfinde ich dieß auch doppelt, indem ich Ihnen es sage,
und ich möchte Ihnen im Voraus für das Vergnügen so herzlich danken, das mir
Ihre Theilnahme gewährt. Grüßen Sie Ihre liebe
Frau herzlich von mir, und sagen Sie ihr die häusliche
Begebenheit, die mich und meine Frau so froh
macht. Sobald ich mehr Ruhe und Muße habe, schreib ich ihr selbst.
Die ganze Zeit, seit welcher Sie ohne Nachricht von mir sind, habe ich hier
ununterbrochen zugebracht. Sogar Gotha und
Weimar, so nah sie auch sind, habe ich
nicht besucht. Indeß ist mein Aufenthalt hier auch von meinem vorigen ländlichen
nicht sonderlich verschieden gewesen. Der Gesellschaften sind hier wenige, und
so bin ich die meiste Zeit auf meinem Zimmer, im Kreise meiner gewöhnlichen
Beschäftigungen gewesen. Der Koadjutor ist
hier der einzige Mensch, den man interessant nennen kann, und den habe ich,
soviel es überhaupt seinen Geschäften und seiner Lebensart nach möglich ist,
genossen. Sein Umgang ist mir um so angenehmer gewesen, als unsre Gespräche
meist wissenschaftlich, aus dem Fache der praktischen, vorzüglich politischen
Philosophie, worin er unstreitig am meisten bewandert ist, hergenommen sind, und
als reine auch bloß theoretische Prinzipien doch noch mehr reizen, wo ihre
Anwendung so nah liegt. Ich weiß nicht, lieber Freund, ob Ihnen ein kleiner Aufsaz von mir in der Berlinischen Monatsschrift,
Januar: Ideen über Staatsverfassung u.s.f. zu Gesicht gekommen ist.
Es war ein wirklicher, ohne alle Hinsicht auf den Druk geschriebner Brief, der
hernach zufällig, und zum Theil dieser Zufälligkeit wegen, mit schändlichen,
allen Sinn entstellenden Drukfehlern ans Licht gekommen ist. Aus diesem Aufsaz
hatte Dalberg gesehen, daß ich mich mit
Ideen dieser Art beschäftige, und wenig Tage nach meiner Ankunft hier, bat er
mich, meine Ideen über die eigentlichen Grenzen der Wirksamkeit des Staats
aufzusezen. Ich fühlte wohl, daß der Gegenstand zu wichtig war, um so schnell
bearbeitet zu werden, als ein solcher Auftrag, wenn die Idee nicht wieder alt
werden sollte, forderte. Indeß hatte ich einiges vorgearbeitet, noch mehr
Materialien hatte ich im Kopf, und so fieng ich an. Unter den Händen wuchs
das Werkchen, und es ist jezt, da es seit mehreren
Wochen fertig ist, ein mäßiges Bändchen geworden. Sie stimmten sonst, als wir
noch von Göttingen aus über diese
Gegenstände korrespondirten, mit meinen Ideen überein. Ich habe seitdem, so viel
ich auch nachzudenken und zu forschen gesucht habe, fast keine Veranlassung
gefunden, sie eigentlich abzuändern, aber ich darf behaupten, ihnen bei weitem
mehr Vollständigkeit, Ordnung und Präcision gegeben zu haben. Noch jezt also,
schmeichle ich mir, würden Sie im Ganzen mit meinen Behauptungen einverstanden
sein. Ich habe nemlich – und ich hielt dieß der nächsten Veranlassung wegen, die
mich zum Schreiben bewog, für um so nöthiger – der Sucht zu regieren
entgegenzuarbeiten versucht, und überall die Grenzen der Wirksamkeit enger
geschlossen. Ja ich bin soweit gegangen, sie allein auf die Beförderung der
Sicherheit einzuschränken. Ich hatte die Frage, die ich beantworten sollte,
völlig rein theoretisch in ihrem ganzen Umfange abgeschnitten. Ich glaubte also
auch kein andres Prinzip zum Grunde meines ganzen Raisonnements legen zu dürfen,
als das, welches allein auf den Menschen – auf den doch am Ende alles
hinauskommt – Bezug nimmt, und zwar auf das an dem Menschen, was eigentlich
seiner Natur den wahren Adel gewährt. Die höchste und proportionirlichste
Ausbildung aller menschlichen Kräfte zu einem Ganzen ist daher das Ziel gewesen,
das ich überall vor Augen gehabt, und der einzige Gesichtspunkt, aus dem ich die
ganze Materie behandelt habe. Immer bleibt es doch wahr, daß eigentlich diese
innre Kraft des Menschen es allein ist, um die es sich zu leben verlohnt, daß
sie nicht nur das Prinzip, wie der Zwek aller Thätigkeit, sondern auch der
einzige Stof alles wahren Genusses ist, und daß daher alle Resultate ihr allemal
untergeordnet bleiben müssen. Auf der andren Seite ist es aber auch eben so
wahr, daß in der Wirklichkeit und fast überall, wo auf den Menschen gewirkt
wird, bei der Erziehung, bei der Gesezgebung, im Umgange, fast nur die Resultate
beachtet werden, wovon sich viele Gründe aufzählen ließen, die ich nur hier, um
Sie nicht zu ermüden, übergehe, und unläugbar freilich macht auch die Erhaltung
der Kraft selbst große Sorgfalt auf die Resultate, als das Mittel dazu, oft
nothwendig. Desto mehr also muß, dünkt mich, die Theorie das, was in der
Ausübung so leicht das lezte Ziel scheint, wieder an seine rechte Stelle sezen
und das wahre lezte Ziel, die innre Kraft des Menschen, in ein helles Licht zu
stellen versuchen. Wenn also die Staatskunst sich meistens dahin beschränkt,
volkreiche, wohlhabende, wie man zu sagen pflegt, blühende Länder
hervorzubringen, so muß ihr die reine Theorie laut zurufen, daß freilich diese
Dinge sehr schön und wünschenswerth sind, daß sie aber von selbst entstehn, wenn
man die Kraft und Energie der Menschen, und zwar durch Freiheit, erhöht, da
hingegen, wenn man sie unmittelbar hervorbringen will, gerade das leiden kann,
um dessentwillen sie selbst nur wünschenswerth sind, indem wenigstens in vielen
Fällen ein Land freilich schneller bevölkert, wohlhabend, ja sogar in gewissem
Grade aufgeklärt werden kann, wenn die Regierung alles selbst thut, den Bürgern
das von ihr anerkannte Gute aufdringt, als wenn sie dieselben den freilich
langsamern aber auch sichrern Weg der eignen Ausbildung gehen läßt. Wenn die
Statistik aufzählt, wieviel Menschen, welche Produkte, welche Mittel, sie zu
verarbeiten, welche Wege sie auszuführen u.s.f. ein Land hat; so muß die reine
Theorie sie anweisen, daß man darum nun den Menschen und seinen eigentlichen
Zustand fast um noch nichts besser kennt, und daß sie also das Verhältniß aller
dieser Dinge, als Mittel zu dem wahren Endzwek anzugeben hat. Gieng ich einmal
von diesem Gesichtspunkte aus, so konnte ich nicht leicht auf etwas anders als
auf die Nothwendigkeit der Begünstigung der höchsten Freiheit und der Entstehung
der mannigfaltigsten Situationen für den Menschen kommen, und so schien mir die
vortheilhafteste Lage für den Bürger im Staat die, in welcher er zwar durch so
viele Bande als möglich mit seinen Mitbürgern verschlungen, aber durch so wenige
als möglich von der Regierung gefesselt wäre. Denn der isolirte Mensch vermag
sich eben so wenig zu bilden, als der in seiner Freiheit gewaltsam gehemmte.
Dieß führte mich nun unmittelbar auf das Prinzip, daß die Wirksamkeit des Staats
nie anders an die Stelle der Wirksamkeit der Bürger treten darf, als da, wo es
auf die Verschaffung solcher nothwendigen Dinge ankommt, welche diese allein und
durch sich sich nicht zu erwerben vermag, und als ein solches zeichnet sich,
meines Bedünkens, allein die Sicherheit aus. Alles übrige schaft sich der Mensch
allein, jedes Gut erwirbt er allein, jedes Uebel wehrt er ab, entweder einzeln,
oder in freiwilliger Gesellschaft vereint. Nur die Erhaltung der Sicherheit, da
hier aus jedem Kampf immer neue entstehn würden, fordert eine lezte
widerspruchlose Macht, und da dieß der eigentliche Charakter eines Staats ist,
nur diese eine Staatseinrichtung. Dehnt man die Wirksamkeit des Staats weiter
aus; so schränkt man die Selbstthätigkeit auf eine nachtheilige Weise ein,
bringt Einförmigkeit hervor, und schadet mit Einem Wort der innren Ausbildung
des Menschen. Dieß ist ohngefähr der Gang der Ideen, den ich gewählt habe,
obgleich ich in dem Vortrage selbst einer völlig verschiednen Ordnung gefolgt
bin. Dann bin ich aber auch in ein größeres Detail eingegangen, und habe die
Nachtheile einzeln zu schildern versucht, welche nothwendig entstehn müssen,
oder wenigstens nicht leicht vermieden werden können, wenn der Staat, statt sich
auf die Sicherheit zu beschränken, auch für das physische, oder gar moralische
Wohl sorgen will. Bei der Sicherheit selbst habe ich mich noch auf die Mittel,
sie zu befördern, ausgebreitet, alle die zu entfernen versucht, welche zu sehr
auf den Charakter wirken, wie öffentliche Erziehung, Religion (wobei ich den
Aufsaz, den Sie kennen, umgearbeitet gebraucht habe), Sittengeseze, und endlich
die angegeben, deren Gebrauch mir unschädlich und nothwendig zugleich scheint,
wobei ich denn, jedoch kurz und immer allein in Rüksicht auf den gewählten
Gesichtspunkt, Polizei, Civil und Criminalgeseze durchgegangen bin. Am Schluß
habe ich einiges über die Anwendung hinzugefügt und vorzüglich die Schädlichkeit
nicht genug vorbereiteter Anwendungen auch richtiger Theorien zu zeigen
versucht. Verzeihen Sie, mein Theurer, diese ausführliche, und dennoch so
unvollständig und flüchtig hingeworfne Auseinandersezung meiner eignen Ideen.
Allein der Antheil, den Sie immer an diesen Gegenständen, und an meiner
Beschäftigung damit nahmen, verführte mich von Periode zu Periode.
Diesen Aufsaz nun ist Dalberg, nachdem er ihn für sich gelesen hatte, Abschnitt für
Abschnitt mit mir durchgegangen, und wir haben Gründe und Gegengründe
durchgesprochen. Seine Ideen stimmen nicht gerade mit den meinigen überein, er
berechtigt vielmehr den Staat zu einer weit ausgebreitetern Wirksamkeit. Indeß
will er doch, wo es nicht auf Erhaltung der Sicherheit ankommt, eigentlichen
Zwang entfernen, und um auf irgend einen Gegenstand die Sorgfalt des Staates
auszudehnen, den Wunsch der Nation abwarten. So schwankend auch, vorzüglich in
der Ausübung, diese leztere Bestimmung werden muß, so werden Sie doch gewiß mit
mir gestehn, daß diese Achtung für die wahre Souverainität in dem Munde eines
künftigen Regenten in hohem Grade ehrwürdig ist, und daß die erstere
Einschränkung einen großen Theil des Schadens entfernt, welchen das zu viele
Regieren sonst unausbleiblich bringt.
Je länger ich überhaupt Gelegenheit habe, mit dem
Koadjutor umzugehn, desto mehr überzeuge ich mich von der
Reinheit seiner Absichten, und der Vortreflichkeit seines moralischen
Charakters. In der That ist die ununterbrochne Aufmerksamkeit, die er auf diesen
wendet, so charakteristisch an ihm, daß sie unter so manchen hervorstechenden
Seiten, welche auch beim ersten Anblik auffallen müssen, dennoch keinem entgehn
kann. Von Ihnen, lieber Freund, spricht er mir sehr oft, und immer mit einer
Wärme, die mir innige Freude gewährt. Er fühlt nicht nur in ihrem ganzen Umfange
die Achtung, welche Sie jedem einflößen müssen, der auch nur überhaupt mit
Deutscher Literatur vertraut ist, sondern er schäzt und liebt Sie auch so sehr
von den Seiten, die nur ihren Freunden erscheinen können, und die er, glaube
ich, durch Müller und Sömmerring kennt.
Was haben Sie denn in dieser Zeit gemacht, theurer Freund, was ihre liebe Frau, was ihre Kinder? Wie sehr sehnte
ich mich das recht bald von Ihnen zu hören. Zu bitten wage ich freilich nicht
darum. Sehr schön wäre es aber doch, wenn Sie nicht Gleiches mit Gleichem
vergälten.
Leben Sie jezt recht wohl, theurer lieber Freund, erhalten Sie mir Ihre
Freundschaft, und sein Sie meiner herzlichsten, wärmsten, unwandelbarsten Liebe
versichert!
Ewig
Ihr Humboldt.