Wilhelm von Humboldt an Johann Gottfried Schweighäuser, 06.07.1803<idno type="BBAW">642</idno> Wilhelm von Humboldt: Online-Edition der sprachwissenschaftlichen Korrespondenz Frank Zimmer Editor Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY-NC-SA 4.0) Grundlage der Edition: Nancy, BM, Ms. 839, t. 4, G. de Humboldt, fol. 48–49 Leitzmann 1934, S. 19–22 Mattson 888 Argenson, Marc-René-Marie, Comte de Voyer de Paulmy d’ Argenson, Sophie, Comtesse de Voyer de Paulmy d’, geb. de Rosen-Kleinroop, verw. Princesse de Broglie Fichte, Johann Gottlieb Humboldt, Caroline von Platon Riemer, Friedrich Wilhelm Schiller, Friedrich Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von Staël, Anne Louise Germaine de Das kleine Blättchen vom 17. vorigen Monats das ich gestern von Ihrer Hand empfangen, theurer Freund, hat mich so gerührt … Humboldt, Wilhelm von Rom Schweighäuser, Johann Gottfried Eigenhändig FZ 22. Januar 2019
Rom, den 6. Julius, 1803.

Das kleine Blättchen vom 17. v. M. das ich gestern von Ihrer Hand empfangen, theurer Freund, hat mich so gerührt, daß ich mich augenblicklich hinsetze, es zu beantworten. Seit Monaten hatte ich mir vorgenommen, Ihnen zu schreiben, und ich weiß selbst nicht, wie sich die Ausführung so lange verschob, da ich sonst jetzt viel ordentlicher, als ehemals, im Briefschreiben bin. Aber von jetzt an sollen Sie nicht mehr klagen, u. ich bitte Sie sehr mir recht oft u. recht ausführlich Nachricht von Sich zu geben.

Dass Sie Deutscher Literatur treu bleiben, u. noch tief in Frankreich sogar Metaphysik treiben, freut mich innigst. Auch ich möchte viel drum geben, mit Ihnen darüber von Zeit zu Zeit reden zu können. Ich würde von Ihnen lernen, denn ich bin diesen Systemen sehr fremd geworden, u. kenne das Schelling ische nur vom Hörensagen. Aber eigentlich bin ich im Voraus Ihrer Meynung. Auf die Philosophie in Deutschland d. h. ihre Resultate, habe ich nie soviel gegeben; nur auf die Methode des Philosophirens. Diese ist im Grunde hinein verderbt in Frankreich, sie ist so, daß ich noch dabei bleibe, daß in unsrer Zeit, wo einmal alles Gute in einer Nation nur durch Cultur entstehen kann, eine Nation, die eine solche Methode zu philosophiren hat, u. noch dazu für die einzig wahre hält, geistig, politisch u. moralisch verloren ist. Genauer ausgedrückt könnte man sagen, daß nur die Deutschen ein eigentliches Streben nach Philosophie haben. Bei allen übrigen, vorzüglich den Engländern, ist bloßer u. schrecklicher Materialismus. Aber über die Hohlheit u. Identität des Fichtischen u. Schellinggschen Systems bin ich ganz und gar mit Ihnen einverstanden. Es ist nur eine Sache wenigstens im ersteren (denn das zweite kenne ich, wie gesagt, nicht selbst) die mich doch immer daran gefesselt hat, u. die mir nicht gleich hohl vorgekommen ist. Fichte geht doch von einem wirklichen AktDie Worte „wirklichen Akt“ wurden mit rotem Stift unterstrichen. der innern Reflexion aus, u. dieser Akt„Dieser“ ist doppelt, „Akt“ ist einfach in Rot unterstrichen. liegt eigentlich allem seinem Philosophiren zum Grunde. Dieser Akt ist bei ihm ein PraktischerBei Leitzmann als „im Praktischen“ wiedergegeben. Beide Worte sind in Rot unterstrichen worden., da er seine Theorie eigentlich ganz auf den prakti-schen Theil gründetRot unterstrichen wurden die Worte „praktischen Theil gründet“., u. es hat mir immer geschienen, als verstünde er eigentlich darunter die innige u. empfundeneRot unterstrichen wurden die Worte „innige u. empfundene“. Ueberzeugung von der durch u. mit der menschlichen Natur selbst gesetzten Unabhängigkeit des Ichs vom Nicht Ich, eine Ueberzeugung, die, da sie eigentlich kein Wissen seyn kann, sich nur als Wollen zu zeigen vermag. Dieser kräftige Grund ist, dünkt mich, allem, was Fichte schreibt, untergebaut, daher kommt aber auch freilich theils die Unbegreiflichkeit, theils die Leerheit seines Systems. Alles eigentlich Theoretische darin, Sie mögen es nun Erweiterung u. Ausführung jenes Satzes nennen, oder richtiger Zurüstung nothgedrungen (d. i. gezwungen den Knoten, den man theoretisch nicht auflösen kann, praktisch zu zerhauen) dahin zu gelangen, ist u. muß identisch seyn, mannigfaltiger Ausdruck der Wechselabhängigkeit des Ichs u. Nicht Ichs bei der zugleich scheinbar radikalen Selbstständigkeit beider. Das einzige Reale aber ist ein Wunder, was sich theoretisch nicht begreifen lässt u. noch dazu immer der Gefahr ausgesetzt ist, materiell verstanden u. gemißbraucht zu werden. Das Resultat des Ganzen muß aber immer ein reiner Idealismus seyn. Denn alles Begreifliche wird in Schein aufgelöst, u. das einzige Reale ist unbegreiflich. Unläugbar ist indeß doch im Menschen ein solcher Funken aus einer andern Welt, derselbe den die Alten nie verkannten, wenn gleich ihn Platon zum Beispiel bloß poetisch darstellt. Dieß eben scheint mir das Kriterium jeder ächten Philosophie, ob sie ihn dem Auge heller zeigt oder verdunkelt u. verhüllt. Im letzteren Fall ist rein nicht nur nichts Gutes, sondern alles mögliche Schlimme davon zu erwarten, u. Sie werden mit mir gestehen, daß von diesem Gesichtspunkt aus nur noch die Deutsche Philosophie Achtung verdient.

Ob es aber nicht möglich wäre, ein metaphysisches System zu gründen, an das sich die Fülle des Lebens u. das reale Daseyn näher u. enger anschlösse, das scheint mir die große, der ernstesten Untersuchung wicht würdige Frage. Wenn aber auch diese Frage bejaht werden könnte, so müßte einem solchen, nun alle Bedingungen erfüllenden System immer ein ab ganz abstraktes vorhergehn, oder vielmehr der philosophirende Geist muß erst wie durch ein Feuer geläutert, alle Anlage zum Materialismus muß erst rein zu Asche verbrannt seyn, ehe an ein Weiterkommen zu denken ist.

Der Gedanke an u. über eine solche Möglichkeit beschäftigt mich mehr, als irgendwo sonst, in Italien. Kein Land, als dieß, widersteht so durch seinen bloßen Anblick allem Holen, Leeren, oder Ueberspannten. Nirgends ladet die Natur so zum vollen ungeschwächten Lebensgenuß ein, u. hält ihn doch zugleich durch eine gewisse, über alle Formen selbst verbreitete Mäßigkeit wieder so in weise Schranken zurück. Wie man manchmal von einem Gemählde sagt, daß es mit Nichts gemacht scheint, u. doch eine tiefe Wirkung thut, so geht es mit z dem Anblick Italiens. Nirgends erstaunt es, oft ahndet man nicht einmal gleich, daß ein Gegenstand so schön ist, als er nachher erscheint; aber unvermerkt schmeichelt es sich ein, u. umstrickt einen mit festen Banden. Ich bin schon jetzt mächtig davon gefesselt, u. werde mich schwer entschließen, es unter langer Zeit zu verlassen. Dann die Alterthümer u. die Erinnerungen. Es giebt in Rom vorzüglich eine Stelle, die meine Lieblingsstelle ist, eine Platteform des alten Kaiserpallastes auf dem Palatin. Wenn Sie nur einmal da stehen u. auf einmal die Trümmer des Coliseums, die thermen des Caracalla, die düstre Pyramide des Cajus Cestius, den einsamen u. romantischen Aventin u. die kleineren Lateinischen Gebirge u. den hohen oft mit Schnee bedeckten Apennin mit Einem Blick übersehen sollten!

Non cuilibet licet adire Corinthum sagen Sie; recht sonderbar ist es, lieber Freund, daß wenn Sie frei gewesen wären, ich Ihnen heute, vielleicht schon f einige Wochen früher Ihre alte Lage bei uns angeboten haben würde. Ich glaube, ich schrieb Ihnen einmal, daß ich für meine Kinder einen von vielen Seiten recht braven Menschen gefunden hatte. Mir u. meiner Frau zum Umgange konnte er nicht seyn, was zum Beispiel Sie uns waren. Aber das zu finden ist eine Gabe des Schicksals, nicht etwas das sich fodern oder auch nur mit Gewißheit hoffen läßt. Seit einigen Monaten aber waren für ihn u. mich Umstände eingetreten, die eine Trennung unumgänglich nothwendig machten, u. er hat mein Haus seit 14 Tagen verlassen. Denken Sie Sich meine Verlegenheit. Sie, lieber Freund, weiß ich, sind, wenn Sie auch Lust hätten, wieder mit uns zu leben, gebunden. Sogar wenn Sie es nicht wären, wenn Sie nun die Wahl zwischen Ihrem jetzigen Engagement u. einem bei mir hätten, würde ich selbst Ihnen jenes vorzuziehen anrathen. Sie sind in einem Hause, das Ihnen wie ich sehe äußerlich mehr Vortheile anbieten kann, u. wo Sie, bei einem einzigen Zögling auch mehr Zeit für sich behalten. Sie also in Italien zu sehen, hoffe ich nur insofern, als vielleicht Mr. de Voyer einmal eine Reise macht oder sonst ein Zufall eintritt. Wüßten Sie aber vielleicht irgend einen Deutschen, der gerade in Paris wäre, u. auf den Sie Sich verlassen könnten, so thäten Sie mir einen großen Gefallen ihn mir anzuzeigen. Meine Bedingungen sind: freie Station u. 200 Piaster also circa 1000 Livres und natürlich freie Herreise. Freilich aber müßte ich einen Menschen wünschen, der sich mit Ernst der Erziehung meiner Kinder annähme, u. dem dies allein Hauptzweck wäre. Bestimmte Aussicht für die Zukunft könnte ich u. würde ich ihm nicht machen. Allein bliebe er eine Zeit von Jahren bei mir, so würde ich natürlich für ihn zu sorgen suchen, u. es in meiner jetzigen Lage auch mehr als ehemals können. Ich weiß, wie schwierig eine Bitte wie die ist, die ich Ihnen jetzt thue. Allein Sie haben einen sichern Maßstab zur Beurtheilung eines tauglichen Subjects. Je ähnlicher jemand Ihnen selbst an Kopf, Kenntnissen, u. vor allem an Charakter u. gesellschaftlicher Liebenswürdigkeit wäre, desto lieber würde er mir seyn. Schreiben Sie mir doch gleich, ob Ihnen jemand einfällt. Ich habe auch Schiller Auftrag gegeben, u. müßte also gleich wissen, ob ich vielleicht auf Ihre Empfehlung ihm schreiben sollte, wenigstens noch mit Niemand abzuschließen. Den Menschen selbst hätte ich zwar gern auch bald, allein es wäre solche Eil nicht. Ich habe ein interimistisches Arrangement getroffen, das ich allenfalls bis zu Ende des Jahrs fortsetzen könnte.

Leben Sie wohl. Meine Frau grüßt Sie freundschaftlichst u. herzlich. Mit innigster u. aufrichtigster Freundschaft Ihr Humboldt.

Ihr Gut kenne ich sehr gut, auch Me. de Voyer bei Fr. v. Stael , u. weil ich ihr bei meiner Rückkunft aus Spanien an der Garonne beim Uebersetzen begegnete. Wenn Sie Sich meiner erinnert, empfehlen Sie mich ihr.